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Bundeswehr flieht aus Talokan

Deutsches Camp in Nordafghanistan wegen Unruhen geräumt / Weitere Todesopfer

Von Ingolf Bossenz *

Mit der Verbrennung von Koran-Ausgaben entzündete die US-Armee in Afghanistan eine Lunte, die in dem Land eine neue Explosion der Gewalt auslöste. Auch der Bundeswehr wird der Boden mittlerweile zu heiß.

Zwar sollte das Camp Talokan im Norden Afghanistans im nächsten Monat ohnehin dichtgemacht werden. Dennoch hat der Entschluss der Bundeswehr, die Basis bereits jetzt zu verlassen, etwas von einer überstürzten Flucht an sich. Als die gewalttätigen Proteste gegen die Koranverbrennung durch US-Truppen am Freitag den vierten Tag in Folge andauerten, verließen die deutschen Soldaten mit kompletter Mannschaft das Lager. Die etwa 50 Uniformierten brachten sich mitsamt Waffen, Munition und fahrbarem Gerät in Sicherheit. Den Befehl zum Abzug in das 70 Kilometer entfernte Feldlager Kundus hatte der Kommandeur der Nordregion, General Markus Kneip, erteilt, der ein Übergreifen der Unruhen auf den mitten in der 200 000-Einwohner-Stadt Talokan gelegenen Stützpunkt befürchtete.

Angesichts von mehreren Hundert erzürnten Demonstranten, die sich vor dem Camp versammelten, zog die Truppe den sofortigen Rückzug vor. Eine bewaffnete Reaktion auf die Attacken mit Brandsätzen und Handgranaten, bei denen zwei Bundeswehrsoldaten und vier afghanische Wachleute verletzt wurden, hätte die Lage zweifellos unberechenbar eskalieren lassen.

Ob die Menge sich durch die verbliebenen Wachen der afghanischen Armee von einer Erstürmung des Lagers und des dort verbliebenen Materials abhalten lassen wird, war am Freitag indes mehr als fraglich. Das zeigte auch der Angriff von Gewalttätern auf ein ungarisch geführtes Feldlager in der nordafghanischen Provinz Baghlan - ein Bereich, der gleichfalls in die Verantwortungszone der Bundeswehr fällt. Bei der Abwehr durch afghanische Sicherheitskräfte kam einer der Angreifer ums Leben. Elf Menschen wurden bei der Konfrontation in der Provinzhauptstadt Pul-i-Chumri verletzt, darunter vier Polizisten und vier Soldaten. Wie es hieß, hatten sich über 1000 Demonstranten vor dem ungarischen Wiederaufbauteam geschart. Etlichen gelang es, hinter die Stacheldraht-Absperrung des Feldlagers vorzustoßen.

Von der Empörungswelle ist auch der Westen Afghanistans erfasst, wo in der Stadt Herat drei Demonstranten und ein Soldat bei Ausschreitungen ums Leben kamen. Dort war das Ziel gewaltsamer Attacken das örtliche US-Konsulat. Insgesamt gab es am Freitag (24. Feb.) neun Tote.

Mit welchem Ernst die US-Regierung den neuerlichen skandalösen Vorfall durch ihre Besatzer am Hindukusch betrachtet, hatte Präsident Barack Obama deutlich gemacht, der am Donnerstag (Ortszeit) in Washington öffentlich sein »tiefes Bedauern« geäußert hatte. In einem Schreiben an Afghanistans Präsident Hamid Karsai hatte er versichert, die Koran-Ausgaben seien »versehentlich« verbrannt worden und man werde die »erforderlichen Schritte« unternehmen, um einen Wiederholungsfall zu verhindern sowie die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Eine Beschwichtigungsgeste, die allerdings die aufgebrachten Muslime kaum erreichen dürfte.

Wird doch bereits der geringste Anlass zum Auslöser von Gewaltexzessen, mit denen viele Afghanen dem Unmut über Besatzung, Demütigung und Missachtung von Menschenrechten Luft machen. Vor allem die Taliban nutzen die von den ausländischen Militärs immer wieder gelieferten Gelegenheiten, sich als Verteidiger afghanisch-muslimischer Kultur zu gerieren. Auch diesmal riefen sie die Bevölkerung auf, Ausländer zu töten, um die Schändung des Korans zu rächen.

* Aus: neues deutschland, 25. Februar 2012


Afghanischer Frühling

Von Knut Mellenthin **

Die Demonstrationen in Afghanistan, die am Dienstag (21. Feb.) begannen, dauerten auch am Freitag (24. Feb. an und erfaßten weitere Städte und Provinzen. Die Bundeswehr räumte vorzeitig einen Außenposten in ihrem nordostafghanischen Zuständigkeitsbereich. Die Proteste waren dadurch ausgelöst worden, daß afghanische Arbeiter halbverkohlte Exemplare des Koran und anderer religiöser Schriften in der Müllverbrennungsanlage des US-Stützpunkts Bagram entdeckt hatten. Die USA unterhalten dort ein Gefängnis, in dem Hunderte Afghanen eingesperrt sind, die bei der Aufstandsbekämpfung festgenommen wurden.

