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"Ich weinte"

Ein Bundeswehrsoldat und seine Verzweiflung über den Krieg in Afghanistan


In den Medien macht der Krieg in Afghanistan heute nur noch selten Schlagzeilen. Der Abzug der ausländischen Truppen ist beschlossene Sache. Laut einer aktuellen Studie berichten 49,2 Prozent aller Soldaten der Bundeswehr mit Auslandseinsatz von mindestens einem traumatischen Ereignis. So wie der Feldwebel Torsten Mischel. Mit ihm sprach Angela Kaiser.
Das folgende Interview erschien im "neuen deutschland".



nd: Sie waren 2008 als Feldwebel in Afghanistan im Einsatz. Warum sind sie in das Kriegsgebiet gegangen?

Mischel: Ich bin am 1. Januar 2004 eingezogen worden, wollte Berufssoldat werden. Ich wurde Feldwebel und war stellvertretender Zugführer. Die Führung legt fest, wann welche Einheit in den Einsatz geht. Unser Kontingent sollte im Raum Kundus tätig werden. Aus meinem Selbstverständnis heraus war für mich klar, dass ich den Einsatz mache. Damals zählten für mich Befehl und Gehorsam.

Als mein Zugführer zu uns sagte, wer nicht mitgehen will, soll das jetzt sagen, zögerte ich nicht. Mir war klar, dass ich den Schwanz nicht einziehe, wenn es ernst wird. Wer Pilot werden will, setzt sich ja auch nicht nur in den Simulator, sondern irgendwann in ein echtes Flugzeug. Ich wollte für mich wissen, ob ich mit so einer Situation fertig werde, bevor ich Berufssoldat werde.

War Ihnen klar, warum deutsche Soldaten in Afghanistan sind?

Wer weiß schon, warum wir da unten sind, außer dass wir in der NATO sind und uns dadurch verpflichtet fühlen. Die Hintergründe konnte uns auch keiner erklären. Wir Soldaten sind davon ausgegangen, dass wir Lagerschutz betreiben, mit der Bevölkerung reden, mit Mitarbeitern ziviler Hilfsorganisationen kooperieren und für ihre Sicherheit sorgen.

Wurden Verhaltensregeln aufgestellt?

Wir sollten den Afghanen gegenüber immer freundlich sein, die Bräuche von denen akzeptieren. Wir sollten vor ihren Augen nicht trinken, nicht essen, nicht rauchen, immer gastfreundlich sein und keine Gastfreundschaft ausschlagen.

Unser Zugführer hat gewusst, dass es eine andere Nummer wird und wir da unten ordentlich eins auf die Mütze kriegen. Er hat dafür gesorgt, dass wir vor unserem Einsatz speziell ausgebildet wurden. Ansonsten hatte ich das MG 4 nur wenige Male in der Hand gehalten und mit der MP 7 nur einmal geschossen. Unser Zugführer ließ uns für den Nahkampf von Fallschirmjägern ausbilden. Er wollte, dass seine Jungs so knallhart wie möglich da runter gehen, damit sie wieder lebend da raus kommen.

Wie lange dauert für gewöhnlich ein Einsatz?

Der eigentliche Einsatz dauert vier Monate. Aber mit Vor-, und Nachbereitung wird ein viermonatiger Einsatz ein zehnmonatiger Einsatz.

Wie waren die Lebensbedingungen im Camp?

Wir lebten anfangs in Zelten. In ihnen war es furchtbar heiß. Jeden Abend schüttelten wir die Betten aus und bedeckten unsere Stiefel mit Netzen. Denn man musste immer befürchten, dass sonst Skorpione, irgendeine Schlange oder eine riesige Kamelspinne in den Klamotten steckten. Die Kamelspinnen waren besonders eklig.

Wann begriffen Sie, dass Sie ihr Leben riskieren?

Als wir das erste Mal einen Notfalltrupp zusammenstellen mussten. Über Funk hieß es, Delta sei angesprengt. Das heißt, ein Dingo - das ist ein gepanzertes und minengeschütztes Radfahrzeug - sei auf eine Sprengfalle gefahren. Wir mussten die Soldaten nun holen und weitere Sprengfallen entschärfen. Wir hatten also den Auftrag, in eine als Hochburg der Taliban eingestufte Gegend durchzustoßen. Die Taliban hatten das Fahrzeug angegriffen, um uns zu kriegen.

Ich hatte die Hosen gestrichen voll. Aber als Feldwebel zeigt man das nicht, damit die Jungs nicht angesteckt werden. Wir sagten uns gegenseitig laut: Na lass sie doch kommen, wir machen die weg!

Haben Sie die anderen Soldaten in Sicherheit bringen können?

Wir hatten die Sprengfalle aufgeklärt und entschärft. Uns wurde immer zur Beruhigung gesagt, dass es Systeme gebe, die Funk- und Radiowellen blockieren, damit niemand über Funkfernbedienung eine Sprengfalle zünden kann. Doch ich traute meinen Augen nicht, als ein Afghane am Einsatzort mit seinem Handy telefonierte! Da fragte ich mich schon, was mir die Bundeswehr hier eigentlich von Sicherheit erzählt?! Ich sagte nur noch zu einem Stabsgefreiten: Wenn ich hier nicht heil raus komme, teile meiner Frau mit, dass ich sie liebe.

