Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Sicherheit nur für Warlords und Drogenbarone

Interviews mit und Beiträge von Prof. Safi, Frau Zoya (Afghanistan), Reiner Braun (IALANA) und André Brie über die Lage in Afghanistan und die Alternativen zum Krieg

Am 7./8. Juni findet ein Internationaler Afghanistankongress in Hannover statt. Aus diesem Anlass veröffentlichten die Tageszeitungen "Neues Deutschland" und "junge Welt" eine Reihe von interessanten Lageeinschätzungen, Analysen, Hintergrundberichten und Interviews.
Im Folgenden dokumentieren wir drei Beiträge aus dem "Neuen Deutschland",


Die »alten Wölfe« sind zurück an der Macht

Prof. Safi und RAWA-Aktivistn Zoya: Die fremden Truppen stützen Terroristen und Drogenbarone *

An der Konferenz in Hannover nehmen auch Prof. Wadir Safi und Zoya teil. Der 59-jährige Politik- und Rechtswissenschaftler lebt und lehrt in Afghanistan und Australien. An der Universität Kabul leitet er die Abteilung für Internationale Beziehungen. Zoya (Jahrgang 1978) gehört der Revolutionären Vereinigung der Frauen von Afghanistan (RAWA) an, RAWA wirkt in Flüchtlingslagern in Afghanistan und Pakistan. Aus Sicherheitsgründen verwenden RAWA-Frauen Pseudonyme und lassen ihre Gesichter nicht fotografieren. Das Gespräch führte Roland Etzel.

ND: Sie waren am Donnerstag zu Gast im Bundestagsausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe. Welche Botschaft hatten Sie für die Abgeordneten?

Zoya: Entgegen den Berichten der meisten Medien, dass Afghanistan frei ist und eine demokratische Regierung hat, musste ich ihnen sagen, dass dies keineswegs so ist. Ich habe insbesondere für meine Organisation kritisiert, dass die ausländischen Truppen, die unser Land besetzen, jene Fundamentalisten und Terroristen wieder an die Macht brachten, die Afghanistan zwischen 1992 und 1996 in eine Hölle verwandelt haben. In dieser Zeit wurden mehr als 80 000 Zivilisten getötet. Ich habe die Abgeordneten auch daran erinnert, dass wir zwar in Afghanistan ein Gesetz zur nationalen Versöhnung haben. Aber wir können die Verbrechen, die uns angetan wurden, weder vergessen noch vergeben.

Wie war die Reaktion der Abgeordneten?

Zoya: Sie waren nicht froh über unsere Botschaft. FDP und SPD erklärten, sie glaubten mir nicht. Positive Resonanz gab es allein von den LINKEN.

Safi: Ich kritisiere die Deutschen für ihre blinde US-Gefolgschaft. Ich hatte am Anfang – nach 2001 – große Hoffnungen, dass US- und andere Truppen uns Fortschritt und Freiheit bringen. Aber was haben sie getan? Sie stürzten die Taliban und brachten die »alten Wölfe« zurück. Sie redeten von Frieden und Demokratie und meinten Stabilität der Region – in ihrem Interesse, nicht in unserem.

Was werfen Sie den USA konkret vor?

Zoya: Die US-Regierung macht gemeinsame Sache mit diesen Kriegsherren. Und sie unterstützt nicht die demokratischen Organisationen, die es gibt.

Safi: Ich stimme Zoya voll und ganz zu. Jeder, der denkt, dass die fremden Truppen uns Gutes bringen, liegt falsch. So wie jeder daneben liegt, der die Karsai-Regierung für demokratisch hält. Auch das Parlament besteht in seiner Mehrheit aus Drogenbaronen und Kriegsherren, die weder vom Volk gewollt noch gewählt wurden. Es gab vor der Wahl 2005 etwa 250 Anträge von Bürgern, bestimmte Kandidaten als Kriegsverbrecher auszuschließen. (Präsident) Karsai hat das einfach abgeschmettert.

Sie sind also für einen Abzug der Truppen. Unter den Linken wird derzeit diskutiert, ob dieser Abzug sofort oder nur in Etappen erfolgen kann.