Demonstrationen, zum Teil mit mehreren tausend Teilnehmern wurden am Freitag (24. Feb.) unter anderem aus Herat, Dschalalabad, Nangarhar, Gardes in der Provinz Paktia, Kunar und Khost gemeldet. In der Hauptstadt Kabul gab es mindestens fünf verschiedene Protestzüge. Zu den Zielen gehörten das NATO-Hauptquartier, der Regierungssitz von Präsident Hamid Karsai, die US-Botschaft und ein großes Ausbildungszentrum der Streitkräfte. Der Oberbefehlshaber der NATO-Truppen in Afghanistan, US-General John Allen, rief die Bevölkerung zu »Geduld und Zurückhaltung« auf.

Die Proteste hatten sich am Donnerstag (23. Feb.) auch auf die Besatzungszone der Bundeswehr ausgeweitet. Eine der Demonstrationen fand vor einem Stützpunkt des norwegischen Kontingents statt, eine andere am deutschen Militärlager in der Stadt Talokan. Die Bundeswehr entschloß sich daraufhin zur Aufgabe des Außenpostens, die eigentlich erst für März geplant war, und verlegte die dort stationierten 50 Soldaten nach Kundus.

In Talokan waren im Mai vorigen Jahres bei einer Demonstration mindestens zehn Menschen getötet worden, als einheimische Wachleute und Polizisten, aber mutmaßlich auch deutsche Soldaten in die Menge schossen. Welt und Stern leisteten online sofort propagandistischen Flankenschutz, indem sie die Demonstranten als »Mob« titulierten. Die Proteste hatten sich damals aus einem Trauerzug für vier Bewohner entwickelt, die bei einem nächtlichen Überfall eines NATO-Killerkommandos ermordet worden waren.

Auch bei den Demonstrationen gegen die Koran-Verbrennung, die am Dienstag (21. Feb.) begannen, sind zahlreiche Menschen durch Schüsse der Sicherheitskräfte getötet oder verletzt worden, so auch am Freitag in Herat. Die genauen Zahlen sind nicht bekannt. Außerdem wurden am Donnerstag zwei Angehörige der US-Streitkräfte durch einen uniformierten afghanischen Soldaten erschossen. Reporter der Washington Post berichteten am selben Tag, daß viele der gegen die Proteste eingesetzten einheimischen Polizisten die Wut der Demonstranten über den Vorfall in Bagram und allgemeiner über das Verhalten der NATO-Besatzungstruppen teilen. Die Journalisten gewannen diese Eindrücke bei Gesprächen mit Polizisten an vier verschiedenen Einsatzpunkten in Kabul.

Indessen übte der US-Sender Fox News, der den Neokonservativen nahesteht, Kritik an den Entschuldigungen US-amerikanischer Politiker und Militärs für die Koran-Verbrennung, da dadurch nur die Position der Taliban gestärkt werde. In einem Kommentar wurde Nina Shea zitiert, die für das rechte Hudson-Institut arbeitet und gleichzeitig dem von der US-Regierung eingesetzten Ausschuß für Internationale Religionsfreiheit angehört. Nach Sheas Ansicht zeigt der ganze Vorgang, daß es grundsätzlich falsch sei, muslimischen Gefangenen Koran-Bücher zu geben.

** Aus: junge Welt, 25. Februar 2012


Rückzug in Afghanistan

Von Detlef D. Pries ***

Die Bundeswehr hat sich zurückgezogen. Noch nicht aus Afghanistan, aber aus Talokan, einer der zehn größten Städte des Landes am Hindukusch. Zwar heißt es, das Lager in Talokan wäre sowieso im März geräumt worden, doch kann man sich schwerlich des Eindrucks erwehren, dass es sich bei diesem Rückzug schlicht um eine Flucht handelt. Eine Flucht vor aufgebrachten, protestierenden Afghanen, die zu befreien und zu beschützen die Soldaten vor einem Jahrzehnt angeblich ausgesandt worden waren. Im konkreten Fall war es nicht die Bundeswehr, die den Stein des Anstoßes zum wütenden Protest gelegt hat, sondern es war das USA-Militär durch die unsägliche Koran-Verbrennung in Bagram. Die Welle der Empörung ist von dort bis in den "ruhigen" Norden Afghanistans geschwappt, was nur zeigt, dass die NATO-Truppen inzwischen von einem großen Teil der Bevölkerung unterschiedslos nicht als Beschützer, sondern als Besatzer betrachtet werden. Als Beschützer taugen sie ohnehin nicht, wie ein neuer Bericht von Amnesty International belegt: Demzufolge müssen täglich 400 Afghanen vor der zunehmenden Gewalt fliehen. Noch nie habe es in Afghanistan so viele Binnenvertriebene gegeben wie heute. Noch ein Beweis dafür, dass die NATO-Mission gescheitert ist. Woraus zu folgern wäre, dass dem Rückzug in Afghanistan so schnell wie möglich der Rückzug aus Afghanistan folgen muss.

** Aus: neues deutschland, 25. Februar 2012 (Kommentar)


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