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Finger am Abzug

Zwischen "Abzugskorridor" der SPD und schwarz-gelber "Abzugsperspektive" besteht kein großer Unterschied. Einig sind sich alle, den Krieg in Afghanistan zunächst zu eskalieren

Von Knut Mellenthin *

Britische Truppen werden weitere fünf Jahre gegen die Taliban kämpfen müssen«, titelte die konservative Londoner Tageszeitung Times am Montag. In Deutschland versucht die SPD, die gleiche Nachricht als frohe Botschaft vom nahe bevorstehenden Truppenabzug aus Afghanistan unter die Leute zu bringen, um als Oppositionsführerin zu punkten. Der Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP erscheint dieser Zeitrahmen sogar als unverantwortlich kurz. Wie viele Jahre sie den Krieg noch fortsetzen wollen, lassen Angela Merkel, Guido Westerwelle und Karl-Theodor zu Guttenberg völlig offen.

Genau besehen sind es nicht nur fünf, sondern sogar sechs Jahre, die die SPD jetzt als Endpunkt des Abzugs anpeilt, wenn sie von einem »Zeitkorridor« 2013 bis 2015 ausgeht. Das ist fast so lange wie die bisherige Dauer der deutschen Beteiligung am Afghanistan-Krieg. Und ob dann nach Ansicht der SPD-Spitze wirklich Schluß mit dem militärischen »Engagement« am Hindukusch sein soll, steht noch in den Sternen. Anders, als manche Gegner dieses Krieges hoffen, handelt es sich nicht darum, daß die Partei jetzt plötzlich ein verbindliches Abzugsdatum festlegen will. Der »Zeitkorridor« ist nicht mehr als ein »Vorschlag«, über den Deutschland »mit unseren Bündnispartnern beraten« solle, wie Sigmar Gabriel am 22. Januar beim Afghanistan-Hearing der SPD sagte. Um Mißdeutungen gänzlich auszuschließen, setzte der Parteivorsitzende hinzu: »Es ist für uns klar, daß Deutschland nicht isoliert handeln darf.«

Im Klartext: Wann wirklich Schluß ist, bestimmt nach Ansicht der SPD auch weiterhin die NATO - und damit in der militärischen Praxis vor allem die Führungsmacht der westlichen Allianz, die USA. Vor diesem realen Hintergrund ist es hohle Rhetorik, wenn Gabriel fortfährt: »Es muß allerdings allen beteiligten Akteuren klar sein, daß unser Engagement ein zeitlich befristetes ist.« Diese Aussage gilt für die SPD lediglich in dem ganz banalen, nichtssagenden Sinn, daß letztlich alle Dinge auf dieser Welt einen Anfang und ein Ende haben. In die Kategorie solcher sinn- und inhaltslosen Phrasendrescherei gehört auch Gabriels Satz: »Wir müssen irgendwann aus Afghanistan raus.« Ebenso Frank-Walter Steinmeiers Feststellung, es sei im Bundestag von Anfang an klar gewesen, daß der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan »kein Daueraufenthalt« sein dürfe.

In Wirklichkeit besteht zwischen dem, was die SPD jetzt ihren »Abzugskorridor« nennt, und der sogenannten »Abzugsperspektive« der schwarz-gelben Regierungskoalition kein großer Unterschied, auch wenn die Parteien ihren Rollen gemäß munter aufeinander eindreschen, als ginge es um einen ernsthaften Dissens. Beide Seiten kennen die wenig konkrete Ankündigung von US-Präsident Barack Obama, im Sommer 2011 mit dem Truppenabzug zu beginnen. Außerdem wissen sie natürlich schon, was in dem noch nicht veröffentlichten Entwurf steht, der voraussichtlich am Donnerstag auf der internationalen Afghanistan-Konferenz in London verabschiedet wird.

Diese Resolution wird - der Times vom Montag zufolge - wohlwollend die »Selbstverpflichtung« der afghanischen Regierung zur Kenntnis nehmen, daß die Streitkräfte des Landes innerhalb von drei Jahren die Leitung und Durchführung der meisten Militäroperationen gegen die Aufständischen übernehmen wollen. Innerhalb von fünf Jahren sollen sie die gesamte Verantwortung für die »Sicherheit« Afghanistans übernehmen. In diesen Versprechungen läßt sich leicht der »Abzugskorridor« der SPD 2013-2015 wiedererkennen.

Das sind indessen nichts weiter als unverbindliche Planziele, deren Erreichen oder Verfehlen nicht hauptsächlich von den westlichen Regierungen, sondern von den verschiedenen afghanischen Kräften abhängt. Letztlich reduziert sich die »Abzugsperspektive« auf die selbstverständliche Aussage, daß man den Krieg »so schnell wie möglich« beenden will - aber erst nach Erreichen aller militärischen und politischen Ziele. Tatsächlich bedeutet das einen Krieg ohne erkennbares oder voraussagbares Ende, auch wenn Barack Obama und seine Regierungsmitglieder jetzt immer häufiger betonen, es handele sich in Afghanistan nicht um ein »open-end commitment«.

Die Eskalation des Krieges wird jetzt angesichts der zunehmend negativen Stimmung in allen westlichen Ländern als schnellster Weg zu seiner Beendigung verkauft. Die prinzipiell kriegswilligen Medien leisten ihren propagandistischen Beitrag, indem sie inflationär den hoffnungsvollen Begriff »neue Strategie« einsetzen. Indessen handelt es sich dabei lediglich um alte, wenig originelle Ideen, die in den vergangenen Jahren schon ausprobiert wurden und die erwiesenermaßen nicht funktionierten. Das gilt für die verstärkte Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte ebenso wie für den Versuch, Taliban-Kräfte durch Bestechung mit Geld und Ämtern auf die eigene Seite zu ziehen oder wenigstens zu neutralisieren.