Safi: Fest steht: Die US-Amerikaner sind nicht unsere Brüder und auch nicht unsere Freunde. Sie sind nicht wegen uns, sondern wegen der Energieressourcen der Region da. Fest steht auch: Sie können nicht über Nacht gehen. Aber es ist nicht an uns, einen Abzugsplan festzulegen. S i e müssen wissen, wie sie herauskommen. S i e haben das Problem verursacht, und s i e müssen es lösen. Was die Deutschen betrifft, so haben sie einen besseren Ruf. Wenn sie aber in den Süden gehen um zu kämpfen, wird sich das ändern.

Zoya: Ich bin für den Abzug aller fremden Truppen, schon seit der sowjetischen Besatzung. Aber wenn sie uns wirklich helfen wollen, dann sollten sie die Kriegsverbrecher vor den Internationalen Gerichtshof bringen. Was wir brauchen, ist zivile internationale Hilfe, denn 99 Prozent unserer Bevölkerung sind arm. Aber das Geld an diese korrupte Regierung zu geben, wäre ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Wie überleben Sie in Afghanistan mit diesen Ansichten?

Zoya: Wir treffen Sicherheitsvorkehrungen, benutzen Decknamen, wechseln häufig die Wohnsitze, auch in Pakistan.

Safi: Seit meiner Teilnahme an internationalen Konferenzen kann ich diese Ansichten vertreten – als Einzelperson. Aber zu Hause rede wie gegen eine Wand.

Sagen Sie es bitte mit einem Wort: Was ist Afghanistans Hauptproblem?

Safi: Unsicherheit und Ungerechtigkeit.

Zoya: Fundamentalismus.

* Aus: Neues Deutschland, 7. Juni 2008


Herat – eine afghanische Hoffnung?

In der Stadt im Nordwesten des kriegsgeplagten Landes ist die Lage besser als andernorts. Insgesamt aber wächst die Frustration in der Bevölkerung. Die Taliban gewinnen an Boden.

Von André Brie, Herat *


Unter den Kriegen der jüngsten drei Jahrzehnte hat Herat weniger als andere afghanische Städte gelitten. Der populäre einstige Gouverneur und Warlord Ismail Khan sitzt inzwischen in der Regierung Karsai – kein Einzelfall.

Auf dem Flug von Kabul nach Herat beeindrucken zunächst die gewaltigen, nahen Gletscher des Hindukusch. Dann geht es mehr als eine Stunde über das Braun weniger hoher, aber ebenso unwegsamer Berge. Nur die wenigen Flusstäler ziehen sich wie dünne grüne Adern durch das Gebirge. Wo immer sie den Felsen und dem Lehm mehr als ihr Bett abgerungen haben, sind die sorgfältigen kleinen Vierecke der Reis- und Weizenfelder aus der Höhe erkennbar. Die einsamen Dörfer liegen im Geröll, um keinen Fleck des kostbaren Ackerlandes zu verschwenden. Oase in der trockenen Steppe

Zum ersten Mal nach so vielen Flügen über Afghanistan fällt mir auf, wie bunt das Braun ist. Ich finde rotes, graues, sandiges, schwarzes, gelbes, orangefarbenes, smaragdgrünes, weißes, goldenes, antrazithenes, sogar blaues Braun. Mancherorts fließen die Farben fleckig ineinander, andere Male streben sie in langen Streifen im Gestein der Hänge auseinander. Herat sieht im Landeanflug wie ein verführerischer Garten aus, eine Oase in der trockenen Steppe, ganz anders als die Häuser- und Lehmhüttenwüste Kabuls. Auf einem der nördlichen Berge sieht man die Zitadelle, die Alexander der Große auf seinem Eroberungszug nach Indien erbauen ließ, im alten Zentrum der Stadt die vier hohen Minarette der Musalla-Moschee aus dem 14. Jahrhundert. Dass die Stadt einst als »Florenz Afghanistans« galt, hat sie jedoch ihrer strategischen Lage an der historischen Seidenstraße und vor allem ihrer herausragenden Rolle in der persischen, afghanischen und muslimischen Kultur zu verdanken. Einer der berühmtesten Dichter Persiens, Dschami, und der große Miniaturmaler Ustad Kamal-du Din Behzad lebten hier.

