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Die Lehren von Isa Khel - ein Jahr nach den schweren Gefechten am Karfreitag

Eine Beitrag von Franz Feyder in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *


Andreas Flocken (Moderation):
Für die Bundeswehr war der Karfreitag im vergangenen Jahr ein schwarzer Tag. In Afghanistan starben in stundenlangen Gefechten drei Bundeswehr-Soldaten, mehrere wurden schwer verwundet. Außerdem wurden von den Deutschen irrtümlich sechs afghanische Soldaten erschossen. Die Gefechte am Karfreitag sind für die Bundeswehr am Hindukusch eine Zäsur. Deutlich wurden die Schwachpunkte und Defizite des Einsatzes. Was sind die Lehren der Ereignisse vom 2. April 2010? Franz Feyder hat mit damals beteiligten Soldaten gesprochen:


Manuskript Franz Feyder

Hinterhalte durch Taliban, versteckte Sprengladungen, Selbstmordattentäter – mit nahezu allem hatten die Fallschirmjäger gerechnet. Am Karfreitag vergan-genen Jahres zurrten sie am frühen Morgen ihre Helme fest und verließen die Polizeistation im afghanischen Distrikt Charhar Darreh, um Pioniere zu sichern, die Sprengfallen aufspüren sollten. 400 Schuss Munition hatten sie in ihren Taschen verpackt. Dass am Ende des Tages davon keine einzige Patrone mehr übrig sein würde, überrascht die Soldaten aus dem niedersächsischen Seedorf heute noch. Sie wollen nicht erkannt werden. Deshalb haben wir ihre Aussagen nachgesprochen. Wie die eines Mannschaftsdienstgrades:

O-Ton Soldat 1
„Du denkst morgens an alles: Was kann passieren? An heiße Duschen. An die Familie. An die Insurgents. Du checkst noch einmal alles, prüfst die Ausrüstung und vor allem die Waffe. Aber dass die Munition nicht ausreicht, daran denkst du nicht.“

Warum auch. An diesem Apriltag hatten die Soldaten im Dörfchen Isa Khel nichts Verdächtiges bemerkt. Einige hatten sogar mit Kindern geschäkert. Ir-gendwann um die Mittagszeit herum wollen sie das Dorf verlassen – der Auf-trag ist erledigt. Doch plötzlich kommt für die Fallschirmjäger doch alles ganz anders:

Von drei Seiten schießen Aufständische auf die Bundeswehrsoldaten. Kesseln sie ein. Schneiden ihnen den Rückweg ab. Stundenlang hatten die Rebellen die Soldaten beobachtet. Taliban-Kommandeur Qari Zabihullah berichtet Wochen später, man sei über jeden Schritt der Deutschen informiert gewesen. Zusammen mit ausländischen Kämpfern habe man einen Plan geschmiedet und sich auf den Weg nach Isa Khel gemacht. Gerade als die deutschen Infanteristen abrücken wollten, seien die Taliban-Kämpfer und ihre ausländischen Verbündeten eingetroffen – und hätten sofort zugeschlagen. Bis zum späten Abend tobt der Kampf, der drei Bundeswehrsoldaten das Leben kostete, acht zum Teil schwer verletzte. Schon nach wenigen Stunden haben die Fallschirmjäger ihre Munition ver-schossen. Nachschub wird nicht herangebracht – gepanzerte Munitionstrans-porter hat die Bundeswehr nicht. Hubschrauber können die dringend benötig-ten Patronen ebenfalls nicht bringen – die veralteten Modelle der Bundeswehr sind nicht gepanzert. Die deutschen Verwundeten werden von amerikanischen Sanitätern mit ihren Helikoptern aus der Kampfzone gebracht.

Für den Einsatz am Hindukusch hat sich das neue Gewehr G 36 der Bundes-wehr als untauglich erwiesen. Einer der am Gefecht beteiligten Soldaten:

O-Ton Soldat 2
„Mit dem G 36 erzielst du keine Wirkung im Ziel. Die Kugeln durchschlagen die Lehmmauern nicht, die um die Häuser herum gebaut sind. Da kann man höchstens mit Dauerfeuer die Taliban in Deckung zwingen, die sich dahinter verschanzt haben. Die Kugeln werden von kleinsten Ästen abgelenkt. Und wenn die Insurgents mehr als 250 Meter entfernt sind, kannst du mit dem G 36 sowieso nichts mehr machen.“

Erkenntnisse, die für die Führung der Bundeswehr nicht neu waren: Bereits im September 2009 hatten aus Afghanistan zurückgekehrte Soldaten berichtet, dass sich die Aufständischen zunehmend auf die Schwächen der NATO-Waffen mit dem Kaliber 5,56 verließen. Zwei Monate später wurden deutsche Soldaten in Afghanistan wieder mit dem alten G 3-Gewehr mit dem Kaliber 7,62 ausgerüstet. Jenem Sturmgewehr, das die Streitkräfte in den 90er Jahren nach vier Jahrzehnten ausgemustert hatten. Eilig hatte man in Deutschland die alten Gewehre in Depots zusammengesucht. In Afghanistan fingerten die Soldaten die Munition aus den Patronengurten der Maschinengewehre.

