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Nichts ist gut in Afghanistan

Erneut Bundeswehrsoldat getötet / De Maiziere hält auf Kirchentag in Dresden am Einsatz fest *

Bei einem neuerlichen Sprengstoffanschlag auf die Bundeswehr in Nordafghanistan ist am Donnerstag (2. Juni) ein deutscher Soldat getötet worden. Damit wurden innerhalb von knapp zehn Tagen vier deutsche Soldaten am Hindukusch getötet.

Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) hält ungeachtet der jüngsten tödlichen Anschläge auf Bundeswehrsoldaten in Afghanistan an dem Einsatz fest. »Vor Gewalt darf man nicht weichen. Wenn wir jetzt gingen, würden das Vertrauen und das Selbstvertrauen der Afghanen erst recht erschüttert«, sagte der Minister am Donnerstag am Rande des evangelischen Kirchentages in Dresden: »Die Taliban hätten dann leichtes Spiel.« Die deutschen Soldaten würden weiter auf Patrouille gehen, kündigte er an. »Wir wollen Sicherheit und Entwicklung, nicht Terror und Unterdrückung.«

Am Morgen war bei einem Anschlag 36 Kilometer südlich von Kundus ein deutscher Soldat getötet worden, fünf weitere wurden verletzt, zwei davon schwer. Einer der Verwundeten befindet sich nach Angaben des Ministers in einem kritischen Zustand. Die Soldaten wurden Opfer eines Sprengstoffanschlages, als sie mit einem Schützenpanzer »Marder« an einer Straße nach Sprengfallen suchten. Erst am Mittwoch und Sonnabend vergangener Woche waren insgesamt drei deutsche Soldaten in Afghanistan getötet worden. Für sie ist eine zentrale Trauerfeier am heutigen Freitag (3. Juni) in Hannover geplant.

De Maizière verteidigte die deutsche Strategie ungeachtet dessen als richtig. Allerdings müsse die politische Entwicklung in dem Land stärker vorangetrieben werden. »Die Menschen in Afghanistan brauchen unsere Unterstützung«, sagt der CDU-Politiker, der als Referent auf dem Protestantentreffen in Dresden auftritt und dem Präsidium des Kirchentages angehört.

Unter dem Eindruck des tödlichen Anschlags auf deutsche Soldaten in Afghanistan hat der evangelische Kirchentag am Donnerstag in Dresden intensiv über den Umbau der Bundeswehr und die Grenzen militärischen Eingreifens im Ausland diskutiert. Ungewöhnlich scharf kritisierte der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider, die Reformpläne von Thomas de Maizière. »Wir dürfen die Bundeswehr nicht zum Instrument einer Kanonenbootpolitik in neuer Form machen«, warnte der rheinische Präses in Anlehnung an einen historischen Begriff aus der Kolonialzeit im 19. Jahrhundert. Schon vor 18 Monaten hatte Schneiders Vorgängerin Margot Käßmann in Dresden bei ihrer Neujahrsansprache festgestellt: »Nichts ist gut in Afghanistan.«

Seit Beginn des Bundeswehr-Einsatzes im Rahmen der NATO-Truppe ISAF Anfang 2002 starben bei Anschlägen und Gefechten in Afghanistan 34 deutsche Soldaten. Derzeit sind rund 5000 deutsche Soldaten am Hindukusch stationiert.

Aber nicht nur in Afghanistan eskaliert die Gewalt zusehends. Im Nachbarland Pakistan starben mindestens 34 Menschen bei einem Angriff hunderter Taliban auf einen Kontrollposten der pakistanischen Polizei. 500 schwer bewaffnete pakistanische und afghanische Taliban-Kämpfer hätten den Posten nahe der afghanischen Grenze am Mittwochmorgen gestürmt, sagte der ranghohe Polizeibeamte Qazi Jamil ur-Rehman am Donnerstag. Bei den Todesopfern handelte es sich demnach um 28 Polizisten und sechs Zivilisten.

Der Angriff ereignete sich an einem Kontrollposten in Shaltalu im Bezirk Upper Dir, sechs Kilometer von der afghanischen Grenze entfernt. Die Armee schickte laut Rehman Soldaten und Kampfhubschrauber, um die Sicherheitskräfte zu unterstützen. Die Kämpfe dauerten am Donnerstag an.

* Aus: Neues Deutschland, 3. Juni 2011


"Wir weichen nicht"

Von Rüdiger Göbel **

Wieder ist in Afghanistan ein Soldat der Bundeswehr getötet worden. Fünf weitere deutsche Soldaten wurden bei dem Angriff südlich von Kundus in der Provinz Baghlan verletzt, zwei von ihnen schwer. Das teilte das Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Potsdam am Donnerstag (2. Juni) mit. Damit wurden innerhalb von knapp zehn Tagen vier deutsche Soldaten am Hindukusch getötet und ein Dutzend weitere verletzt. »Die Häufung der Anschläge sorgt uns«, erklärte Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière auf dem Evangelischen Kirchentag in Dresden. Ansonsten gab der CDU-Politiker Durchhalteparolen aus. »Wir werden in unserem Engagement nicht nachlassen.« Und als Tageslosung: »Vor Gewalt darf man nicht weichen.«

Den vertraulichen Berichten des Bundesverteidigungsministeriums zufolge gibt es mittlerweile täglich etwa 100 Angriffe auf die NATO-geführten Truppen in Afghanistan, die meisten davon im schwer umkämpften Südosten und Osten des Landes. Das geht aus den wöchtlichen Berichten »Unterrichtung des Parlaments« des vergangenen Monats hervor, die junge Welt vorliegen.