* Aus: junge Welt, 26. Januar 2010

Merkels letztes Aufgebot

Von Rüdiger Göbel **

Der Krieg in Afghanistan wird immer unpopulärer. Jüngsten Umfragen zufolge lehnen mittlerweile mehr als 70 Prozent der deutschen Bevölkerung den Bundeswehreinsatz am Hindukusch ab. Allein, das ficht Bundesregierung und Bundestag nicht weiter an. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) will noch mehr deutsche Soldaten an die Front schicken. Genaue Zahlen sollen offiziell in einer Regierungserklärung am Mittwoch im Deutschen Bundestag verkündet werden. Im Gespräch ist eine Aufstockung von derzeit 4500 auf dann 5000 bis 6000 Bundeswehrsoldaten. Bei einem Treffen im Kanzleramt mit Außenminister Guido Westerwelle (FDP), Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), Innenminister Thomas de Maizière (CDU) und Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) sollten am Montag abend (nach jW-Redaktionsschluß) Details besprochen und die neue deutsche Sprachregelung für die kalkulierte Eskalation festgelegt werden. Wehrminister Guttenberg versucht, für den Afghanistan-Krieg die Formel vom »nichtinternationalen bewaffneten Konflikt« durchzusetzen. Gemeinsame Armeeoffensiven der Bundeswehr und afghanischer Hilfstruppen werden als »Ausbildung in der Fläche« angepriesen.

Beistand holt sich die schwarz-gelbe Regierung aus Kabul. Unmittelbar vor der Besatzerkonferenz zu Afghanistan am Donnerstag in London macht heute Präsident Hamid Karsai in Berlin halt, um für den weiteren Militäreinsatz am Hindukusch zu werben. Das trotz massiver Korruptionsvorwürfe und nachgewiesener Wahlfälschung im Amt verbliebene Staatsoberhaupt mit US-Paß wird heute abend von Kanzlerin Merkel empfangen. Zum Kriegsratschlag sind zudem die Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen einbestellt.

Auch die Kirche gibt der uckermärkischen Pfarr erstocher Rückendeckung. Die zum Jahreswechsel mit ihrer Kriegskritik noch für Furore sorgende Ratspräsidentin der Evangelischen Kirche, Margot Käßmann, verbreitete gestern eine entsprechende Stellungnahme. Darin werden Bundestag und Bundesregierung unter anderem aufgefordert: »Das zivile und das militärische Handeln müssen aufeinander bezogen und zugleich deutlich voneinander unterschieden sein.« Die afghanische Bevölkerung müsse wissen, ob sie es im konkreten Fall mit militärischen oder mit zivilen Kräften zu tun hat. Dies sei für den Erfolg des gesamten Einsatzes von grundlegender Bedeutung. Und: »Wir bekunden allen, die in Afghanistan für den Frieden arbeiten - den Mitarbeitenden der zivilen Aufbauhilfe, dem diplomatischen Dienst, den politischen Repräsentanten der Vereinten Nationen, den Angehörigen der Bundeswehr und anderer internationaler Streitkräfte -, unseren Respekt und unsere Dankbarkeit.«

Auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen leistet seinen Beitrag. In einer aufwendigen Produktion versucht sich der WDR heute abend an einer »großen deutsch-amerikanisch-afghanischen Fernsehbrücke«. Titel der Kriegs-PR: »Sackgasse Afghanistan? Auf der Suche nach der richtigen Strategie«. »Zwei Tage vor der großen internationalen Afghanistan-Konferenz in London bringt die Fernsehbrücke Bürger und Entscheidungsträger auf beiden Seiten des Atlantiks miteinander ins Gespräch«, heißt es in der Vorankündigung. Als »Entscheidungsträger« stehen Wehrminister Guttenberg und Richard Holbrooke, der Sonderbeauftragte von US-Präsident Barack ­Obama, Rede und Antwort. »Stimmen und Fragen aus Afghanistan werden eingespielt«, heißt es beim WDR. Die Sendung wird im Besatzungsgebiet vom Partnersender »Tolo TV« ausgestrahlt.

** Aus: junge Welt, 26. Januar 2010


USA: Mehr Truppen für den Frieden

Afghanistan-Aufstockung soll Lösung bringen ***

Der NATO-Chef in Afghanistan, General Stanley McChrystal, sieht in der bevorstehenden Aufstockung der US-Truppen eine Möglichkeit, Frieden mit den Taliban zu erreichen. Er wolle mit den etwa 30 000 Mann, die bis zum Sommer an den Hindukusch geschickt werden sollen, für Sicherheit im ganzen Land sorgen, von den Taliban-Hochburgen im Süden bis in die Hauptstadt Kabul, sagte McChrystal in einem Interview mit der »Financial Times«. Die Aufständischen sollten dadurch so geschwächt werden, dass ihre Anführer zu einer politischen Einigung bereit seien.

Auf die Frage, ob er sich eine Regierungsbeteiligung der Taliban-Führer in Afghanistan vorstellen könne, antwortete der Oberkommandierende der US-Streitkräfte am Hindukusch: »Ich denke, jeder Afghane kann eine Rolle spielen, wenn er die Zukunft und nicht die Vergangenheit im Blick hat.«

Derzeit sind 113 000 ausländische Soldaten in Afghanistan stationiert. Die internationalen Truppen sollen mindestens noch drei Jahre am Hindukusch bleiben, wie die britische Zeitung »Times« unter Berufung auf einen Entwurf der Abschlusserklärung zur Londoner Afghanistan-Konferenz berichtete, die am Donnerstag tagt.

*** Aus: Neues Deutschland, 26. Januar 2010


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