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Die Wahlen in Afghanistan / Voting in Afghanistan

Von Mike Whitney / by Mike Whitney

Zum folgenden Artikel, den wir der Internetzeitung ZNet entnommen haben, passt die folgende Meldung der Presseagentur AFP vom 28. Oktober 2005:
Vier Jahre nach dem Sturz der radikalislamischen Taliban stuft die UNO die Menschenrechtslage in Afghanistan weiterhin als Besorgnis erregend ein. So genannte Ehrenmord, Zwangsheiraten, illegale Gefangennahmen und die Ausbeutung von Frauen und Kindern seien weiterhin weit verbreitet, hieß es in einem am Freitag [28.10.05] veröffentlichten Bericht von UN-Menscherechtskommissarin Louise Arbour. Die Bevölkerung leide gleichermaßen unter der Gewalt der Taliban wie auch unter lokalen Milizenführer und Kriegsherren.



Die Wahlen in Afghanistan

Von Mike Whitney

Die westlichen Medien befassen sich selten mit dem Scheitern des Kriegs in Afghanistan. Das ist schade, denn der Afghanistan-Konflikt sagt einiges über die suizidalen Tendenzen der US-Außenpolitik aus.

95% der Amerikaner waren für den Krieg in Afghanistan. Nach den Anschlägen vom 11. September hatte die amerikanische Öffentlichkeit das Gefühl, es müsse eine Reaktion erfolgen, es müsse etwas getan werden. Und es wurde etwas getan. Wir sind in ein souveränes Land einmarschiert. Wir stürzten die fanatischen Taliban und haben ein Amerika-freundliches Regime zusammengekleistert. Über echte Autorität hat dieses Regime allerdings nie verfügt, und es kann seinem Volk nicht einmal minimale Sicherheit garantieren.

Die toxischen Folgen des Afghanistan-Konflikts wurden durch diese Wahlen tragisch offenbar. Das Resultat der aktuellen afghanischen Parlamentswahl war sehr unerwartet. Am 18. September wurde die neue Wolesi Jirga (Unterhaus) gewählt. Über die Hälfte der Sitz! e gingen an Warlords und frühere Taliban-Kommandeure. Viele der Gewählten zählen zu den extremsten Menschenrechtsverletzern im Land. Diese Leute stehen sicherlich nicht für das, was Präsident Bush vorschwebte, als er seine “globale demokratische Revolution” begann. Nun werden Ex-Dschihadisten, islamische Fundamentalisten und Warlords die Parlamentsmehrheit kontrollieren - und dafür sorgen, dass die Sicherheit des afghanischen Volkes weiter gefährdet ist.

Aus pragmatischen Gründen ist Afghanistan zurückgekehrt zu jenem brutalen Zustand, wie er vor den Taliban bestand - als das Land in Fürstentümer regionaler Kriegsherren unterteilt war. Etliche Kandidaten der aktuellen Parlamentswahl haben schon im Bürgerkrieg der 90ger Jahre mitgemischt - ein Krieg, der damals weite Teile des Landes verheerte. Jetzt sind sie in der Lage, die Macht der Zentralregierung herauszufordern und künftige Bemühungen zur Einigung des Landes zu hintertreiben.

Zu den Taliban-Führern, die in die ne! ue Regierung gewählt wurden, zählen zum Beispiel Wakil Mutawakil, Außenminister unter der Taliban-Regierung, oder Maulavi Qalamuddin, der unter den Taliban das ‘Ministerium zur Verhinderung des Lasters und zur Förderung der Tugend’ leitete (ein fanatisches Ministerium, das die Scharia durch schwere Strafen und körperlicher Misshandlungen durchsetzte). Man geht allgemein davon aus, dass die extremeren Elemente im neuen, schwächelnden Parlament direkt von Teheran unterstützt werden. Würde bedeuten, dass der Iran in Afghanistan eine politische Unterstützerbasis herausbildet - wie im Irak. Was für eine Ironie, dass ausgerechnet die USA in zwei Ländern, in die sie einmarschierten, ein Teheran-freundliches Regime verteidigen.