Unter den Kriegen der jüngsten drei Jahrzehnte hat Herat weniger als andere afghanische Städte gelitten. Doch schon im März 1979, ein Dreivierteljahr vor dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan, bombardierte die Sowjetarmee Herat und tötete Tausende Soldaten sowie Einwohnerinnen und Einwohner, nachdem während einer Meuterei der afghanischen Armee unter Ismail Khan mehr als 300 sowjetische Militärberater umgebracht worden waren.

In Afghanistan, ich erfahre es immer wieder, gibt es keine einfachen Geschichten. Die Taliban steckten Ismail Khan drei Jahre ins Gefängnis. Nach der US-amerikanischen Militärintervention 2001 wurde er Gouverneur der Provinz. Seine ungewöhnliche und bis heute spürbare Popularität speiste sich aus seinem Widerstand gegen die sowjetische Besetzung und wohl noch mehr aus den reichen Zolleinnahmen aus dem Handel mit Iran, die er einbehielt und in Herat investierte, bis ihn Präsident Karsai absetzte und zum Minister für Wasser und Energie machte. Malalai Joya, die mutigste und von einer Männermehrheit verfassungswidrig aus dem Parlament ausgeschlossene Abgeordnete der Wolesi Jirga, nannte ihn einen »Killer-Warlord und Lakaien des iranischen Regimes«.

Warlords an den Schalthebeln

In Karsais Regierung ist Ismail Khan kein Einzelfall. Warlords, Kriegsverbrecher und Drogenhändler haben dutzendfach Positionen an den Schalthebeln inne. Die meisten von ihnen sind ehemalige Mudschahedin-Führer, die von den US-Geheimdiensten für den Kampf gegen die Sowjetarmee ausgebildet, finanziert und aufgerüstet worden waren. Nach dem 11. September 2001 wurden sie erneut zu Verbündeten der USA beim Sturz der Taliban und sicherten ihren Gefolgsleuten beim Einmarsch in Kabul einflussreiche Positionen in den Ministerien und »nebenbei« jene Villen, die sie in ihrem verheerenden Krieg gegeneinander in den 90er Jahren nicht zerstört hatten. Karsai holte sie auf Washingtoner Wunsch in die Regierung, und die Führung der Armee (der als ungewöhnlich korrupt und unfähig geltende Verteidigungsminister Wardak besitzt die US-amerikanische Staatsbürgerschaft) wollte damit zugleich ihre Todfeinde einbinden. Das Ergebnis ist fatal.

Der damals weithin bekannte argentinische Lehrer, Publizist und Politiker Sarmiento hat 1845 in seinem Buch »Barbarei und Zivilisation« über die blutigen Wirren der argentinischen Unabhängigkeitskämpfe eine gültige Einschätzung dieser Politik formuliert: »Zwar ist es die Regierung der Stadt, die den Titel des Landkommandeurs verleiht, doch da die Stadt auf dem Lande eine schwache Stellung hat, ohne Einfluss und ohne Anhänger, ernennt sie für dieses Amt ausgerechnet diejenigen Männer, die sie am meisten fürchtet, um sich ihres Gehorsams zu versichern – ein wohlbekanntes Verfahren aller schwachen Regierungen, die auf diese Weise das Übel vorübergehend bannen, mit der Folge, dass es später ins Kolossale vergrößert auftritt.«

Karsais persönliche Integrität wird von wenigen in Frage gestellt, sein Ruf jedoch ist ramponiert, zumal die meisten Afghaninnen und Afghanen wirtschaftlich und sozial keinen Fortschritt erleben. Die gegenwärtige Nahrungsmittelkrise trifft sie mit elementarer Wucht. Der Preis für 50 Kilogramm Weizen ist seit Jahresbeginn von 700 Afghani (14 US-Dollar) auf 2500 Afghani gestiegen und macht allein ein ganzes durchschnittliches Monatsgehalt aus, das viele Menschen jedoch nicht haben. Das US-amerikanische Center for Strategic and International Studies schätzte mit seltenem Realismus ein: »Die Afghanen sind frustriert über ihre wirtschaftliche Lage. Sie leiden unter unsteter Beschäftigung und wirtschaftlicher Unsicherheit und wenden sich unerlaubter und illegaler Aktivität zu wie Korruption und Opiumhandel.« Das und die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind die Arbeitsagenturen Afghanistans.

