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Westliche Flexibilität

NATO plant auch nach 2016 eine "militärische Komponente" in Afghanistan. Russland will Nachschub nicht mehr durchlassen

Von Knut Mellenthin *

Die russische Regierung hat die 2008 erteilte Genehmigung widerrufen, Nachschub für die NATO-Truppen in Afghanistan über das Territorium und durch den Luftraum Russlands zu transportieren. Ein entsprechendes Dekret unterzeichnete Premierminister Dimitri Medwedew am Montag. Motive für diese Entscheidung wurden zunächst nicht genannt. Möglich ist, dass Moskau in erster Linie ein Zeichen der Verärgerung über die feindselige Politik des Westens setzen wollte. Nicht auszuschließen ist aber auch, dass Russland mit diesem Schritt Neuverhandlungen über die finanziellen Gegenleistungen des Westens für die Nutzung russischer Straßen, Eisenbahnlinien und Anlagen wie des Flughafens Uljanowsk-Wostotschnij erzwingen will.

Es ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass die US-Regierung den Nachschubtransport durch Russland vor sieben Jahren angestrebt hatte, um eine sichere Alternative für den sehr viel billigeren Weg durch Pakistan zu erhalten. Damals waren die zwei Transportlinien vom Hafen Karatschi zur afghanischen Grenze aufgrund von politischen Streitigkeiten mit der Regierung in Islamabad mehrmals unterbrochen worden – in einem Fall sogar für mehrere Monate.

Seit Nawaz Sharif, ein Freund der USA und Saudi-Arabiens, im Juni 2013 das Amt des Premierministers übernahm, ist es ist zu keinen neuen Störungen der Transportwege gekommen. Außerdem ist der Nachschubbedarf der NATO-Truppen in Afghanistan durch deren zahlenmäßige Verringerung um rund 90 Prozent gegenüber 2008 und die Reduzierung ihrer militärischen Aufgaben stark gesunken.

Wie viele ausländische Soldaten sich im Rahmen der neuen Mission »Resolute Support« gegenwärtig in Afghanistan befinden, scheint ein sorgfältig gehütetes Geheimnis zu sein. Überwiegend operieren Politiker und Medien mit den Zahlen 12.500 und 13.000, obwohl sich beim Addieren der Meldungen über die Kontingente einzelner Länder eine Summe von mindestens 18.000 ergibt.

Das Informationsdefizit ist offenbar beabsichtigt. Kein Zufall ist wohl auch, dass man über die konkrete Tätigkeit der in Afghanistan stationierten ausländischen Soldaten nahezu nichts mehr erfährt. Das fällt besonders im Fall der US-Truppen auf, die erklärtermaßen unter anderem auch der »Terroristenbekämpfung« nachgehen sollen.

Immerhin lassen die vermutlich glaubwürdigen Angaben über Tote und Verletzte im Rahmen der neuen Mission darauf schließen, dass es kaum noch zu »Feindberührungen« kommt. So sollen zum Beispiel seit Jahresanfang lediglich zwei US-Soldaten in Afghanistan ums Leben gekommen sein. Auf dem Höhepunkt der Militärintervention am Hindukusch starben im Jahr 2010 nach offiziellen Angaben 711 ausländische Soldaten, darunter 499 aus den USA. Im vorigen Jahr wurden immerhin noch 75 Tote, darunter 55 Amerikaner, gemeldet.

Bei so minimalen Verlusten wie gegenwärtig wird in westlichen Medien höchstens am Rande registriert, dass sich die Außenminister der NATO vor einer Woche darauf verständigt haben, in Afghanistan auch über den angeblich unwiderruflich geplanten Einsatzschluss Ende 2016 hinaus eine »militärische Komponente« in noch nicht definierter Höhe zu unterhalten. Schon im März hatte Barack Obama explizit sein im Mai 2014 gegebenes Versprechen widerrufen, dass die Zahl der US-Soldaten in Afghanistan bis Ende 2015 auf die Hälfte gesenkt werden soll. Diese »Flexibilität«, wie der US-Präsident es nannte, sei erforderlich, um ein militärisches Desaster nach dem Vorbild des Irak zu vermeiden.

Die afghanischen Streitkräfte, die jetzt die Last der Aufstandsbekämpfung fast allein zu tragen haben, hatten seit Januar rund 70 Prozent mehr Verluste als im gleichen Zeitraum des Vorjahrs. Gleichzeitig ist durch die Zunahme der Bodenkämpfe die Zahl der getöteten Zivilisten um mindestens 20 Prozent gestiegen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 21. Mai 2015


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