Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Schüsse auf Trauerzug

Von Knut Mellenthin *

Deutsche Soldaten beteiligen sich immer stärker an der direkten Aufstandsbekämpfung in Afghanistan. Während einer Demonstration gegen einen Bundeswehrstützpunkt in Talokan sind am Mittwoch (18. Mai) Agenturberichten zufolge mindestens zwölf Menschen erschossen worden. Mehr als 80 Menschen wurden verletzt, meist ebenfalls durch Schüsse deutscher Soldaten oder afghanischer Wachleute und Polizisten. In welchem Ausmaß Deutsche an dem Massaker unmittelbar beteiligt waren, ging aus den Meldungen bis Redaktionsschluß nicht eindeutig hervor. Die Bundeswehr hatte zunächst verschwiegen, daß es Tote gegeben hatte, und ließ vorbeugend verbreiten, die Menschenmenge habe Molotowcocktails und Handgranaten gegen den Stützpunkt geworfen. In US-Medien war indessen nur von Steinen die Rede. Die Welt und Stern leisteten online sofort propagandistischen Flankenschutz, indem sie die Demonstranten als »Mob« titulierten.

Die Proteste hatten sich am Morgen aus einem Trauerzug der örtlichen Bevölkerung entwickelt. Eine Menschenmenge, die von wenigen hundert auf 1500 bis 2000 Personen anwuchs, hatte die Leichen von vier Bewohnern durch die Stadt getragen. Sie waren wenige Stunden zuvor beim nächtlichen Überfall eines NATO-Killerkommandos, vermutlich einer US-amerikanischen Spezialeinheit, erschossen worden. Nach Augenzeugenberichten waren die Soldaten mit vier Hubschraubern gelandet und hatten ein Haus gestürmt. NATO-Sprecher behaupteten am Mittwoch, der Angriff habe einem Mitglied der Islamischen Bewegung Usbekistans gegolten. Die vier getöteten Hausbewohner – zwei Frauen und zwei Männer – seien bewaffnet gewesen. Eine der Frauen habe ein Kalaschnikow-Sturmgewehr auf die Angreifer gerichtet, die andere habe drohende Bewegungen mit einer Pistole gemacht. Nach Ansicht der örtlichen Bevölkerung sind die vier Menschen jedoch grundlos und unrechtmäßig getötet worden. In diesem Sinn äußerten sich auch der Provinzgouverneur und sogar Präsident Hamid Karsai.

Sowohl der Gouverneur als auch sein Polizeichef protestierten dagegen, daß der Überfall ohne ihr Wissen im Alleingang der NATO erfolgt sei. Dagegen behaupten deren Sprecher, der Angriff sei von einer »gemischten« Einheit durchgeführt worden, zu der auch Afghanen gehört hätten. Tatsächlich stehen schon seit einigen Jahren afghanische Söldner und ganze Truppenteile im Dienst der Besatzer, die von diesen bezahlt werden und unter ihrem Befehl operieren.

Vor dem Hintergrund des Überfalls und der folgenden blutigen Unterdrückung der Proteste in Talokan verbreitet die NATO, daß die Zahl getöteter Zivilisten in den vergangenen Jahren stark zurückgegangen sei. Dagegen spricht jedoch die blutige Bilanz der letzten Tage. Erst am Montag erschossen Soldaten der westlichen Allianz ein zehnjähriges Mädchen in der Provinz Kunar. Vier andere Kinder wurden bei dem Zwischenfall verletzt. Am Sonnabend töteten Besatzungstruppen in der Provinz Nangarhar »versehentlich« einen Fünfzehnjährigen. Bei dem folgenden Protest wurde ein Demonstrant erschossen, fünf weitere erlitten Verletzungen. Ebenfalls in Nangarhar starben am Mittwoch voriger Woche eine Jugendliche und ein afghanischer Polizist, als eine NATO-Spezialeinheit ein Haus überfiel.

* Aus: junge Welt, 19. Mai 2011


Reaktion auf »Night Raids«

US-Geheimtaktik ausgehebelt / Bundeswehr fährt »Biber« auf

Von René Heilig **


In Afghanistan werden Vorbereitungen für die Nach-ISAF-Zeit getroffen. Beide Seiten entwickeln neue taktische Varianten des Krieges. In den vergangenen zwei Tagen prallten sie in der Stadt Talokan aufeinander. Es wurden zwölf Menschen getötet und über 50 – darunter drei deutsche Soldaten – verletzt.

