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Blutige Abstimmung

Parlamentswahl in Afghanistan: Nur jeder Dritte gab seine Stimme ab

Von Thomas Berger *

Weder friedlich noch ohne Skandale sind die afghanischen Parlamentswahlen am Sonnabend über die Bühne gegangen. Zwar blieben die registrierten Störungen durch Aufständische zahlenmäßig hinter denen bei der Präsidentschaftswahl vor rund einem Jahr zurück. Die vorläufige Bilanz der Abstimmung kann aber keineswegs als Erfolg eingestuft werden, auch wenn sowohl die Regierung in Kabul als auch der Westen diese so darzustellen versuchen. Mehr als jedes siebte Wahllokal öffnete gar nicht erst, 1019 von 6835 blieben aus Sicherheitsgründen geschlossen, und von den verbleibenden öffneten einige auch erst verspätet.

Waren schon im Vorfeld mindestens zwei Kandidaten und noch mehr Wahlkampfhelfer ermordet worden, so kamen am Wahltag selbst mindestens zehn Menschen ums Leben. Die Nachrichtenagentur Reuters sprach unter Berufung auf das Innenministerium in Kabul von elf Zivilisten sowie drei Polizeiangehörigen. Sie starben teilweise auch bei den Mörserangriffen, die seit den frühen Morgenstunden von den Taliban gegen mehrere Städte gerichtet wurden. Der Provinzgouverneur von Kandahar, einer Hochburg der Taliban, entkam einem Bombenattentat.

Tatsache ist, daß die Einschüchterungstaktik der radikalen Kräfte teilweise funktioniert hat und viele der Abstimmenden sich der Gefahr für Leib und Leben durchaus bewußt waren. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon lobte in New York deshalb ausdrücklich den Mut der Wähler und zugleich »vorläufig« auch das Agieren der zuständigen Behörden, vor allem der nationalen Wahlkommission IEC. Auch der Oberkommandierende der US- und NATO-Truppen in Afghanistan, General David Petraeus, unterstrich in einem Statement die enorme Rolle, die der Westen dieser Wahl beimesse.

War bei der vorigen Parlamentswahl immerhin noch jeder Zweite zur Abstimmung erschienen, scheint diesmal bestenfalls ein Drittel der Registrierten von dem Grundrecht Gebrauch gemacht zu haben. Eine vorläufige Meldung der IEC sprach von 3,6 der insgesamt 11,4 Millionen Wähler, die ihre Stimme abgegeben hätten. UN-Sonderbeauftragter Staffan de Mistura, der sich kurz zuvor noch öffentlich fünf bis sieben Millionen Wähler erhofft hatte, meinte denn auch etwas enttäuscht, es sei verfrüht, schon von einem Erfolg zu sprechen.

Grundsätzlich zufrieden zeigte sich dagegen Wahlkommissionschef Faizal Ahmad Manawi. Dabei übersah der IEC-Vorsitzende offenbar die Meldungen über mindestens 22000 schon im Vorfeld gefundener gefälschter Registrierungskarten sowie weitere Manipulationsvorwürfe, die sich an der Tinte festmachen, mit der Wähler zur Verhinderung einer mehrfachen Stimm­abgabe gekennzeichnet wurden. In 2950 Abstimmungslokalen soll der Farbstoff von den Fingern der Wähler einfach abzuwaschen gewesen sein, wie die IEC selbst gegenüber der britischen BBC eingestand.

Afghanistans Präsident Hamid Karsai, der bei vielen als Statthalter des Westens angesehen und als Bürgermeister von Kabul verspottet wird, wählte in einer Schule in der Hauptstadt. Erst Ende Oktober, wenn das amtliche Wahlergebnis verkündet werden soll, wird feststehen, ob sich seine Hoffnung auf ein gefügigeres Parlament erfüllt. Die bisherigen Abgeordneten hatten unter anderem mehrere Minister seiner Kabinettsvorschlagsliste durchfallen lassen.

* Aus: junge Welt, 20. September 2010


4000 Einsprüche bei Afghanistan-Wahl

Deutsche »Task Force 47« fasst Taliban-Kommandeur in Kundus **

Nach der Parlamentswahl in Afghanistan häufen sich die schriftliche Klagen über Unregelmäßigkeiten. Bundeswehrspezialtruppen sind unterdessen weiter auf der Jagd nach Anführern der Taliban.

Die Wahlbeschwerdekommission (ECC) hat am Mittwoch (22. Sep.) mitgeteilt, dass sie weitere Vorwürfe untersucht. 2500 schriftliche Klagen beträfen Vorfälle am Wahltag oder während der Stimmenauszählung. Weitere 1700 Beschwerden bezögen sich auf die Zeit des Wahlkampfs, der Ende Juni begonnen hatte. Wahlbeobachter hatten nach der Abstimmung vom Samstag über Betrug und Unregelmäßigkeiten berichtet.

Ex-Präsidentschaftskandidat Abdullah Abdullah sagte am Mittwoch (22. Sep.), seine Mitarbeiter hätten »solide Beweise« über massiven Betrug bei der Parlamentswahl gesammelt. Er warnte vor Konsequenzen, sollten die ECC und die Unabhängige Wahlkommission (IEC) die Fälle nicht aufklären. Abdullah hatte sich bei der Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr aus der Stichwahl gegen Amtsinhaber Hamid Karsai zurückgezogen, dessen Lager er ebenfalls Betrug vorwarf. Die IEC will am 9. Oktober ein vorläufiges Ergebnis und am 30. Oktober ein amtliches Endergebnis verkünden.

Spezialkräfte der Bundeswehr und afghanische Sicherheitskräfte haben in der nordafghanischen Provinz Kundus einen hochrangigen Taliban-Kommandeur gefasst. Die deutsche »Task Force 47« sei an der Operation gegen Maulawi Roshan beteiligt gewesen, teilte die Bundeswehr am Mittwoch mit. Roshan habe Verbindungen zur Taliban-Führung im benachbarten Pakistan gehabt. Er werde seit Mitte 2009 mit zahlreichen Anschlägen auf die Internationale Schutztruppe ISAF und auf afghanische Ziele in Verbindung gebracht. Roshan sei den afghanischen Behörden übergeben worden, teilte die Bundeswehr weiter mit. Niemand sei zu Schaden gekommen. Die ISAF meldete, Roshan habe auch als »unrechtmäßiger Richter« der Aufständischen in Kundus operiert.

Die ISAF teilte ferner mit, bei einem Taliban-Angriff in der ostafghanischen Provinz Chost seien 14 Aufständische getötet worden. In der südafghanischen Provinz Kandahar seien sechs Aufständische bei einem Luftschlag ums Leben gekommen. In Helmand im Süden seien vier Extremisten getötet und drei weitere gefangen genommen worden. Auch in Ghasni im Südosten und in Kandahar sei es zu Festnahmen gekommen. Bei einem Anschlag im Süden des Landes sei ein ISAF-Soldat getötet worden. Zur Nationalität machte die ISAF keine Angaben. Beim Absturz eines Militärhubschraubers in Südafghanistan waren am Dienstag neun US-Soldaten ums Leben gekommen.

** Aus: Neues Deutschland, 23. September 2010


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