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"Das Vertrauen war schnell verspielt"

Sowjetischer Veteranenfunktionär sieht militärisches Eingreifen in Afghanistan als Kardinalfehler

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Die USA machen in Afghanistan heute die gleichen Fehler wie vor 20 Jahren die sowjetische Führung. Das meint Wladimir Kostjutschenko. Der frühere Kampfhubschrauberpilot ist heute Erster Vizepräsident der Union der Afghanistan-Veteranen.

Wladimir Kostjutschenko ist etwas massiger geworden und hat inzwischen ein paar Falten mehr im Gesicht. Auch trägt er statt Fliegerkombination und Helm mit Mikro ein dunkles Jackett. Trotzdem: Der Mann, der heute als Erster Vizepräsident der Union der Afghanistan-Veteranen in deren Hauptquartier im Südosten Moskau hinter dem Schreibtisch sitzt, ist unverkennbar derselbe, der vor 20 Jahren vor seinem Kampfhubschrauber posierte. Das verblasste Foto in ORWO-Color hängt im Museum der Organisation, die allein in Moskau um die zehntausend Mitglieder zählt. Kurz vor dem 20. Jahrestag des Abzugs der sowjetischen Truppen aus Afghanistan rennen westliche Korrespondenten ihm »die Bude ein«. Und nicht nur sie.

Den 54-jährigen Fliegermajor a. D., der zweimal am Hindukusch stationiert war und dafür dreimal mit dem Stern eines »Helden der Sowjetunion« ausgezeichnet wurde, fragen heute sogar Kollegen in Washington um Rat. Denn die westliche »Antiterroroperation« in Afghanistan, die im Herbst 2001 begann, steckt heute in der gleichen Sackgasse wie der 1979 zunächst als »Krieg hinter dem Flüsschen« verharmloste Einmarsch sowjetischer Truppen.

Als am 15. Februar 1989 die letzten Panzer mit dem roten Stern nordwärts über die Brücke nahe der usbekischen Grenzstadt Termez rollten, hatten deren Bewohner den Heimkehrern gelbe Tulpen auf den Weg gestreut. Mit eben diesen hatten viele Afghanen die Sowjetsoldaten knapp zehn Jahre zuvor auch begrüßt. Als Befreier, die das Chaos und die Grabenkämpfe, die sich rivalisierende Gruppen nach dem Sturz des Königs 1973 lieferten, beenden würden.

Als Kostjutschenko 1981 zu seinem ersten Einsatz nach Afghanistan flog, kippte die Stimmung gerade. »Für Leute, die uns noch vor ein paar Tagen Kameraden genannt hatten, waren wir plötzlich Besatzer«, erinnert er sich. Ähnliches widerfuhr den US-Amerikanern. Weil sie die Taliban-Herrschaft beendeten, brachte ihnen die Bevölkerung zunächst ebenfalls Sympathien entgegen. Aber später tappten sie aus Sicht von Kostjutschenko in genau die gleichen Fallen wie er und seine Kameraden.

»Die Sowjetunion hatte vor dem Einmarsch in Afghanistan sehr viel gebaut, daher hatten wir zunächst einen Vertrauensbonus. Damit war es jedoch zu Ende, als wir militärisch in die innerafghanischen Auseinandersetzungen eingriffen. Das hätten wir als Fremde nicht tun dürfen, und damit haben wir die Menschen gegen uns aufgebracht. Sogar hoffnungslos miteinander verfeindete Warlords haben ihre Konflikte damals zurückgestellt und sich für den Kampf gegen uns zusammengeschlossen.«

Mit Waffen, meint Kostjutschenko, könne man in Afghanistan »vom Prinzip her nichts ausrichten«. Auch die Verquickung von militärischen Komponenten und Wiederaufbau, wie sie die NATO betreibt, sei daher nicht nur nutzlos, sondern auch gefährlich. Chancen, sich die Afghanen wirklich zu Freunden zu machen, habe nur, wer sich bemüht, ihre Mentalität zu verstehen, ihre Sitten zu respektieren und ihre Sprache zu lernen. Erst dann könne man versuchen, sie »für die Errungenschaften der Zivilisation« zu begeistern.

Definitiv verscherzt hätten sich die US-Amerikaner heute wie damals die Russen die Sympathien der Afghanen durch »idiotische Befehle«, bei denen vor allem unschuldige Zivilisten ums Leben kamen. »Um den Nachschub für die Mudschaheddin zu blockieren, der vor allem über Pakistan abgewickelt wurde, durften Wagen, die von dort kamen, nur eine streng festgelegte Route durch die Registon-Wüste befahren. Auf jeden, der von der Piste abkam, mussten wir sofort das Feuer eröffnen. Ohne Befragung des Fahrers und ohne Kontrolle, ob die Fracht tatsächlich für die Glaubenskämpfer bestimmt war.« Dazu käme, so Kostjutschenko, dass die US-Einheiten ihren Krieg in Afghanistan vor allem »per Knopfdruck, mit Maus und Tastatur« führen würden. Damit würden personelle Verluste, »um die unsere Generale sich nie besonders scherten«, zwar minimiert, die Afghanen würden diese Taktik jedoch als »besonders hinterhältig« empfinden und sich dafür mit Diversionsakten rächen.

