Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Afghanistan zerfällt

EU-Geheimdienst INTCEN: Krieg am Hindukusch für Besatzer verloren. Lokale Warlords, Taliban und organisiertes Verbrechen übernehmen Kontrolle

Von André Scheer *

Menschenrechte, Gleichberechtigung der Frauen, Bekämpfung des religiösen Extremismus – als eine ganz große Koalition am 16. November 2001 im Bundestag die Intervention in Afghanistan beschloß, war dies von hehren Worten und großen Versprechungen begleitet. SPD, Grüne, CDU/CSU und FDP stimmten fast geschlossen für den Militäreinsatz am Hindukusch. Nur 35 Parlamentarier votierten dagegen, die meisten von ihnen aus den Reihen der damaligen PDS, deren Fraktion bis auf eine Enthaltung die deutsche Kriegsbeteiligung geschlossen ablehnte.

Knapp zwölf Jahre später heißt es nur noch: Rette sich, wer kann. Der Krieg ist verloren. Während die Bundeskanzlerin Durchhalteparolen ausgibt, heißt es in der vertraulichen »Unterrichtung des Parlaments« des Bundesverteidigungsministeriums vom vergangenen Mittwoch, die Bedrohungslage sei »insgesamt erheblich«, das heißt: »Mit Angriffen wird in naher Zukunft gerechnet.«

Auch in den Geheimdiensten der EU macht man sich über die Zustände in Afghanistan keine Illusionen mehr: Das Land wird in Machtbereiche lokaler Warlords, der Taliban und der Mafia zerfallen. Die Rechte der Menschen, für deren »Befreiung« bislang 54 deutsche Soldaten und Tausende der zu »Befreienden« getötet wurden, spielen auch verbal keine Rolle mehr.

Am 21. Juni – drei Tage, bevor die Bundesregierung am vergangenen Montag ihren aktuellen Zwischenbericht über die »Fortschritte« in Afghanistan vorlegte – referierte in Brüssel ein Vertreter des EU-Geheimdienstes ­INTCEN über das »wahrscheinlichste Szenario in der post-2014-Zeit«, also nach dem Abzug von Teilen der internationalen Besatzungstruppen. Vor den Mitgliedern der Arbeitsgruppe »Terrorismus« des »Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees« des Europäischen Rates machte der Referent keinen Hehl aus der tatsächlichen Lage am Hindukusch. Die afghanischen Sicherheitskräfte dürften sich künftig »auf den Schutz der Hauptstadt und anderer wichtiger Städte sowie kritischer Infrastrukturen konzentrieren«. Damit blieben ländliche Bereiche den »jeweils dort mächtigsten lokalen Gruppierungen überlassen«. »Frage der Erhaltung von bürgerlichen Rechten und Freiheiten dürfte ganz dem ›good will‹ der Insurgenten überlassen sein«, wird der Referent in einer junge Welt vorliegenden Zusammenfassung zitiert.

Bezeichnend ist die Lagebeschreibung für die nordafghanische Provinz Baghlan, in der bis vor kurzem die Bundeswehr mit mehreren hundert Soldaten stationiert war. Am 15. Juni übergab sie den Stützpunkt »Post North« an die einheimischen Truppen. »Derzeitiger Zustand der nördlichen afg. Provinz Baghlan wurde mit ihrer Zweiteilung in einen von Taliban beherrschten Teil und ein vom organisierten Verbrechen diktiertes Gebiet mit relativer Stabilität und geringer Insurgenz, solange sich beide Interessensphären nicht ins Gehege kommen, als möglicherweise beispielhaft für die Lage in Afghanistan nach dem Abzug internationaler Truppen 2014 vorgestellt«, heißt es in dem als »Verschlußsache – Nur für den Dienstgebrauch« gekennzeichneten Papier aus dem Auswärtigen Amt. Bereits jetzt sei ein »starker Rückfluß von Insurgenten« aus Pakistan in den Osten Afghanistan festzustellen. »Weitere militärische Präsenz des Westens« sei »notwendig«. Verärgert beobachten die Europäer die beginnenden Kontakte zwischen Washington und den Islamisten: »Gespräche zwischen USA und Taliban seien exklusiv und falscher Ansatz.«