In den internationalen Medien werden die Probleme mit abstrakten Zahlen diskutiert und nur die großen Anschläge und Kämpfe gemeldet. Die Realität ist bei weitem schlimmer. In den afghanischen Zeitungen wird täglich über die Zerstörung von Schulen (vor allem jenen für Mädchen), Morde an Lehrerinnen und Lehrern berichtet, die ein bevorzugtes Ziel der Taliban sind, über die Sprengung von Brücken, Angriffe auf Lastkraftwagen und Baustellen. Auch die einheimischen Medien schreiben jedoch nichts über die grauenhafte Gewalt, der jeden Tag Mädchen und Frauen Afghanistans ausgesetzt sind. Verbrennungen, Selbstmorde verzweifelter Frauen, kollektive Vergewaltigungen, Morde für die angebliche Ehre der Familie oder des Stammes sind an der Tagesordnung und werden nicht verfolgt und nicht gesühnt, gar nicht zu reden von der tausendfachen häuslichen Gewalt. Weite Teile Kabuls, kilometerlang, sind eine Aneinanderreihung von schwer bewaffneten Festungen, hinter denen sich Botschaften, afghanische und internationale Behörden, Unternehmen, Banken, nichtstaatliche Organisationen, Militär und Polizei verschanzt haben. Den Einwohnerinnen und Einwohnern der Hauptstadt wird täglich die Okkupation und Feindschaft ihnen gegenüber vor Augen geführt. Die Mehrheit ist inzwischen ablehnend geworden gegen alle Ausländer, die als Gefolgsleute der USA angesehen werden – alles andere als zufällig angesichts der Unterwerfung der europäischen Politik unter die imperiale Strategie der Bush-Administration.

Von der Seidenstraße zum Drogenhändlerweg

Herat sieht anders aus. Die Stadt wirkt vergleichsweise wohlhabend und gilt als sicher. Privates Gewerbe und der Handel mit dem nahen Iran prägen ihre Wirtschaft. Doch der sehr trockene und extrem kalte Winter ist den Pinien, die an jeder Straße stehen, anzusehen: Sie sind braun gefroren. Wenig Wasser ist in der Schneeschmelze des Frühjahrs in die Flüsse gelangt. Dem Land und Herat steht eine Dürre bevor, die die Nahrungsmittel noch knapper und noch teurer machen wird. Der Schlafmohnanbau in der Provinz ist zurückgegangen. Doch die Stadt liegt nicht mehr an der Seidenstraße, sondern an einem schmutzigen Drogenhandelsweg. Auch dort, wo es günstiger aussieht oder gar vorangeht, offenbart sich das Scheitern der internationalen und afghanischen Regierungspolitik. Fast jeder in Herat diskutiert derzeit das Gerücht, Ismail Khan wolle den aktuellen Gouverneur Anwari stürzen und in die lukrative und von Kabul kaum kontrollierte Provinz zurückkehren, zumindest einen seiner Vertrauten einsetzen.

Im Krankenhaus ist von den USA, der EU und Frankreich ein beeindruckend modernes Zentrum für Brandopfer errichtet worden. Gut ausgebildete, wunderbar engagierte Ärzte aus Europa und Afghanistan sind hier tätig. So etwas hat es in Afghanistan noch nie gegeben. Dass es eine solche Einrichtung geben muss, und insbesondere für Mädchen und Frauen, die von ihren Männern mit kochendem Wasser und brennendem Öl gefoltert werden, ist auch in Herat gebliebene Realität.

* Aus: Neues Deutschland, 7. Juni 2008


Militär löst kein Problem am Hindukusch

Reiner Braun über die Konferenz der Friedensbewegung in Hannover *

Reiner Braun, einer der Organisatoren des Afghanistan-Kongresses, der an diesem Wochenende in Hannover tagt, ist Geschäftsführer der Internationalen Juristen gegen Atomwaffen und für zivile Konfliktlösungen (IALANA) und Sprecher der Koordination für Frieden. Für ND befragte ihn Detlef D. Pries.

ND: Der Afghanistan-Kongress in Hannover steht unter der Losung »Dem Frieden eine Chance – Truppen raus aus Afghanistan«. Nach dem Abzug der sowjetischen Armee war Afghanistan schon einmal ohne ausländische Truppen – mit verheerenden Folgen. Kann man diese Forderung also so unbedenklich stellen?