Der jüngste Angriff mit einem selbstgebauten Sprengsatz auf einen mit sechs Bundeswehrsoldaten besetzten Schützenpanzer »Marder« erfolgte Militärangaben zufolge am Donnerstag um 9.54 Uhr Ortszeit (7.24 Uhr MESZ). Die Soldaten der Panzerbrigade 21 »Lipperland« gehörten zu einer Einheit, die im Rahmen des »Partnering«-Programms mit afghanischen Kräften im Einsatz war. Am Donnerstag morgen sollten sie an einer Verbindungsstraße nach Sprengfallen suchen, um die Straße »für eigene Bewegungen zu öffnen«.

Die Verletzten wurden von der US-Armee mit Rettungshubschraubern geborgen und in die Bundeswehrfeldlager Kundus und Masar-i-Scharif gebracht. Am vergangenen Samstag waren in Talokan, der Hauptstadt der Provinz Tachar im Nordosten Afghanistans, zwei Bundeswehrsoldaten getötet und sechs weitere verletzt worden. Unter den Verletzten war auch der Kommandeur des Regionalkommandos Nord der NATO-Truppe ISAF, General Markus Kneip. Am Mittwoch zuvor war ein Bundeswehrsoldat bei einem Sprengstoffanschlag in der Provinz Kundus ums Leben gekommen. Die Bundeswehr will am heutigen Freitag in Hannover in einer öffentlichen Zeremonie von den am 25. und 28. Mai Getöteten Abschied nehmen.

Im April und Mai hatte die NATO die bisher größten eigenen Verluste. Nach Angaben der Internetseite ­icasualties.org starben in den beiden Monaten 110 NATO-Soldaten – 51 im April und 59 im Mai – und damit mehr als jemals zuvor in den beiden Monaten seit Kriegsbeginn vor knapp zehn Jahren. Im April und Mai vergangenen Jahres waren insgesamt 85 NATO-Soldaten getötet worden, im gesamten Jahr 711.

Die den Afghanistan-Krieg unterstützenden Parteien im Bundestag reagierten routiniert auf die Todesnachricht vom Donnerstag. Die Fraktionschefs der Grünen, Renate Künast und Jürgen Trittin, erklärten den Angehörigen des Getöteten: »In diesen Tagen bekommen wir besonders schmerzlich vor Augen geführt, mit welchem hohen Einsatz sich unsere Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan engagieren.« Der verteidigungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Ernst-Reinhard Beck, verurteilte den »heimtückischen Anschlag«. FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle und die wehrpolitische Sprecherin der Liberalen, Elke Hoff, erklärten, es müsse nun »alles Menschenmögliche« getan werden, um den Schutz der Soldaten vor Sprengfallen zu verstärken.

An der afghanisch-pakistanischen Grenze demonstrierten die Aufständischen ihre Fähigkeit zu großangelegten Operationen. Berichten zufolge haben 500 schwerbewaffnete Taliban-Kämpfer einen Kontrollposten gestürmt. Bei stundenlangen Gefechten wurden mindestens 34 Menschen getötet.

** Aus: junge Welt, 3. Juni 2011


Desaströse Bilanz

Von Martin Ling ***

»Nichts ist gut in Afghanistan.« Pünktlich zum Kirchentag wird der vor 18 Monaten heftig diskutierte und vielerseits kritisierte Satz der damaligen EKD-Ratsvorsitzenden Margot Käßmann wieder einmal durch Fakten unterstrichen: vier tote deutsche Soldaten in zehn Tagen nebst ungezählten Afghanen, darunter wie immer Zivilisten.

Auch zehn Jahre nach Kriegsbeginn ist nichts von einer Befriedung zu sehen. Einer konservativen Berechnung der AG Friedensforschung an der Uni Kassel zufolge kamen von 2001 bis April 2010 mindestens 60 000 Menschen im Afghanistankrieg ums Leben; darunter mindestens 20 000 Zivilisten.

Bis heute mangelt es an einer Befriedungsstrategie. Die ist sicher leichter gefordert als verwirklicht. Doch dass die Herzen der Afghanen nicht durch die Unterstützung berüchtigter Warlords und der Korruption höchst verdächtiger Politiker sowie Militärschläge mit jeder Menge Kollateralschäden gewonnen werden können, müsste allen Strategen im Weißen Haus, im Pentagon wie auch bei den Verbündeten in Paris, Berlin usw. klar sein.

So wenig wie es ein Befriedungskonzept gibt, so wenig gibt es ein schlüssiges Ausstiegskonzept. Stattdessen wird ohne Rücksicht auf Verluste weitergewurschtelt. Ein Kurswechsel ist nicht in Sicht. So wird das Töten ohne Friedensaussicht weitergehen. Bilanz und Perspektive sind gleichermaßen desaströs.

*** Aus: Neues Deutschland, 3. Juni 2011 (Kommentar)


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