Nach vier Besatzungsjahren sehen wir, dass die Versprechungen der Bush-Administration nichts als Lügen waren. Das Militär hat keinen Versuch unternommen, das flache Land von der Tyrannei der Warlords zu befreien. Auch Bushs Versprechen eines Marshallplan! s für Afghanistan wurde nicht umgesetzt. Die Regierung Karsai ist ein schwächelndes Marionetten-Regime ohne Basis in der Bevölkerung. Außerhalb der Stadtgrenzen von Kabul hat es keine wirkliche Macht. Angesichts des Unvermögens der Regierung, mit den drängendsten Problemen im Land - Sicherheitslage, Drogenverkehr, Hygiene, Menschenrechtsverletzungen - fertig zu werden, kann man sagen, Karsai und seine amerikanischen Oberherren stellen ein ernstes Hindernis für den Wiederaufbau des Landes dar. Afghanistan hat keine reelle Chance auf Erholung und Entwicklung, solange Karsai nicht durch jemanden ersetzt ist, der über eine breitere Mandatsbasis im Volk verfügt.

Die zunehmenden Angriffe gegen US-Truppen zeigen, wie allgegenwärtig der Frust auf die amerikanische Besatzung ist. Die Öffentlichkeit glaubt nicht mehr daran, dass Amerika zu seinem ursprünglichen Versprechen steht, Afghanistan wiederaufzubauen und zu stabilisieren. Vielmehr trage Amerika zur wachsenden Unzufriedenheit! und Gewalt im Lande bei. Leben in Afghanistan - das ist ein endloser Teufelskreis aus sporadischen Angriffen, ineffektiver Bürokratie und jämmerlicher Armut. Und das Gespenst der Okkupation verstärkt die Hoffnungslosigkeit.

Die Chance, seinen guten Willen unter Beweis zu stellen, hat Amerika verpasst. Das Zeitfenster ist längst geschlossen. Und die berichteten Fälle von Gefangenenmisshandlungen oder gar -tötungen gießen Öl ins Feuer einer wachsenden Unruhe und Wut. Vor kurzem wurde berichtet, dass US-Soldaten die Leichen mehrerer Taliban-Kämpfer verbrannten. Dies ist lediglich der aktuellste und obszönste Affront gegen den Glauben und die kulturellen Empfindungen des afghanischen Volkes. Die Schockwellen, die dieser Vorfall erzeugt, werden zweifellos noch jahrelang zu spüren sein.

Die Situation im Lande wird sich weiter verschlechtern - es sei denn, die USA ziehen ab. die Menschen in Afghanistan trauen uns nicht mehr. Und wir verfügen nicht über die moralische Aut! orität zu sagen, was für sie das Beste ist. Es ist traurige Tatsache, dass die US-Truppen in Afghanistan nicht mehr als Friedensgaranten gelten sondern als diejenigen, die die Feindseligkeiten in erster Linie heraufbeschwören. Laut ‘Stars and Stripes‘ (www.estripes.com Magazin des US-Militärs - Anmerkung d. Übersetzerin) “wäre es möglich, dass das jüngste Aufflammen der Kämpfe (in Afghanistan) eher mit amerikanischer Aggressivität zusammenhängt als mit allem, was die Al Kaida tut”. Die Amerikaner neigten dazu, “zuerst zu schießen und dann zu fragen” - siehe Irak. Dies ist der wichtigste Grund für die zunehmende Gewalt.

Die westlichen Medien waren sehr darauf gedacht, Afghanistan aus den Schlagzeilen der amerikanischen Presse herauszuhalten. Der Platz auf der Titelseite ist nun für die windige Anklage gegen Syrien reserviert - die es Washington ermöglicht, für Unterstützung für seinen neuen Krieg zu werben. Nachdenklichen Amerikanern sei daher empfohlen, einen zweiten Blick auf Afghanistan zu werfen und zu überlegen, ob dort irgendetwas von den Zielen der Bush-Administration verwirklicht wurde, oder ob es nicht vielmehr so ist, dass der Afghanistan-Konflikt ein überwältigender Misserfolg war. Die afghanischen Parlamentswahlen haben zweifelsfrei gezeigt, dass die amerikanische Einmischung die brutalsten und reaktionärsten Elemente in der afghanischen Gesellschaft nur gestärkt hat. Das zeigt uns klar, es ist höchste Zeit, unsere Truppen abzuziehen, und es zeigt uns klar, dass das Primat militärischer Gewalt (zur Erreichung außenpolitischer Ziele) neu überdacht werden muss.