Braun: Unbedenklich kann man sie nicht stellen, weil die gesamte Situation in Afghanistan mehr als bedenklich ist. Die Frage ist, wie man dieser Situation entkommt. Da haben wir zwei Grundprinzipien. Das erste knüpft an das Römische Recht an: Niemand ist verpflichtet, mehr zu leisten, als er kann. Wenn wir das anerkennen, ist der Abzug aller Besatzungstruppen eine Voraussetzung, um den Friedensprozess zu fördern. Diese Besatzungstruppen sind im Lande mehr und mehr verhasst, sie sind der Grund für die weitere Kriegsführung, für Terroranschläge und Gegenterroranschläge. Sie verhindern die Umwidmung finanzieller Ressourcen für zivile Zwecke, sie behindern die Arbeit humanitärer Organisationen und sie dienen einem ganz anderen Zweck, als sie vorgeben: Sie dienen globalstrategischen imperialen Interessen. Das ist alles andere als friedensfördernd.

In weiten Teilen der Öffentlichkeit gelten die Truppen im Gegenteil als stabilierende Kraft.

Stabilisierend wirken sie durchaus: Sie stabilisieren die Macht von Kriegsfürsten, von Kriminellen, die davon profitieren, dass die Truppen da sind, die aber gleichzeitig eine emanzipatorische und friedliche Entwicklung in Afghanistan behindern. Eben deshalb kann und muss man die Forderung nach dem Truppenabzug stellen – nicht unbedenklich, sondern als eine Forderung, die sich der Auseinandersetzung stellen muss.

Hat denn die Friedensbewegung so etwas, was die Militärs »Exit-Strategie« nennen?

Es gibt in der Friedensbewegung sehr viele Überlegungen zur »Exit-Strategie«. Wir werden sie auf dem Kongress vorstellen.** Zivile Konfliktprävention, zivile Konfliktvermeidung oder zivile Konfliktlösungsstrategien – alles dies wird bei uns durchaus kontrovers diskutiert, und diese Kontroverse wird den Kongress prägen. Die einigende Grundlage ist jedoch die Aussage, dass Militär in Afghanistan kein Problem löst, sondern – wie in den letzten 30 Jahren immer wieder bewiesen – die Probleme nur zuspitzt und verschärft.

Welche Alternativen bieten Sie den Afghanen?

Die Alternativen laufen darauf hinaus, dass erst einmal Luft zum Atmen geschaffen werden muss. Dafür ist der Abzug der Truppen erforderlich. Alternativen lassen sich gewiss nicht sofort realisieren, sie brauchen einen längeren Prozess. Voraussetzung ist die deutliche finanzielle Umschichtung vom Militärischen zum Zivilen. Dazu gehören die gezielte Förderung von Nichtregierungsorganisationen und zivilen Strukturen, eine dezentrale Entwicklungshilfe, die nicht nur Kabul erfasst und den Kabuler Moloch mit seinen Herrschaftsstrukturen fördert. Dazu gehören eine Konzentration auf den ländlichen Bereich, die Förderung der Landwirtschaft, und – ein ganz entscheidender Punkt – die Beendigung der neoliberalen Ausplünderung des Landes.

Dieses Land wird überschwemmt durch Billigprodukte aus den USA, Europa und China, wodurch die afghanische Infrastruktur und die soziale Versorgung des Landes vollständig zerstört wurden. Auch dieses Land bedarf eines gewissen Schutzes, um sich entwickeln zu können.

Haben Sie für dieses Konzept auch Verbündete in Afghanistan selbst?

Dieses Konzept hat Verbündete bis ins afghanische Parlament hinein, in den verschiedenen Institutionen im Lande, in Frauenorganisationen, in landwirtschaftlichen Genossenschaften. Wir stehen nicht alleine, sondern fühlen uns mit vielen Afghanen, übrigens auch mit den Afghanen, die in der Bundesrepublik Deutschland leben, sehr verbunden. Deswegen haben wir sechs afghanische Gäste auf unserem Kongress, davon kommen zwei direkt aus Afghanistan.

