"Kollateralschäden"
Von Wikileaks veröffentlichte Geheimdokumente geben Aufschluß über zivile Opfer der Aufstandsbekämpfung in Afghanistan
Von Knut Mellenthin *
Nach Erkenntnissen des Büros des afghanischen Präsidenten sind 52
Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, bei einem Angriff der NATO auf
ein Dorf in der Provinz Helmand getötet worden. Ein Kampfhubschrauber
hatte am Freitag voriger Woche mehrere Gebäude mit Raketen beschossen,
in denen Bewohner Schutz gesucht hatten. Ein Sprecher der
internationalen Besatzungstruppen, ISAF, behauptete, das Dorf liege
»mehrere Kilometer von einer Stelle entfernt, wo wir ein Gefecht mit
feindlichen Kämpfern hatten«. Ein Untersuchungsteam habe »keine Hinweise
auf Verluste unter der Zivilbevölkerung« gefunden.
Das Leugnen solcher »Kollateralschäden« der Aufstandsbekämpfung ist für
die NATO Routine. Die in der Nacht zum Montag von Wikileaks
veröffentlichten US-amerikanischen Geheimdokumente enthalten nach einer
Zählung der britischen Tageszeitung Guardian Berichte über 144
Zwischenfälle, bei denen unbeteiligte Zivilpersonen getötet und verletzt
wurden. Auffällig seien die großen Unterschiede zwischen den
Verlaufsschilderungen für den internen Gebrauch und den offiziellen
Presseverlautbarungen der ISAF, schreibt der Guardian. Außerdem würde
aus den Geheimdokumenten eine Reihe von derartigen Vorfällen
ersichtlich, die bisher von der NATO erfolgreich verschwiegen worden waren.
Neben zahlreichen »Kollateralschäden« durch Luftangriffe, denen Tausende
afghanischer Nicht-Kombattanten zum Opfer fielen, beschießen die
NATO-Truppen oft PKWs oder Busse, weil die Fahrer angeblich zu nahe an
einen Militärkonvoi herankamen, nicht schnell genug den Weg frei machten
oder ein Haltesignal übersahen. Unter den jetzt veröffentlichten
Geheimdokumenten ist ein Bericht über französische Soldaten, die am 2.
Oktober 2008 einen Bus mit Kindern beschossen und acht von ihnen
verletzten. Bei einer ähnlichen Aktion töteten oder verletzten
US-Truppen 15 Fahrgäste eines Busses. Am 16. August 2007 beschossen
polnische Soldaten, anscheinend als »Vergeltung« für die Explosion einer
Straßenmine, ein afghanisches Dorf. Fast alle Gäste einer Hochzeitsfeier
wurden dabei getötet.
Durch die Veröffentlichung der Geheimdokumente werden erstmals konkrete
Einzelheiten über die Einsätze der US-amerikanischen Spezialtruppe Task
Force 373 bekannt. Angeblich soll diese sogenannte Topziele, Mitglieder
der obersten Führung von Taliban und »Al-Qaida«, festnehmen oder töten.
Aus der Tatsache, daß sich allein aus den jetzt bekannt gewordenen
Dokumenten eine »Kill-or-Capture«-Liste mit 2000 Namen ergibt, wird
deutlich, daß es keineswegs nur um die Führungsebene der Aufständischen
geht.
Einheiten der Task Force 373 sind seit Monaten auch im
nordostafghanischen Zuständigkeitsbereich der deutschen Bundeswehr
aktiv. Wie weit sie bei ihren Einsätzen mit den Deutschen
zusammenarbeiten, ist offiziell nicht bekannt. Kriegsminister
Karl-Theodor zu Guttenberg sagte bei einem Truppenbesuch im November
2009 lediglich vielsagend, er sei »für jede Hilfe der US-Armee dankbar«.
Die FDP-Militärexpertin Elke Hoff erklärte zu den jetzt veröffentlichten
Dokumenten gegenüber Spiegel online, die gezielten Tötungen in
Afghanistan seien »nicht neu« und könnten »keinen ernsthaft
überraschen«. Sie erwarte auch gar nicht, »daß die Bundesregierung uns
als Parlamentarier über die Spezialeinheiten aller Partner informiert«.
Aus den von Wikileaks ins Internet gestellten Berichten wird deutlich,
daß es auch bei den Einsätzen der Task Force 373 immer wieder
»Kollateralschäden« gibt. Beispielsweise tötete eine Spezialeinheit am
11. Juni 2007 bei einem Feuergefecht sieben afghanische Polizisten und
verletzte vier weitere. Der Vorfall wurde verheimlicht. Kurz darauf, am
17. Juni 2007, griff die Task Force 373 eine religiöse Schule, in der
sie Talibankämpfer vermutete, mit Raketen an. In den Trümmern wurden
jedoch sieben tote Kinder gefunden. Ein achtes, schwer verletztes Kind
starb wenig später. Es gab keine Anzeichen, daß sich wirklich Taliban im
Objekt befunden hätten.
* Aus: junge Welt, 28. Juli 2010
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