Er und seine Besatzung, sagt Kostjutschenko, seien 1982 auf dem Rückweg von einem Angriff auf ein Lager der Mudschaheddin im afghanischen Helmand angegriffen und mitten in den Bergen abgeschossen worden. Überlebt hätten sie nur, weil sie derartige Situationen »bis zum Erbrechen« im zentralasiatischen Pamir-Gebirge trainiert hätten.

Russische Soldaten, die später in Tschetschenien kämpften, hätten eine derartige Ausbildung nicht mehr bekommen. Und das postkommunistische Russland, zu dem Kostjutschenko ein sehr zwiespältiges Verhältnis hat, habe wenig für die Afghanistan-Kämpfer übrig. Ihre sozialen Probleme löst vor allem die Veteranen-Union. Besonders bitter: Zum 20. Jahrestag des Abzugs, empört sich Kostjutschenko, hätten Kreml und Regierung noch nicht einmal eine Gedenkmedaille in Auftrag gegeben. Die Veteranen-Union lasse daher jetzt auf eigene Kosten eine solche Medaille prägen.

* Aus: Neues Deutschland, 10. Februar 2009


Kupons und Bomben

Mit dem sowjetischen Abzug endete das Leid der Afghanen nicht

Von Thomas Ruttig, Kabul **

Vor 20 Jahren zog der letzte sowjetische Soldat aus Afghanistan ab - die Wunden der Besatzung aber sind noch nicht geheilt

Wo im Westen Kabuls am Kreisverkehr von Deh Mazang zwei breite Hauptstraßen aufeinander treffen, die nach Süden zum Parlament und nach Westen zur Universität führen, ragt ein eigentümlich asymmetrisches Gebäude in den glasklaren Winterhimmel. Es bildet einen tiefen Kontrast zu den traditionellen Lehmziegelhäusern, in denen auch heute noch die meisten Bewohner der afghanischen Hauptstadt leben. Zur Zeit seiner Errichtung in den 80er Jahren war es beinahe Avantgarde: das sowjetische Kulturzentrum. Beim näheren Hinsehen erkennt man, dass der Bau total zerschossen ist. Die leeren Fensterhöhlen sind mit rauchgeschwärzten Fetzen oder Plastikfolie verhangen.

Äußerlich erinnert im Kabuler Stadtbild nicht mehr viel an die zehnjährige sowjetische Besatzung, die am 27. Dezember 1979 begann, um ein angeschlagenes Linksregime zu retten, und am 15. Februar 1989 endete, als mit dem Kommandeur der 40. Armee, General Boris Gromow, der letzte sowjetische Soldat afghanischen Boden verließ. Aber in der Erinnerung ist sie tagtäglich präsent. »Als wir hörten, dass die Sowjets in unser Land einmarschiert sind, weinten wir«, erinnert sich Saber Naseri, ein ehemaliger Guerillakämpfer, der heute als Zahnarzt praktiziert. Damals ging der junge Paschtune aus der konservativen Südprovinz Zabul in die elfte Klasse. Als sein älterer Bruder eine der ersten Guerillafronten eröffnete, um sowjetische Konvois anzugreifen, die vom Militärflughafen Bagram -- heute US-Kommandozentrale in Afghanistan -- nach Kabul rollten, schloss er sich ihm an. Die Naseri-Brüder lasen Marx, Mao und Ali Schariati, einen linksislamischen Theoretiker aus Iran, der den bewaffneten Kampf gegen den Schah inspiriert hatte. Der Einmarsch in ihr Land bestärkte die Brüder in ihrer Auffassung vom »sozialimperialistischen« Charakter der Sowjetunion.

Anfang der 80er Jahre halfen sie einem jungen Ingenieurstudenten, im benachbarten Panschir-Tal eine weitere Widerstandsgruppe zu etablieren. Nur zwei Jahre darauf wandte er sich gegen sie. Sein Name war Ahmad Schah Massud, bald der bekannteste Mudschaheddinführer des Landes, der zwei Tage vor dem 11. September 2001 einem Al-Qaida-Attentat zum Opfer fiel. Die Islamisten wie Massud bekämpften auch die Linken im antisowjetischen Lager bis aufs Blut.

Die Naseri-Brüder überlebten die Besatzung, aber den sowjetischen Abzug sahen sie mit gemischten Gefühlen. »Nach dem 27. Dezember 1979 wurde der 15. Februar 1989 für uns zum zweiten Unglückstag«, sagt Naseri heute. »Die Amerikaner hatten den Moslembrüdern Waffen gegeben, um die Sowjets zu vertreiben. Wir wussten, dass sie untereinander verfeindet waren und ahnten, das würde nicht gut enden.« Einer ihrer mächtigsten Führer, der von Saudi-Arabien unterstützte Abdul Rabb Rassul Sayyaf, hatte angekündigt, man werde Kabul dem Erdboden gleichmachen, um alle kommunistischen Spuren »zu tilgen«, und anschließend nach »islamischen Prinzipien« neu errichten. Die Zerstörung war gründlich, aber der Wiederaufbau ging in den Fraktionskriegen unter, in die sich die Mudschaheddin verwickelten.

