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Mittel zum Zweck

Warum verhandelte Obama mit Taliban?

Von Rainer Rupp *

Seit Generationen ist der Satz »Wir verhandeln nicht mit Terroristen« das Mantra jedes US-Präsidenten. Warum sich Barack Obama ausgerechnet jetzt nicht daran gehalten und mit den Taliban verhandelt hat, ist ein Rätsel. Um so mehr, weil der am Samstag vergangener Woche erfolgte Austausch des seit fünf Jahren von den Afghanen gefangengehaltenen US-Sergeanten Bowe Bergdahl gegen fünf hochrangige Taliban-Anführer, die in Guantánamo-Käfigen festgesetzt waren, einen politischen Sturm in Washington entfacht hat. Obama geriet bei Pressekonferenzen in Verlegenheit, seine Propagandashows in Warschau, beim G-7-Gipfel in Brüssel und bei den Feierlichkeiten in der Normandie verfehlten in der US-Innenpolitik ihre Wirkung.

Nicht nur die Republikaner im Kongreß, sondern auch viele Demokraten sind außer sich, vor allem weil sie nicht über die Verhandlungen unterrichtet und einbezogen worden waren. Dieser Punkt könnte besonders wichtig werden, denn die sich überschlagenden Medienberichte stellen Bergdahl in kein gutes Licht. Sein Heimatstädtchen, das sofort nach der Freilassung ein großes Willkommen-zu-Hause-Fest organisiert hatte, sagte dies angesichts von Vorwürfen, Bergdahl sei zu den Taliban desertiert, wieder ab. Die Familien von sechs US-Soldaten, die bei Versuchen, Bergdahl zu befreien, umkamen, riefen mit Hilfe von Politikern und vieler Medien eine Anti-Bergdahl- und Anti-Obama-Kampagne ins Leben. Laut einigen Berichten soll Bergdahl sogar Taliban-Kämpfer ausgebildet haben, damit sie sich gegen US-Angriffstaktiken besser verteidigen konnten. Ihm wird inzwischen vorgeworfen, das Blut von US-Soldaten an seinen Händen zu haben.

Obama und seine Mannschaft rechtfertigen die seit 2010 geführten Verhandlungen mit den Taliban durch Schmacht- und Schluchzgeschichten: Bergdahls Familie habe nicht länger in Ungewißheit bleiben können, der Gesundheitszustand des Gefangenen habe sich rapide verschlechtert etc. – als wäre das Schicksal eines einzelnen Soldaten und seiner Familie der US-Regierung in zahllosen Kriegen je von Bedeutung gewesen. Aus den Personalakten des Pentagon müssen die wenig schmeichelhaften Berichte über Bergdahl der Administration bekannt gewesen sein. Warum ging sie das Risiko dennoch ein?

Die Lösung des Rätsels besteht vermutlich darin, daß nicht die Freilassung Bergdahls, sondern die der fünf Talibanführer vorrangig war, Bergdahl dagegen nur ein Mittel zum Zweck. Indirekt wurde dies am Freitag vom Wallstreet Journal bestätigt. Demnach war der ehemalige US-Unterhändler im US-NATO-Krieg gegen Jugoslawien, Richard Holbrooke, auch diesmal – bis zu seinem Tod im Dezember 2010 – mit von der Partie. Die Freilassung der Taliban-Gefangenen diente vielmehr dazu, die Taliban vor der US-Truppenreduzierung in Afghanistan auf 10000 Mann an den Verhandlungstisch zu bringen.

* Aus: junge Welt, Samstag, 7. Juni 2014


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