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Die US-Besatzer schweigen

Afghanistan: Präsident Karsai nach dem Massaker von Asisabad unter Druck

Von Raoul Wilsterer *

Hamid Karsai, der 2001 vom Westen eingesetzte Präsident Afghanistans, gerät zunehmend unter Druck. Nach dem durch Besatzer der »Schutztruppe« ISAF angerichteten Massaker mit nahezu hundert Ziviltoten im westafghanischen Dorf Asisabad in der Provinz Herat am Donnerstag hatte er bereits am Wochenende versucht, die landesweite Wut zu besänftigen, indem er zwei Armeegeneräle entließ. Am Montag abend (25. August) wurde aus Kabul gemeldet, Karsai habe eine »Überprüfung der ausländischen Truppenpräsenz angeordnet«. Zudem sollen das Außen- und das Verteidigungsministerium auf ein Ende von »Luftangriffen auf zivile Ziele« hinwirken.

Das US-Hauptquartier in Kabul reagierte auf die - angesichts seiner Abgängigkeit von der NATO und der ansonsten praktizierten Unterwürfigkeit - ungewöhnlich schroff formulierte Erklärung Karsais bis zum Dienstag abend mit keinem Wort. Die NATO mauerte, man sei davon »noch nicht offiziell« informiert worden, sagte ein Sprecher. Er deutete allerdings an, daß auf die Meinung der Marionettenregierung wenig Wert gelegt wird. Schließlich beruhe die »NATO-Mission« auf einem UN-Mandat und der »Einladung Afghanistans«.

Der Propagandaapparat des nordatlanischen Militärpakts leugnete bis Dienstag (26. August) weiterhin das Ausmaß des Kriegsverbrechens von Asisabad. Offizielle Untersuchungsergebnisse stehen weiter aus, auch was den Verlauf der Angriffe betrifft. Doch offenbar hatten, so das Internetportal German-Foreign-Policy.com (GFP), »afghanische Hilfstruppen der NATO-Besatzer Unterstützung durch Kampfflugzeuge angefordert; bei darauffolgenden Bombenattacken der US-Airforce kamen zwischen 75 und 100 Zivilpersonen zu Tode, darunter rund 50 Kinder«. Unbekannt sei, so GFP weiter, ob Spionageergebnisse der deutschen RECCE-Tornados zur Zielerfassung beigetragen hätten - wie überhaupt bis heute unbekannt sei, »welchen Anteil die Bundeswehr an der Tötung von Zivilpersonen« hat. Das betreffe sowohl die in Afghanistan eingesetzten Tornados, deren Aufklärungsergebnisse mutmaßlich auch bei der Bombardierung von zivilen Zielen zugrundegelegt würden, aber auch die weitgehend geheime Kriegsführung der Sondereinheit Kommando Spezialkräfte (KSK).

Tatsächlich hatte die Bundeswehr selbst laut Agentur dpa (20.8.) erstmals vor einer Woche gemeldet, daß ihre Soldaten einen Mann erschossen hätten. Bei einem Schußwechsel nahe des deutschen Feldlagers im nordafghanischen Faisabad sei ein »Angreifer« verwundet worden, der später seinen Verletzungen erlag -- so die offizielle Version. Dagegen sagte der Polizeichef der Provinz gegenüber dpa, »es sei ein unbewaffneter Schäfer« getötet worden. Der Mann habe der Patrouille mit Handzeichen signalisiert, anzuhalten und nicht näher an seine Herde heranzufahren.

Insgesamt, so die österreische Tageszeitung Die Presse am Sonntag mit Bezug auf UN-Angaben, wurden von Januar bis Juni mehr als 250 Unbeteiligte bei Angriffen der ausländischen Truppen und ihrer afghanischen Helfer getötet. Verschiedenen Quellen zufolge wächst die Empörung im Land täglich; Karsai sieht sich offenen Protesten - wie am Sonntag (24. August) in Asis­abad - gegenüber, und der bewaffnete Widerstand erfährt starken Zulauf vor allem aus der Jugend.

Angesichts dieser Lage verlangte am Dienstag der australische Generalmajor Jim Molan einen gigantischen Ausbau der Besatzungsmacht. Die ISAF-Führung solle die »im Irak gemachten Fehler« nicht wiederholen und den Krieg mit »zuwenig Truppen« führen. Er sehe Parallelen zwischen der sich verschlechternden Lage in Afghanistan und der Situation im Irak 2004, sagte Molan, der damals im Zweistromland 300000 Soldaten bei »Kampfeinsätzen« befehligte. Molan, inzwischen pensioniert, meinte, daß die Truppenpräsenz am Hindukusch auf »rund 500000 Mann« erhöht werden müßte. Derzeit befinden sich dort 65000 Besatzer, unterstützt von 62000 afghanischen Soldaten.

* Aus: junge Welt, 27. August 2008


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