Übersetzt von: Andrea Noll

Quelle: ZNet 27.10.2005; www.zmag.de



Voting in Afghanistan

by Mike Whitney

The western media rarely explores the failures of the Afghanistan war. That's unfortunate, because the conflict tells us a great deal about the suicidal direction of American foreign policy.

95% of the American public supported the war in Afghanistan, feeling that something had to be done in response to the attacks of September 11. Something was done; we invaded a sovereign nation, toppled the fanatical Taliban, and cobbled together an American-friendly regime that has never had any real authority and never provided even minimal security for its people.

The toxic effects of the conflict are now tragically evident in the unexpected results of the parliamentary elections. The Sept. 18 elections for the Wolesi Jirga (Lower House) show that warlords and ex-Taliban commanders won over half of the seats in the new parliament. Many of those elected are among the most extreme human rights abusers in the country; certainly not what President Bush imagined when he began his "global democratic revolution". Now, former jihadis, Islamic fundamentalists, and warlords will control a majority of the seats in Parliament ensuring that the security of the Afghani people will continue to be at risk.

For all practical purposes, the country has returned to its brutal pre-Taliban days where the nation was divided into fiefdoms controlled by regional warlords. Many of the candidates participated in the civil war during the 1990's that devastated much of the country. They are now in a position to challenge the power of the central government and obstruct efforts to further integrate the country.

Some of the Taliban leaders who won spots in the new government are Wakil Mutawakil, former Foreign Minister for the Taliban, and Maulavi Qalamuddin, the head of the Dept. for the Prevention of Vice and the Promotion of Virtue; the fanatical agency that enforced Sharia Law through severe forms of punishment and physical abuse. It is widely believed that Tehran is directly supporting the more extreme members in the fledgling parliament. This tells us that Iran is developing a base of political support in Afghanistan as it has in Iraq. Ironically, the US is currently defending Iran-friendly regimes in both countries it has chosen to invade.

After 4 years of occupation, we can see that the administration's promises for Afghanistan were all lies. The military has never tried to liberate the countryside from the tyranny of the warlords, nor has Bush's promise of a Marshall Plan ever materialized. The Karzai government is a feeble puppet-regime with no popular base and with no real power beyond the confines of Kabul. Judging by its inability to address any of Afghanistan's urgent problems; security, drug-trafficking, sanitation, human rights abuses, we can conclude that Karzai and his American overlords are a serious obstacle to Afghanistan's rehabilitation. There's really no chance of meaningful recovery or development in Afghanistan until Karzai is replaced by someone with a broader popular mandate.

The increasing attacks on American forces are a sign of the widespread frustration with the American occupation. The public no longer believes that the US will honor its original commitments to rebuild or stabilize the country and that is causing growing discontent and violence. Life in Afghanistan is an endless cycle of sporadic attacks, bureaucratic ineffectiveness, and grinding poverty. The specter of occupation only adds to the sense of hopelessness.

The window of opportunity for the US to demonstrate its good intentions has long since passed. The reported incidents of prisoner abuse and even death are fueling the rising restlessness and anger. The recent broadcast of the US troops burning the bodies of Taliban fighters is just the latest, and most obscene, affront to the cultural sensitivities and religious beliefs of the Afghanistan people. The shock-waves from this incident will undoubtedly be felt for years to come.

Things will only get worse in Afghanistan until the United States leaves. We are no longer trusted by the people, nor can we claim the moral authority to know what is in their best interest. The sad fact is that American troops are no longer guarantors of the peace but, rather, are the main instigators of the hostilities. According to Stars and Stripes magazine, "the recent surge in fighting (in Afghanistan) could be attributed more to American aggressiveness than anything Al Qaida is doing." Just like in Iraq, the American tendency to "shoot now, and ask questions later" is the primary source of the burgeoning violence.

The western media has scrupulously kept Afghanistan off the front page of America's newspapers. That spot has been reserved for the spurious charges against Syria so that Washington can drum-up support for its next war. But, thoughtful American's should take a second look at Afghanistan and judge for themselves whether any of the administration's goals have been realized or if the conflict has been a dismal failure. The recent parliamentary elections demonstrate beyond a doubt that America's involvement has only strengthened the most reactionary and brutal elements in Afghani society. This is a clear sign that it is high-time for us to withdraw our troops and to reconsider the use of military force as the primary means of achieving foreign policy objectives.

Source: ZNet; October 27, 2005; www.zmag.org


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