Sicher, wir haben nicht den Stein der Weisen gefunden, aber wir wollen Impulse geben und sie auf diesem Kongress vorstellen und diskutieren.

Mit wem außer den afghanischen Gästen wollen Sie debattieren?

Europa rutscht immer tiefer in diesen Sumpf des Krieges in Afghanistan hinein. Einerseits ist Europa zweifellos gefordert, um eine Lösung für das Land zu suchen, andererseits ist es aber auch Teil des Problems. Das zugespitzte Beispiel ist das Engagement Frankreichs: Nicolas Sarkozy hat Wahlkampf gemacht mit der Aussage, er würde die Truppen aus Afghanistan zurückführen. Nach seiner Wahl aber hat er das französische Kontingent um 1000 Mann verstärkt, was zu Widerspruch selbst in seiner eigenen Partei geführt hat.

Wir haben deswegen Vertreter aus den Staaten zu Gast, die mit Truppen in Afghanistan präsent sind, darunter eben Frankreich, aber auch Belgien, Schweden, Dänemark. Und wir erhoffen uns von diesem Kongress eine bessere internationale Vernetzung der Afghanistan-Friedensaktivitäten.

Die Bundesrepublik wird von ihren »Verbündeten« immer wieder gedrängt, den Bundeswehreinsatz über den bisherigen Umfang hinaus auszudehnen. Gerade hat der Bundestag mit breiter Mehrheit die Forderung der LINKEN abgelehnt, deutsche Fernmeldesoldaten aus dem südafghanischen Kandahar abzuziehen. Regelrechte Kampfeinsätze scheinen nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Glauben Sie, darauf noch irgendwelchen Einfluss nehmen zu können?

Wir hoffen vor allem, dass wir das Thema »deutsche Truppen in Afghanistan« stärker in die Öffentlichkeit bringen können. Nicht umsonst findet unser Kongress in Hannover statt. Hier ist die 1. Panzerdivision stationiert, fast so etwas wie die Speerspitze der deutschen Truppen in Afghanistan. Und wir hoffen, dass wir die Ablehnungsfront bei den im Herbst bevorstehenden Abstimmungen im Bundestag deutlich ausweiten können. Das Bauchgrummeln, das selbst viele Parlamentarier bis hinein ins konservative Lager befallen hat, müsste sich auch in realen Nein-Stimmen niederschlagen.

Dazu ist sicherlich mehr Druck aus der Öffentlichkeit erforderlich. Dem soll unser Kongress dienen, ebenso wie die geplanten Herbst-Aktionen einschließlich einer großen Demonstration in Berlin.

* Aus: Neues Deutschland, 7. Juni 2008

** Vgl. hierzu den Beitrag von Christine Buchholz und Peter Strutynski: "Abzug oder Exit?.


Berlin versinkt immer tiefer im Kriegssumpf

Obwohl die NATO ihre Truppen weiter aufstockt, droht der Allianz ein Desaster

Von Olaf Standke *

Die etwa 50 000 Soldaten der NATO-Truppe ISAF in Afghanistan haben einen neuen Befehlshaber – und die alten Probleme, die allein militärisch nicht zu lösen sind.

US-General David McKiernan, der neue ISAF-Befehlshaber, gab sich in dieser Woche bei der Übergabezeremonie in Kabul überaus entschlossen und kündigte ein hartes Vorgehen gegen die Gegner des Wiederaufbaus in Afghanistan an. »Wir werden uns die Aufständischen, die ausländischen Kämpfer, Kriminelle und Andere vorknöpfen, die unserer Mission im Wege stehen«, tönte der einstige Kommandeur der Invasionstruppen in Irak und Oberbefehlshaber der US-amerikanischen Armee in Europa, der nun den NATO-Karren am Hindukusch aus dem Dreck ziehen soll.

