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"Frieden ohne Gerechtigkeit ist bedeutungslos"

Frauenrechte galten als Rechtfertigung für den Afghanistan-Krieg. Heute scheinen sie zweitrangig. Ein Gespräch mit Malalai Joya *


Malalai Joya war gewählte Abgeordnete, wurde aber 2007 aus dem afghanischen Parlament geworfen. Heute setzt sie sich besonders für die Rechte der Frauen in ihrem Heimatland ein.


Sie haben 2005 die Mitwirkung von Drogenbossen und sogenannten Warlords, also den Anführern lokaler, krimineller Milizengruppen, an der afghanischen Regierung kritisiert. Deshalb wurden mehrere Mordanschläge auf Sie verübt. Wie würden Sie die politische Situation in Afghanistan jetzt beschreiben?

Leider hat sich wenig verändert. Fundamentalistische Warlords und vom Westen eingesetzte Technokraten, die mit den Besatzern der USA und der NATO zusammenarbeiten, sind an der Macht. Und jetzt haben sie auch noch frauenverachtende Terroristen dazu geladen: die Taliban. Sie geben vor, dies zu tun, um die Einheit und damit den Frieden im Lande wiederherzustellen. Ich glaube aber leider, daß dieser sogenannte Frieden gefährlicher ist als der Krieg, der augenblicklich herrscht. Ich bin davon überzeugt, daß Frieden ohne Gerechtigkeit bedeutungslos ist.

Sie haben gesagt: »Die Geschichte bezeugt, daß Menschen sich nur selbst befreien können.« Sehen Sie Anzeichen für solch eine Befreiung?

Es gibt zwei Arten des Widerstandes gegen die Besetzung meiner Heimat. Die eine ist der sogenannte Widerstand der Taliban, die sich zwar antiimperialistisch geben, aber andere Ziele haben. Das andere ist der wirkliche Widerstand der progressiven Kräfte innerhalb der Parteien und darüber hinaus. Sie organisieren große Demonstrationen, die in den vergangenen Jahren immer weiter angewachsen sind. Zuletzt gingen Tausende auf die Straße. Allerdings berichten die Medien, die in Afghanistan von der Regierung kontrolliert werden, darüber nicht. Aber auch wenn nun mehr Menschen kommen als früher, bleiben viele solchen Veranstaltungen und Demonstrationen noch fern, weil sie immer noch Angst vor den Warlords haben oder davor, daß solche Zusammenkünfte das Ziel von Anschlägen sein könnten.

Im April wird in Afghanistan gewählt. Welche Rolle spielen progressive Parteien dabei?

Zur Wahl haben sich viele Parteien registrieren lassen. Darunter sind aber kaum progressive Kräfte, die die Gesellschaft verändern wollen. Am bekanntesten ist sicherlich die Solidaritätspartei, die auch ich unterstütze. Deren Mitglieder kritisieren das Regime und die Besatzung öffentlich, wozu in Afghanistan viel Mut nötig ist. Deshalb sind die meisten Gruppen gezwungen, im Untergrund zu arbeiten, wie die revolutionäre Frauenorganisation RAWA. Es gibt auch einige Nichtregierungsorganisationen, mit denen man zusammenarbeiten kann. Aber die meisten von ihnen sind ebenso korrupt wie das ganze System in Afghanistan.

Afghanistan wählt einen neuen Präsidenten, gleichzeitig hält die Besatzung weiter an. Wer hat Ihrer Meinung nach das Sagen im Land?

Definitiv das Weiße Haus. Die USA und die NATO haben die Anschläge auf das World Trade Center in New York im Jahre 2001 genutzt, um Afghanistan zu besetzen. Als ein Grund wurde die Stärkung der Frauenrechte angegeben, außerdem haben sie behauptet, gegen die Taliban und andere Fundamentalisten angehen zu wollen und die Drogenbosse zu bekämpfen. Jetzt verkünden sie schamlos eine Zusammenarbeit mit genau diesen Leuten. Die USA haben von Anfang an nur eigene geostrategische Interessen verfolgt, um ökonomischen Nutzen daraus zu ziehen. Sie wollten eine gut funktionierende Basis für ihre Streitkräfte in Asien. Deshalb werden sie Afghanistan auch niemals freiwillig verlassen.

Hat sich die Situation für Frauen verbessert?

Leider hat sich die Situation von Frauen in den vergangenen zwölf Jahren kaum verändert – sie ist ein Desaster. In den ländlichen Gebieten ist es besonders schlimm: häusliche Gewalt, Vergewaltigungen; junge Paare werden zu Tode gesteinigt, nur weil sie zusammen sind. Und es kommen frauenverachtende Sondergesetze hinzu: Momentan wird über ein Gesetz diskutiert, das besagt, daß Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, vor Gericht einen Zeugen brauchen, der mit dem Täter verwandt ist, damit sie Recht bekommen. Andere werden als glaubwürdige Zeugen nicht mehr anerkannt. Soviel zu den Frauenrechten im heutigen Afghanistan.

Interview: Claudia Wrobel

* Aus: junge Welt, Freitag, 21. März 2014


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