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Tote sind Verschlußsache

Von Rüdiger Göbel *

Die Zahl der Kriegstoten in Afghanistan gilt offensichtlich als geheime Verschlußsache. Wie die britische Zeitung The Sun am Mittwoch (4. Feb.) berichtete, wurde am Hindukusch ein Offizier Ihrer Majestät wegen mutmaßlichen Verstoßes gegen das Dienstgeheimnis festgenommen. Das »Verbrechen« des Briten Owen McNally: Er soll vertrauliche Informationen über die Zahl der von NATO-Truppen getöteten Zivilisten in Afghanistan weitergegeben haben – nicht an die Taliban, sondern an eine befreundete Mitarbeiterin einer Menschenrechtsorganisation. Der Mann wurde inzwischen nach Großbritannien ausgeflogen und wird dort von Scottland Yard verhört. Bei einer Verurteilung drohen dem 48jährigen bis zu 14 Jahre Haft.

Laut Sun hatte McNally Zugang zu detaillierten Informationen über die Zahl der getöteten Zivilisten. Das Boulevardblatt sprach von »mehr als 1000 unschuldigen Afghanen« jährlich seit 2001, die bei den Kämpfen zwischen Taliban und den US-geführten Truppen gestorben seien. Menschenrechtsaktivisten gingen von noch höheren Zahlen aus. Die Vermutung, daß ein britischer Offizier verantwortlich sei für ein »Leck« in ihrem Hauptquartier, mache die »Yankees« verrückt, schrieb das Blatt weiter. US-Generäle in der afghanischen Hauptstadt Kabul »kochen« vor Wut – wohlgemerkt, nicht ob der Toten, sondern wegen des »Verrats«.

Der von Washington und den ­NATO-Truppen gestützte afghanische Präsident Hamid Karsai hatte in den vergangenen Monaten wiederholt die rücksichtslose Kriegsführung kritisiert. Am Mittwoch warf er dem Westen vor, er übe Druck auf ihn aus, damit er die Frage der getöteten Zivilisten nicht mehr anspreche. »Sie drängen uns, um uns zum Schweigen zu bringen, damit wir von unseren Forderungen Abstand nehmen«, erklärte Karsai auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit UN-Generalsekretär Ban Ki Moon in Kabul. Der Chef der Vereinten Nationen war zu einem Kurzbesuch in die afghanische Hauptstadt gekommen und kritisierte seinerseits die hohe Zahl der toten Zivilisten. Die ­NATO-Truppen müßten mehr Rücksicht auf die Afghanen nehmen. Es habe »viele tragische Zwischenfälle« gegeben, beklagte Ban. So waren im August 2008 bei einem Luftangriff auf den Ort Asisabad im Westen Afghanistans 90 Zivilisten getötet worden. Die US-Armee dementierte dies zunächst und räumte später 33 Tote ein. Im Novemer kamen rund 40 Mitglieder einer Hochzeitsgesellschaft in Kandahar ums Leben, Anfang Januar 17 Zivilisten bei US-Angriffen in der Provinz Laghman.

Nach Angaben der Nachrichtenagentur AP sind im vergangenen Jahr 71 in Europa stationierte Soldaten der US Army desertiert, weil sie die Kriegsführung in Afghanistan und im Irak für falsch halten. Der 30jährige André Shepherd beantragte in Deutschland Asyl. Sein Einsatz als US-Soldat im Irak brachte ihn zum Entschluß, daß er sich nicht weiter an einem völkerrechtswidrigen Krieg und an völkerrechtswidrigen Handlungen beteiligen kann. Bei einer ersten Anhörung in Karlsruhe legte er am Mittwoch dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge seine Beweggründe dar. Am kommenden Samstag wird der US-Deserteur mit dem Friedenspreis des »Munich American Peace Committee« ausgezeichnet. Die Ehrung erfolgt im Rahmen der Proteste gegen die NATO-Sicherheitskonferenz in München. Der frühere US-Soldat werde ausgezeichnet, »weil er mutig und überzeugt die Kriege in Irak und Afghanistan verweigert, trotz der drohenden Strafverfolgung«, heißt es in der Begründung.

* Aus: junge Welt, 5. Februar 2009


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