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Vertrag in der Schwebe

Afghanistans Präsident Karsai stellt Vereinbarungen mit den USA in Frage

Von Knut Mellenthin *

Afghanistans Präsident Hamid Karsai strebt offenbar Nachverhandlungen über das bereits vereinbarte Stationierungsabkommen mit den USA an. Die Meinungsverschiedenheiten konnten am Montag bei einem Gespräch mit Washingtons Nationaler Sicherheitsberaterin Susan Rice nicht beigelegt werden. Rice hatte von Karsai ultimativ verlangt, daß er den Vertrag bis Jahresende unterschreiben müsse. Anderenfalls hätte die US-Administration »keine andere Wahl, als eine Zukunft für die Zeit nach 2014 zu planen, in der es keine US-amerikanischen oder NATO-Truppen in Afghanistan geben wird«.

Bis Ende 2014 soll der größte Teil der gegenwärtig noch über 70000 ausländischen Soldaten Afghanistan verlassen haben. Die USA und ihre Verbündeten wollen dort danach aber noch mindestens zehn weitere Jahre Truppen stationieren. Auf eine genaue Zahl haben sie sich bisher noch nicht festgelegt. Es könnte sich, qualifizierten Vermutungen zufolge, um insgesamt 12000 bis 15000 Mann handeln.

Das am vorigen Mittwoch vom afghanischen Außenministerium veröffentlichte Stationierungsabkommen beantwortet die Frage nach der Stärke der bis mindestens 2024 im Land bleibenden ausländischen Truppen nicht. Es enthält auch keine konkrete Zusage über die westliche Finanzhilfe, die Afghanistan in dieser Zeit zu erwarten hat. Informell ist die Rede von acht Milliarden Dollar jährlich. Die eine Hälfte soll für den Unterhalt der afghanischen Sicherheitskräfte bestimmt sein, die andere Hälfte soll sich auf Wirtschafts- und Projekthilfe verteilen.

Falls Karsai sich weiter weigert, das Abkommen »so schnell wie möglich« zu unterschreiben, wäre diese bisher ohnehin nur mündlich signalisierte Zahlungszusage gefährdet. Das machte Rice bei ihrem Treffen mit dem Präsidenten in dessen stark geschützter Residenz noch einmal unmißverständlich deutlich. Afghanistans Sicherheitskräfte haben, im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße, eine der höchsten Personalstärken der ganzen Welt. Die maßlose Aufblähung in den letzten Jahren erfolgte in erster Linie aufgrund des Drucks der US-Administration. Andererseits ist Afghanistan jedoch eines der ärmsten Länder der Welt. Die vier Milliarden Dollar jährlich, die dem Land für den Unterhalt seines Militärs in Aussicht gestellt sind, übertreffen die gesamten übrigen Staatsausgaben, die ihrerseits weit über den Einnahmen durch Steuern und Abgaben liegen.

Afghanistan hat also kaum eine andere Wahl, als sich der Erpressung durch die US-Regierung zu beugen. Von dieser resignativen Einschätzung ließen sich offenbar auch die 2500 bis 3000 Teilnehmer der »Loja Dschirga« leiten, die von Donnerstag bis Sonntag in 50 Arbeitsgruppen über das Abkommen berieten. Wie dieses traditionelle Gremium sich zusammensetzt, wie ihre Teilnehmer ausgewählt werden und wen sie in Wirklichkeit repräsentieren, ist undurchsichtig.

In seiner Eröffnungsansprache hatte Karsai die Versammelten aufgerufen, dem Stationierungsabkommen zuzustimmen. Zugleich hatte er aber angekündigt, daß er den Vertrag nicht unterzeichnen werde, sondern daß dies seinem Nachfolger vorbehalten bleiben solle, der am 5. April nächsten Jahres zu wählen ist. Damit waren die Teilnehmer der Dschirga jedoch nicht einverstanden: Mit großer Mehrheit billigten sie am Sonntag nicht nur ohne Einschränkungen das Abkommen, sondern forderten den Präsidenten auch auf, es ganz schnell zu unterschreiben.

Karsai kündigte in seiner Schlußrede an, daß er diesem Appell nicht zu folgen gedenkt. Er werde nur unterschreiben, bekräftigte er auch gegenüber der amerikanischen Sicherheitsberaterin Rice, wenn die US-Truppen künftig darauf verzichteten, in afghanische Wohnungen und Häuser einzudringen und Zivilisten zu töten. Außerdem erwarte er von den USA Unterstützung bei seinen Bemühungen um Friedensverhandlungen mit den Taliban.

Die Frage ist, wie lange er diese Haltung durchhält. Daß die US-Regierung nicht nachgeben wird, scheint sicher.

* Aus: junge welt, Mittwoch, 27. November 2013


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