Kein Ende des Leidens

Auf das Chaos ihrer Herrschaft folgten die Schrecken des Taliban-Regimes. Aber auch als dieses Ende 2001 zusammenbrach, waren die Leiden der Afghanen nicht zu Ende. Die USA und ihre westlichen Verbündeten installierten die Warlords wieder an der Macht -- ein Hauptgrund dafür, dass sich enttäuschte Afghanen erneut den Taliban zuwenden. Sayyaf stieg unter Präsident Hamid Karsai zu einem der mächtigsten Männer des Landes auf: Er sitzt dem auswärtigen Parlamentsausschuss vor. Vor allem aber ist er ein Hauptberater des Staatschefs. An seine damalige Drohung will er sich heute nicht mehr erinnern.

Die Naseri-Brüder kämpften auch gegen die Taliban. Ende 2001 kehrten sie nach Afghanistan zurück, um den neuen demokratischen Spielraum zu nutzen. Sie gründeten eine Partei und versuchten, die fortschrittlichen Kräfte zu vereinen -- gegen die zurückgekehrten Warlords, die sie neben den Taliban als Hauptgefahr für ihr Land betrachten. Doch die Vergangenheit verhindert bis heute ein engeres Zusammengehen der afghanischen Linken. Viele frühere Funktionäre der ehemaligen prosowjetischen Regierungspartei sind nicht bereit, sich selbstkritisch ihrer Rolle in der Besatzungszeit zu stellen, während der 1,2 Millionen Afghanen getötet, sechs Millionen zur Flucht gezwungen und wirtschaftliche Schäden in Höhe von 5,8 Milliarden Dollar verursacht wurden. Sie verweisen auf verwirklichte Frauenrechte und soziale Errungenschaften wie Lebensmittelkupons für Staatsangestellte, an die man sich heute sehnsüchtig erinnert. Doch während offiziell eine »breite Front aller fortschrittlichen Kräfte« propagiert wurde, merkt Saber Naseri an, wurden unter den Augen sowjetischer Berater tausende politische Gefangene ermordet, darunter viele Linke.

Die früheren Mudschaheddin hingegen haben ihr Verhältnis zu Russland Anfang der 90er Jahre normalisiert, nachdem Boris Jelzin die Verbündeten in Kabul fallen gelassen hatte. Sie verzichteten auf Retributionsforderungen, Moskau strich aus UdSSR-Zeiten stammende afghanische Schulden für Waffen und Treibstoff. Heute erhalten die Milizen des Mudschaheddin-Nachfolgers Nationale Front Nachschub aus russischen Klientelstaaten in Mittelasien.

Annäherung an Moskau

Neuerdings macht selbst Präsident Hamid Karsai Russland Avancen, seit die neue US-Regierung von Barack Obama seine korrupte Regierungsführung kritisiert und er befürchten muss, dass sie ihn vor den Wahlen am 20. August ausmustert. Im Januar ließ er durchsickern, der russische Präsident Dmitri Medwedjew habe eine Verteidigungskooperation angeboten -- ein Affront für Washington. »Als Hauptverbündeten sieht Russland aber immer noch die früheren Mudschaheddin, die ebenfalls einen Wiedervormarsch der Taliban nach Nord-Afghanistan und weiter nach Mittelasien befürchten«, so Naseri.

Gleichzeitig sieht man in Moskau die Probleme der USA und ihrer NATO-Alliierten in Afghanistan nicht ohne Schadenfreude. Dass sich das Pentagon gezwungen sah, den Rat ehemaliger hoher sowjetischer Militärs für die Aufstandsbekämpfung einzuholen, sorgt für Genugtuung. Medwedjew und Premier Wladimir Putin lassen die NATO spüren, dass sie in Sachen Afghanistan von Russland abhängig ist. Gerade genehmigten sie den Transit von NATO-Nachschub, allerdings nur zivilen Charakters, während gleichzeitig die kirgisische Regierung -- wohl unter Russlands Einfluss -- den Mietvertrag für die US-Nachschubbasis Manas bei Bischkek kündigte.

Russlands Botschafter in Afghanistan, Samir Kabulow, reibt noch Salz in die Wunden: »Was haben die Afghanen von der (US-geführten) Koalition bekommen? Sie lebten vorher in Armut und tun das immer noch -- nur jetzt werden sie manchmal auch noch bombardiert«. Saber Naseri will das so nicht stehen lassen: »Auch die Sowjets haben die Armut nicht beseitigen können und Bomben auf uns geworfen.« Im Sommer 1983 erlebte er mit, wie im Dorf Istalif 700 Menschen bei einem sowjetischen Flächenbombardement umkamen.

** Aus: Neues Deutschland, 10. Februar 2009


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