Was in Irak geklappt hat, sollte doch auch in Afghanistan realen und politischen Geländegewinn bringen, dachte US-General David Petraeus und blies alle groß angelegten Militäroperationen ab. Statt weiter zu nutzlosen »Feldschlachten« gegen einen partisanenhaft ausweichenden Taliban-Gegner anzutreten, will Petraeus die Führer des Aufstandes »ausschalten«. Im Süden des Landes und jenseits der Grenze in Pakistan setzen die USA vor allem raketenbestückte Drohnen ein. Im Nordbereich Afghanistans, der formal von der Bundeswehr »regiert« wird, fallen nächtens kleine Kommandoeinheiten in vermutete Quartiere von Taliban-Kommandeuren ein. Bei diesen »Night Raids« werden die Überraschten zumeist liquidiert, das heißt – so wie Bin Laden – ohne viel Federlesens umgebracht.

Doch die vorangehende Aufklärung ist zumeist unzureichend. Unter anderem deshalb, weil die ISAF-Kommandeure nur wenig von regionalen und Stammesproblemen verstehen. Sie müssen sich auf afghanische »Späher« verlassen und räumen so – in der Hoffnung, große Taliban-Führer zu treffen – nur allzu oft Konkurrenten und Widersacher ihrer Zuträger aus dem Weg.

Es gibt für alles Statistiker. Eine interne Statistik der NATO besagt, dass pro »Night Raid« drei vermeintliche Aufständische umgebracht werden. Und ebenso viele unschuldige Zivilisten. Man kann rätseln, ob das in Talokan – wo deutsche Soldaten »ausbaden« mussten, was ihre US-Verbündeten angerichtet hatten – auch so war.

Talokan liegt zwischen Kundus und Faisabad, wo die Bundeswehr große Stützpunkte unterhält. Die Tausenden Demonstranten, die gegen den mit 44 Bundeswehrsoldaten und einigen afghanischen »Kameraden« bemannten Stützpunkt des Provincial Advisory Team »Taloqan 2« anrannten, sind davon überzeugt.

Oder davon überzeugt worden. Die Aufständischen haben gelernt, die Kommandoaktionen der ISAF propagandistisch zu nutzen. Während vor allem die US-Truppen im Geheimen operieren, schaffen die Aufständischen medienwirksame Bilder. Die sind – wie man weiß – eine effektive Waffe. Vor allem in der islamischen Welt.

Während also die Demonstranten der NATO vorwarfen, vier Zivilisten getötet zu haben – zwei Männer und zwei Frauen – und deren Leichen durch die Straßen der Stadt trugen, hatte die NATO nicht den Hauch eines Beweises zu bieten, dass sie wirklich vier Aktivisten der im Norden höchst einflussreichen Islamischen Bewegung von Usbekistan getötet und zwei weitere festgenommen hat. Die Beteuerung des ISAF-Sprechers, man habe darauf geachtet, dass keine Zivilisten zu Schaden kommen, wird als Verhöhnung wahrgenommen. Nicht einmal Gouverneur Abdul Dschabar Takwa ergreift die ISAF-Partei. Er sei über den nächtlichen Angriff nicht informiert worden.

Bei den geheimen US-Aktionen stets dabei sind afghanische »Azubis«. Sie übernehmen die Kampftaktik ihrer Ausbilder. Nicht nur die am Hindukusch verwurzelte Hilfsorganisation Oxfam beschreibt eine massive Zunahme von Menschenrechtsverletzungen durch die afghanische Polizei und Armee. Die Angehörigen der Streitkräfte sind zumeist Analphabeten oder Mitglieder von kriminellen Banden, denen man in der kurzen Ausbildungszeit von wenigen Wochen keine demokratischen Grundregeln beibringen kann. Gewalt gegen Zivilisten ist an der Tagesordnung. Im Gefängnis auf der US-Basis Baghram hat sich die Anzahl der Gefangenen seit 2008 verdreifacht, sagt die Organisation Human Right First. 98 Prozent der Gefangenen klagen über Misshandlungen.

Dieser Tage ist ein Brückenlegepanzer der Bundeswehr im nördlichen Distrikt Imam Sahib eingetroffen. Offiziell um Bauern der Region wieder den Handel nach Süden zu ermöglichen. Abgesehen davon, dass der »Bieber« natürlich dazu dient, den ISAF-Nachschub über die afghanisch-tadshikische Grenze am Rollen zu halten, mutmaßen Experten, dass er Vorbote von »Leoparden« ist.

Die Bundeswehrmilitärs vor Ort verlangen schon seit Langem nach dieser »Abschreckungswaffe«. Die Bundeswehrführung hat die Eskalation durch die Entsendung von Kampfpanzern bislang mit dem Argument abgelehnt, die Brücken in Afghanistan würden das Gewicht von Tanks nicht aushalten. Der »Biber« könnte das Problem des »Leoparden« beheben.

** Aus: Neues Deutschland, 20. Mai 2011


Zurück zur Afghanistan-Seite

Zur Bundeswehr-Seite

Zurück zur Homepage