* Aus: junge Welt, Samstag, 29. Juni 2013


Verlorener Krieg

NATO eiert in Afghanistan

Von Uli Schwemin **


Seit zwölf Jahren führt die NATO Krieg in Afghanistan und hat seitdem offenbar immer den falschen Feind bekämpft. Jedenfalls hat der EU-Geheimdienst INTCEN am 21. Juni konstatiert, daß die nördlich afghanische Provinz Baghlan in zwei Teile zerfällt – »in einen von Taliban beherrschten Teil und in ein vom organisierten Verbrechen diktiertes Gebiet mit relativer Stabilität und geringer Insurgenz«. Was folgt daraus? Führt die NATO den Krieg gegen die Taliban, um Afghanistan in Gänze dem organisierten Verbrechen auszuliefern?

Man weiß es nicht. Denkbar ist auch das Gegenteil. Seit Mitte Juni feiert die NATO ja ihren sogenannten Abzug aus dem Land am Hindukusch. Das könnte heißen, den Taliban wird freie Hand gelassen, »das organisierte Verbrechen« zu bekämpfen. Die Leitung der Aufstandsbekämpfung ist angeblich an das einheimische Militär übergeben worden, also an Truppen mit schlecht ausgebildeten Soldaten, von denen viele nicht einmal des Lesens und des Schreibens kundig sind. Ende 2014 »wird unsere Kampfmission abgeschlossen sein«, tönte NATO-Chef Anders Fogh Rasmussen. Natürlich erfolgreich, denn die NATO ist, außer daß sie ein Angriffspakt ist, ein Pakt des Erfolges. Mitte Juni hatte bereits die Bundeswehr mit großem Tam-Tam ihren gefährlichsten Außenposten in Baghlan geräumt und an die einheimischen Streitkräfte übergeben. Im Herbst soll das Feldlager Kundus geräumt werden. Der Name steht als Symbol für den verbrecherischen Befehl zum Angriff auf unbewaffnete Zivilisten mit 140 Toten durch den deutschen Oberst Klein, der dafür nicht zur Rechenschaft gezogen, sondern im Gegenteil zum General befördert wurde.

Nun also raus aus Afghanistan. Oder doch nicht? INTCEN erklärt jedenfalls, »weitere militärische Präsenz sei notwendig«, weil die afghanischen Sicherheitskräfte »allein die Sicherheit nicht aufrechterhalten« könnten. Wohl wahr. In einer Unterrichtung des Parlaments durch das Bundesverteidigungsministerium vom Mittwoch heißt es klipp und klar: »Die Bedrohung in Afghanistan ist insgesamt erheblich.« Schon Ende Mai war bekannt geworden, daß die Sicherheitslage im nordafghanischen Zuständigkeitsgebiet der Bundeswehr weitaus schlechter ist als bis dahin dargestellt. 2012 gab es dort 1228 Anschläge und Angriffe Aufständischer und damit 241 mehr als 2011, was einem Anstieg um ein Viertel entspricht.

Das Verwirrspiel um die An- oder angeblich geplante teilweise Abwesenheit der internationalen Interventionstruppen in Afghanistan hat einen sehr klaren Hintergrund: Die NATO hat ihren Krieg am Hindukusch verloren. Sie will das aber weder sich selbst noch der Öffentlichkeit eingestehen. Und noch viel weniger kann sie die wichtigste Voraussetzung eines möglichen Friedensprozesses in Afghanistan akzeptieren: die Abwesenheit von NATO-Truppen und die Nichteinmischung von NATO-Staaten.

** Aus: junge Welt, Samstag, 29. Juni 2013 (Kommentar)


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