O-Ton Soldat 3
„Heute kommt mir das so vor wie in den Berichten alter Kreta-Kämpfer: Eingeschlossen. Ohne Munition. Ohne Nachschub. Mit dem Rücken zur Wand. Überall lauert der Feind, über den du nichts weißt. Als würden zwischen den Gefechten keine 59 Jahre liegen.“

Es ist nicht der einzige Mangel, der das Gefecht um Isa Khel mit bestimmt hat. Ebenfalls im September 2009 hatten die Panzergrenadiere bei der Bundeswehrführung Alarm geschlagen. Sie hatten festgestellt, dass die Sprengbrandmunition der Bordmaschinenkanonen ihrer Schützenpanzer Marder nichts gegen verschanzte Taliban ausgerichtet hat. Dazu bedarf es panzerbrechender Munition. Das Problem: In den von der Industrie hergestellten Munitionsgurten sind jedoch jeweils drei Patronen Sprengbrandmunition und nur eine Patrone panzerbrechende Munition aneinandergereiht. Die Folge: Die Kommandanten der Marder-Schützenpanzer können selbst mit hohem Munitionsaufwand die Aufständischen allenfalls in Deckung oder zum Stellungswechsel zwingen. Deshalb fordert einer der Karfreitags-Kämpfer wütend:

O-Ton Soldat 3
„Was hier fehlt ist der Leopard. Und ich verstehe nicht, warum der hier nicht eingesetzt wird. Die Amerikaner, die Kanadier, die Briten – alle haben sie hier Kampfpanzer runter geschafft. Da reicht ein Schuss mit dem Leo, und da ist eine Lücke in den Mauern. Und was machen wir? Wir klopfen da ein bisschen an. Da lachen sich die Taliban schlapp.“

Abhilfe soll in solchen Fällen die Panzerabwehrlenkrakete Milan schaffen – von denen sind jedoch nur vier Lenkflugkörper in den Schützenpanzern vorhanden. Zudem sind die Kosten mit etwa 11.000 Euro pro Schuss ausgesprochen hoch. Im Gegensatz dazu haben besonders die Kanadier in Afghanistan sehr gute Erfahrungen mit dem deutschen Leopard-Kampfpanzer gemacht. Gerade in Situationen, in denen aus großer Entfernung Ortschaften überwacht werden müssen, um der Infanterie notfalls Feuerschutz zu geben.

Wie in Isa Khel am Karfreitag vergangenen Jahres. Dort wurde die Bundeswehr zudem davon überrascht, dass ausländische Kämpfer über modernste Waffen verfügten: neue Panzerfäuste, Aerosolgranaten, die dem Gegner nach der Explosion die Lunge zerreißen. Bundeswehrobere sprachen nach einer ersten Auswertung der Karfreitags-Gefechte am Hindukusch schnell von einer „neuen Qualität der Bedrohung“.

Dabei war auch diese Erkenntnis nicht grundsätzlich neu. Bereits ein Jahr vor den Kämpfen um Isa Khel hatten islamistische Kämpfer unter usbekischer Führung im Raum Kunduz bei Ihren Hinterhalten moderne Waffen eingesetzt. Aus Sicht der Taliban sind die Usbeken Garanten dafür, dass sich die Bundeswehr immer stärker in ihre Lager zurückzieht und so den Kontakt zur Bevölkerung verliert. Nicht wenige Fallschirmjäger aus Seedorf glauben, sie hätten die schwerwiegenden Folgen dieser Isolation vor einem Jahr blutig bezahlt. Einer von ihnen sagt, was offenbar viele denken:

O-Ton Soldat 2:
„So wirklich wissen wir auch heute nicht, was in der Region passiert. Wir haben keine Ohren am Feind. Das ist anders als damals in Bosnien und im Kosovo. Unsere Drohnen sollen angeblich damals den Aufmarsch der Insurgents beobachtet haben. Wir haben davon nix mitbekommen. Sarkastisch kann ich mich heute fragen, ob das denn auch was genützt hätte.“

Zwar donnerten während des Gefechts am Karfreitag amerikanische Kampfjets mehrfach über die Köpfe der Taliban. Bomben warfen sie jedoch nicht. Zu groß war die Angst, in der unübersichtlichen Lage die eigene Truppe oder die Zivilbevölkerung zu treffen.

Kampfhubschrauber, die den Fallschirmjägern damals hätten Entlastung bringen können, sind bis heute für die Truppe nicht verfügbar. Obwohl die französische Armee bereits den von Deutschland und Frankreich entwickelten Tiger-Helikopter erfolgreich in Afghanistan einsetzt. So reagiert die Bundeswehrführung auf ihre eigene Weise. Sie sammelt die Erfahrungen der in Afghanistan eingesetzten Soldaten in einem Büchlein. „Aus dem Einsatz lernen“, heißt die Broschüre, in der den Soldaten Tipps und Tricks gegeben werden, die ihren Einsatz am Hindukusch sicherer machen sollen. Vierteljährlich erscheinen die Erfahrungsberichte. Die erste Ausgabe wurde am 1. April 2010 verteilt – einen Tag vor dem einschneidenden Gefecht bei Isa Khel.

* Aus: NDR-Sendereihe Streitkräfte und Strategien, 23. April 2011; www.ndrinfo.de

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