Denn im vergangenen Jahr wurden in Afghanistan über 8000 Menschen im Zusammenhang mit den Kämpfen gegen die Taliban und Al Qaida getötet – so viele wie nie zuvor seit dem Einmarsch im Jahre 2001 und obwohl die Gesamtzahl der NATO-Soldaten innerhalb eines Jahres von 36 000 auf etwa 50 000 erhöht wurde. Zugleich wuchs auch die afghanische Armee erheblich, seit Anfang 2007 hat sich die Zahl der Soldaten auf 57 000 mehr als verdoppelt. Doch von einer Befriedung ist das Land nach sieben Jahren Krieg weiter entfernt denn je. Ohne einen grundlegenden Strategiewechsel drohe der Allianz in Afghanistan eine baldige Niederlage, meint auch Samir Kabulow. Während Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung glaubt, dass man 10 bis 15 Jahre Besatzung brauche, bis die »selbsttragende Sicherheit gewährleistet ist«, veranschlagt der russische Botschafter in Kabul nur noch drei bis vier Jahre bis zum endgültigen Desaster, weil die NATO die Fehler der sowjetischen Armee, die 1989 abziehen musste, wiederhole. Wobei seiner Einschätzung nach das Land unter der damaligen Besatzung in einem besseren Zustand gewesen sei, als es heute ist. Zwar habe es seit dem Sturz der Taliban Fortschritte gegeben, die Erwartungen der Menschen seien aber insgesamt nicht erfüllt worden. Auch der frühere deutsche Stabschef der ISAF-Truppe, General Bruno Kasdorf, sieht »ganz konkret« die Gefahr, dass die afghanische Bevölkerung zu den Taliban überlaufen könnte.

Doch obwohl auf dem NATO-Gipfel im April und andernorts zuletzt gern erklärt wurde, dass auch die zivile Seite des westlichen Afghanistan-Einsatzes gestärkt werden müsse, werden die Hauptanstrengungen in der Realität nach wie vor auf den Ausbau der Besatzungstruppen gerichtet. General McKiernan etwa hätte am Hindukusch lieber heute als morgen 400 000 Mann unter Waffen.

Die Bundeswehr steht mit knapp 3500 Soldaten in Afghanistan. In Kürze will Verteidigungsminister Jung verkünden, wie viele künftig hinzukommen sollen. In Berlin geht man davon aus, dass das bisherige Mandat aufgestockt wird. Gerade hat die Bundesregierung über 200 Panzergrenadiere für eine Schnelle Eingreiftruppe abkommandiert, die mit einem eindeutigen Kampfauftrag vor allem im Landesnorden bei der Niederhaltung von Rebellen eingesetzt werden soll. Ihre norwegischen Vorgänger bildeten unlängst die Speerspitze einer Militäroffensive im Nordwesten – unter dem Kommando des deutschen Befehlshabers der Nordregion.

Stabilisierungseinsatz nennt so etwas die Bundesregierung beschönigend. In Wirklichkeit droht jetzt eine noch stärkere Verquickung mit der »Operation Enduring Freedom«, dem vom scheidenden USA-Präsidenten George W. Bush ausgerufenen, völkerrechtlich nicht legitimierten Anti-Terrorkrieg.

Lexikon

Die schnelle Eingreiftruppe Quick Reaction Force (QRF) in Nordafghanistan soll die dort stationierten Soldaten der Internationalen Schutztruppe ISAF sichern. Sie ist die taktische Reserve des Regionalkommandeurs und Teil der NATO-Mission. QRF-Soldaten sollen eingreifen, wenn die sogenannten Wiederaufbauteams in den Nordprovinzen militärisch unter Druck geraten. Der Kampfverband kann auch gegen Terroristen vorgehen und mögliche Evakuierungen absichern. In der Vergangenheit stellte die Eingreiftruppe zudem den Begleitschutz von Konvois und schützte die Übergabe einer unter ISAF-Regie gebauten Brücke.

Seit zwei Jahren stellt Norwegen eine 240 Soldaten starke Einheit im deutschen ISAF-Verantwortungsbereich. Am 1. Juli sollen die Skandinavier von Bundeswehrsoldaten abgelöst werden. Schnelle NATO-Eingreiftruppen verfügen in der Regel über Fahrzeuge mit leichter und schwerer Bewaffnung wie Maschinengewehre, Mörsergranaten und Raketenwerfer. Zudem haben sie Sanitäts- und Logistikeinheiten. Es ist das erste Mal, dass die Bundeswehr einen Kampfverband nach Afghanistan schickt. Die Truppe hat rund 200 Soldaten. Insgesamt sind rund 3500 Bundeswehrsoldaten in Afghanistan. (dpa/ND)



* Aus: Neues Deutschland, 7. Juni 2008


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