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Afghanistan: "Abzug, um zu bleiben" – Nachdenken in den USA über den strategischen Sieg

Von Arne C. Seifert *

Parallel zu den militärischen Abzugsversprechen verläuft unter US-Sicherheitsexperten eine intensive Diskussion darüber, wie ein Verbleiben der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan nach 2014 sichergestellt werden kann. Offensichtlich laufen diese Erörterungen auf einen Wechsel vom primär militärischen Afghanistan-Szenario zu einem gemischt politisch-militärischen hinaus. Das strategische Ziel besteht darin, den USA eine langfristige Präsenz und Hegemonieprojektion in Afghanistan und von dort aus in die angrenzenden Regionen zu ermöglichen. Anders gesagt, was die USA auf militärischem Wege bisher nicht erreichen können, beabsichtigen sie, nunmehr „andersherum“ zu erreichen: Nämlich mit einem Wandel ihrer Taktik in Richtung „state building“, „ziviler Aufbau“, ja sogar einer Teilung Afghanistans entlang seiner ethnischen Bruchlinien in einen paschtunischen Osten und Süden, sowie einen tadschikischen, usbekischen, hazarischen Norden und Westen sowie eine Kernregion um Kabul.

Die Stichworte jener Diskussion heißen „Plan B“ für Afghanistan, „Wie der Krieg doch noch gewonnen werden kann“, „Finish the Job“ und „Withdraw in order to stay.“

Ich vermute, dass auch hierzulande hinter den Tönen, wie, man dürfe einen „Abzug nicht überstürzen“ und die „Afghanen nicht allein oder den Taliban überlassen“ ebenfalls Überlegungen zu einem „Plan B“ stehen. Noch wird das alles in leisen Tönen vorgetragen. Aber wer genau hin hörte, dem entging nicht, dass die Außenministerin der EU, Ashton, auf der Münchner Sicherheitskonferenz davon sprach, die EU werde noch lange in Afghanistan bleiben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sollten wir ernst nehmen, beachten und in unsere Überlegungen zur Beendigung des Kriegs in Afghanistan einbeziehen, denn auch ein „Plan B“, welcher weiterhin auf Hegemonie, Bevormundung der Afghanen und fremde Militärpräsenz aus ist, wird in Afghanistan scheitern.

Ich habe einige Aspekte jener Diskussion zusammengetragen und möchte Sie darüber informieren.

In der Diskussion führen prominente US-Politiker und Diplomaten das Wort, darunter Robert D. Blackwill vom Council of Foreign Relations und früherer Botschafter in Indien, Paul D. Miller von der National Defense University und früherer Direktor für Afghanistan im US-National Security Council unter George W. Bush und Barack Obama von September 2007 bis November 2009.

Folgendes Scenario wird gedacht, das ich mit Originalzitaten nachzeichnen will:

„Ein Sieg ist doch noch möglich, wenn den Truppen und ihren zivilen Partnern ausreichend Zeit gegeben wird, um ihre Mission zu vollenden.“ „Zeit ist die wichtigste Ressource, welche die USA (in Afghanistan – A.S.) brauchen, nicht mehr Truppen.“ „Obama sollte ISAF die Zeit lassen“, welche sie benötigt, um die „Schwäche der afghanischen. Regierung“ zu beheben, welche die „wichtigste strategische Bedrohung ist.“ Letzteres erfordere, dass die „Obama-Regierung ein dramatisch anspruchsvolleres Capacity Building-Programm auflegt und dieses mit einer kraftvoll verstärkten zivilen Präsenz in der afghanischen Verwaltung und im Rechtssystem beginnt.“

Weil also ein Sieg doch noch möglich wäre, solle, so Blackwill, „die US-Regierung aufhören, über Exit-Strategien zu reden, sondern die USA auf die Übernahme einer langfristigen Kampfmission von 35.000 bis 40.000 Mann orientieren.“

Da „Washington sich damit zu arrangieren hat, dass die Taliban den größten Teil des paschtunischen Ostens und Südens unvermeidbar kontrollieren werden“ , wird in der Diskussion auf eine Doppelstrategie orientiert, der zufolge die „USA und ihre afghanischen sowie ausländischen Partner eine umfassende Antiterrorismus-Strategie in Paschtu-Afghanistan und eine Nation-Building-Strategie im Rest des Landes starten, der sie sich mindestens für die nächsten sieben bis zehn Jahre verpflichten.“ „Eine de-facto-Teilung (Afghanistans – A.S.) bietet der Obama-Administration die beste Alternative zu einer strategischen Niederlage.“

Der Präsident Obama empfohlene „Plan B“ sieht vor: „Die USA und ihre Verbündeten ziehen ihre Bodenkampftruppen über mehrere Monate hinweg vom größten Teil Paschtu - Afghanistans ab, einschließlich Kandahar. ISAF beendet die Kampfhandlungen in den Bergen, Schluchten und städtischen Gebieten Süd- und Ost-Afghanistans. […] Gleichzeitig konzentriert Washington seine Kräfte auf die Verteidigung der von Paschtunen nicht dominierten Bereiche im Norden und Westen Afghanistans, einschließlich Kabul. Den afghanischen Taliban wird ein Modus Vivendi angeboten in dem beiden Seiten übereinkommen, das von ihnen jeweils kontrollierte Gebiet nicht zu erweitern.[…] Washington bezieht in dieses Unternehmen Tadschiken, Usbeken, Hazaras und unterstützungsbereite Paschtunen ein, Afghanistans Nachbarn und den VN-Sicherheitsrat.“

