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"Ausreichend flexibel"

Afghanistan: Tod von 18 Dorfbewohnern bei NATO-Luftangriff sollte anscheinend vertuscht werden. Konsequenzen bleiben unklar

Von Knut Mellenthin *

Die NATO hat zugegeben, daß beim Luftangriff auf ein Haus in Afghanistan 18 Menschen ums Leben kamen. Sprecher der Kriegsallianz hatten den Vorfall, der sich am frühen Mittwoch vor einer Woche ereignete, zunächst geleugnet. Fotos eines AP-Journalisten zeigten jedoch die Leichen von fünf Frauen, sieben Kindern und sechs Männern auf einem Kleinlaster. Die Dorfbewohner waren damit in die Provinzhauptstadt gefahren, um mit mehreren tausend Menschen an einer Protestdemonstration teilzunehmen. In dem Haus hatte zur Zeit des Angriffs gerade eine Hochzeitsfeier stattgefunden.

Kritik von Karsai

Erst am Freitag räumte der Oberkommandierende der NATO-Truppen in Afghanistan, US-General John R. Allen, ein, daß tatsächlich 18 Zivilisten getötet worden waren. Er sprach sein Bedauern aus und traf sich mit einigen Familienangehörigen der Opfer. Am Sonnabend besuchte er zusammen mit US-Botschafter Ryan C. Crocker den afghanischen Präsidenten Hamid Karsai, der den Angriff sofort scharf kritisiert hatte, um über den Vorfall und die Schlußfolgerungen zu diskutieren. Anschließend ließ Karsai erklären, Allen habe zugesagt, daß es künftig keine Luftangriffe auf Wohnhäuser mehr geben werde. NATO-Sprecher wollten das jedoch am Sonntag nicht bestätigen. Sie sprachen lediglich von einer noch im Gang befindlichen »Überprüfung« der bisherigen Praxis. Luftangriffe dieser Art werde es künftig nur noch geben, »wenn keine anderen Mittel zur Verfügung stehen«.

Nach offizieller Darstellung war es zu dem Zwischenfall während einer gemeinsamen nächtlichen Razzia von US-amerikanischen und afghanischen Spezialeinheiten gekommen, die einen Taliban-Kommandeur festnehmen sollten. Nachdem sie angeblich aus der Richtung eines Wohnhauses beschossen worden waren, wurde »Luftunterstützung« angefordert, um das Haus zu zerstören. Karsai behauptet, daß diese Entscheidung »einseitig« von den Amerikanern getroffen worden sei, ohne die afghanische Seite zu konsultieren. Das stelle einen schwerwiegenden Verstoß gegen eine Vereinbarung dar, die am 8. April in Kabul unterzeichnet worden war. Dieser zufolge sollen solche Razzien nur noch »unter afghanischer Führung« stattfinden.

Ob das allerdings wirklich auch die Entscheidung über Luftangriffe einschließt, ist unklar, da die Vereinbarung bisher nicht veröffentlicht wurde. Die US-Regierung hatte damals, offenbar mit Blick auf die Stimmung im eigenen Land, durch gezielte Informationen an die Mainstream-Medien das Bild vermittelt, daß das Abkommen den eigenen Truppen »ausreichend Flexibilität« lasse und daß sich im Grunde an der bisherigen Praxis nichts Wesentliches ändern werde.

Verschleierungstaktik

Ungeklärt ist nach wie vor, warum die NATO drei Tage brauchte, um den Tod der 18 Dorfbewohner zuzugeben. Da der Luftangriff im Zusammenhang mit einer Bodenoperation erfolgte, ist davon auszugehen, daß die Soldaten anschließend das zerstörte Haus gesichert und sich einen Überblick über die Folgen des Angriffs verschafft haben müssen. Das Ergebnis werden sie in schriftlicher Form ihrer Leitstelle gemeldet haben. Möglicherweise aber nicht wahrheitsgemäß? NATO-Sprecher Martyn Crighton hatte der Presse am vergangenen Donnerstag mitgeteilt, daß ein Untersuchungsteam an den Ort des Geschehens entsandt worden sei. Der Grund dafür sei »die Diskrepanz zwischen dem, was aus unserem Operationsbericht hervorgeht, und dem, was afghanische Funktionäre vor Ort über das Geschehen aussagen«. Vielleicht wäre die »Diskrepanz« ohne die Bilder des AP-Fotografen zu den Akten gelegt worden?

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 13. Juni 2012


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