In dieser Diskussion wird unmissverständlich artikuliert, worum es geht: „Eine solcher Strategiewechsel würde für alle wahrnehmbar klar machen: Mit ihrer anhaltenden militärischen Präsenz in Afghanistan beabsichtigen die USA, eine einflussreiche Macht in Süd- und Zentralasien für viele Jahre zu bleiben.“

Damit sind wir beim geostrategischen Kern hinter den Überlegungen zu „Plan B“ sowie von „withdraw in order to stay“: Die USA wollen sich, und das wahrscheinlich von vornherein, in Afghanistan ein stabiles geopolitisches „Standbein“ in der gesamten Region schaffen, das sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu Zentralasien, der neuen Supermacht China, Pakistan, Iran, dem Arabischen Meer und Persischen Golf befindet. Bereits 2005 stellte eine Studie für die US-Luftstreitkräfte fest, dass „das US-Militär sich nicht einfach aus der Region verabschieden kann, wenn die ‚Operation Enduring Freedom‘ beendet oder verringert wird.“ Vielmehr müssten die USA für eine ganze Reihe von Szenarien vorbereitet sein: „Intervention in einen indisch-pakistanischen Krieg, Unterstützungsmissionen von Ländern, die von Anti-Terror- oder Anti-Aufstandsoperationen betroffen sind; Erdöl- und Erdgasleitungssicherheit.“ „Kein anderer Platz würde die USA dichter an die pakistanisch-indische Grenze führen, weder Oman oder Thailand, noch Diego Garcia.“

Nun lässt sich gegenwärtig schwer voraussagen, ob und welche dieser „Plan B“ – Varianten sich durchsetzen und wozu die NATO- und EU-Führungen sich schließlich entscheiden.

Es muss jedoch davon ausgegangen werden, dass diese Überlegungen eine Rolle spielen, weil sie den weltpolitischen Interessen der USA entsprechen und weil sie kompatibel sind mit der Out-of-Area-Orientierung der NATO bis zum „Kaukasus, Nah- und Mittelost, Mittelmeerraum, Afrika südlich der Sahara." Letztere Formulierung, sie entstammt dem Munde des deutschen Generals Harald Kujat in einem „Montagsgespräch“ der Rheinmetall 2005, verdeutlicht, dass sich auch das „deutsche Militär“ –wie scheußlich das klingt - und dessen politische Führung in Gestalt der Bundesregierung dieser interventionistischen Strategie verschrieben haben.

Die deutsche politische Klasse, das Militär und die Rüstungsindustrie haben sich diese Strategie zu Eigen gemacht, weil sie ihnen den Weg für eine militärpolitische „Rückkehr Deutschlands“ in die Weltpolitik öffnet. Hinzu kommt, dass führende deutsche Politiker, ja ganze Fraktionen des Bundestags, mit der Losung von der Notwendigkeit, Deutschlands Sicherheit sei am Hindukusch zu verteidigen, für das militärische und politische Desaster sowie den Tod unzähliger Menschen in Afghanistan auch ganz persönlich verantwortlich sind. Deshalb müssen wir damit rechnen, dass auch sie einem „Plan B“ nicht abhold sein könnten.

Wir brauchen aber keine militärpolitische „Rückkehr Deutschlands“ in die Weltpolitik. Was wir brauchen ist die Einhaltung der Verpflichtung im 2+4 Vertrag „Über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ vom 12. September 1990, in dem sich die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, „dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird. Nach der Verfassung des vereinten Deutschland sind Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, verfassungswidrig und strafbar“ sind (Artikel 2).

Und deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten wir die Kritik der Afghanistanpolitik und unser Nachdenken über Wege zur Beendigung des Krieges dort ganz eng verbinden mit einer grundsätzlichen Ablehnung und massenwirksamen Kritik der übergeordneten Ursachen: Nämlich jener sog. „Antiterrorstrategie“. Sie war und ist ein gigantisches politisches Manöver, mit dem die 180º-Wende des außen- und sicherheitspolitischen sowie militärischen Charakters der Bündnissysteme NATO und EU, aber auch der deutschen Außenpolitik im Sinne eines international wirksamen Interventionspotentials vollzogen wurde.

Daher halte ich es für dringend angebracht, dass wir uns zusammen mit der Beendigung des Krieges in Afghanistan, dem sofortigen Abzug der Bundeswehr und dem dringlichen Einleiten einer politisch-diplomatischen Regelung für Afghanistan zugleich für eine auf Frieden und demokratisches internationales Verhalten gerichtete sicherheits- und außenpolitische Orientierungen zu Wort zu melden. Diese Wortmeldung muss in die öffentliche Debatte getragen werden, damit die Verkürzung des Wahrnehmens von außenpolitischen Interessen der europäischen Völker auf enge Führungsstäbe und Geheimdiplomatie endlich beendet wird. Sonst wird der Afghanistan-Konflikt nicht geregelt und jene Strategie stürzt uns in den nächsten Krieg.

Daher sollten wir höchst wachsam sein gegenüber einem Argumentationswechsel in der Afghanistanfrage in Richtung „let‘s finish the job“.

* Dr. Arne C. Seifert, Botschafter a.D., Berlin. Diesen Beitrag hielt Arne Seifert bei der Konferenz "Stoppt den Krieg in Afghanistan – Perspektiven für Frieden und Entwicklung" am 19. Februar in Hannover.


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