Da waren sie die Helden, auf die man einen trank?

Ja, am Abend durfte man im Lager zwei Dosen Bier trinken. Schnaps war offiziell nicht erlaubt.

Mussten Sie während Ihres Einsatzes in Afghanistan auf Menschen schießen?

Als Hauptfeldwebel Mischa Meier am 27. August 2008 bei einem Sprengstoffanschlag gefallen war, mussten wir im Anschlagsort nach Zeugen suchen. Ich bin mir noch heute hundertprozentig sicher, dabei dem Attentäter in die Augen geschaut zu haben. Auf ihn hätte ich am liebsten geschossen.

Was hinderte Sie?

Ich wusste, am Ende stehe ich für eine gerechte Tat ungerecht vor dem Richter. Unter der Bedingung, keine rechtlichen Schritte fürchten zu müssen, hätte ich es wahrscheinlich gemacht.

Haben Sie in Afghanistan einen Menschen getötet?

Ich weiß es nicht. Aber ich erinnere mich noch genau an den 23. September 2008. Wir waren auf Patrouille. Aus dem Gegenverkehr fuhr plötzlich ein Selbstmordattentäter in unsere Kolonne, hielt an und sprengte sich in die Luft. Es hieß, es seien vier bis fünf weitere Attentäter zu uns unterwegs. Die Taliban schicken ja alles vor: Motorradfahrer, Frauen, alte Menschen, ja sogar Kinder. Darum ließen wir keinen näher als 50 Meter an uns heran.

Doch dann raste ein weißes Auto auf uns zu. Wir haben sofort die Gefahr gespürt, blitzartig die Waffen angelegt und mehrfach auf die Motorhaube danach auf die Frontscheibe geschossen. Bis der entgegenkommende Wagen nicht mehr rollte. Niemand stieg aus.

Wie reagierten Sie, als Sie nach dem Gefecht wieder im Lager waren?

Ich weinte.

Hat jemand Ihre Tränen gesehen?

Ja, meine Frau, die mit im Einsatz war. Aber ich wollte meine Gefühle damals niemandem zeigen. Auch nicht ihr. Ich wies sie ab und wollte nur alleine sein.

Haben Sie Ihre engsten Vertrauten, zum Beispiel Ihren Eltern, von den Einsätzen erzählt?

Meinen Eltern teilte ich nur Gutes mit. Ich erzählt, dass wir immer von den Afghanen Melonen geschenkt bekommen.

Wann merkten Sie, dass Sie Ihren Einsatz vorfristig beenden müssen?

Ich war nach dem Einsatz am 23. September völlig traumatisiert, fing an zu trinken. Es kam vor, dass ich einen Flashback hatte. Habe zum Beispiel auf ein Auto geschossen, das es gar nicht gegeben hatte. Spätestens da war klar, dass etwas passieren muss. Darum wurde ich am 8. Oktober 2008 nach Deutschland ausgeflogen.

Bekommen Soldaten in Deutschland die nötige Anerkennung?

Hier werden wir doch als Mörder hingestellt, als Schießwütige, die gut bezahlt werden. Oder als Unberechenbare, die Leichen schänden, Unschuldige erschießen.

Haben Sie Geschädigtenversorgung bekommen?

Ich habe einmalig 1350 Euro bekommen, weil ich aufgrund der posttraumatischen Belastungsstörung zu 30 Prozent behindert bin. Wenn man über 50 Prozent behindert ist, bekommt man eine Einmalzahlung von 80 000 Euro. Einem Bekannten von mir haben sie das halbe Gesicht weggeschossen. Der wartet heute noch auf sein Geld.

Wie sind Sie nach der Ankunft in Deutschland betreut worden?

Betreut? Ich kam in meine frühere Kaserne. Am nächsten Tag ging es ins Bundeswehrkrankenhaus. Doch die wussten mit mir nichts anzufangen. Sie schrieben mich krank. Da saß ich dann allein mit meinen Problemen.

Wie geht es Ihnen heute?

Ich habe in der Zwischenzeit einen viermonatigen Alkoholentzug gemacht, bin seit einem Jahr trocken. Aber es geschieht immer noch, dass ich Massen meide, Angstzustände bekomme, wenn ich Menschen begegne. Ich habe Mühe, nicht die Beherrschung zu verlieren. Ich war mehrfach in stationärer psychologischer Behandlung.

Haben Sie es jemals bereut, als Soldat nach Afghanistan gegangen zu sein?

Ich war einmal mit Leib und Seele Soldat, habe Befehle nie infrage gestellt. Doch der Einsatz hat mich völlig aus der Bahn geworfen. Mein Traum vom Berufssoldaten ist geplatzt. Und meine Ehe wäre fast geschieden worden.

*Geboren ist Torsten Mischel 1982. Mit Frau Sanda - sie ist Truppenführerin in einem Fernmeldezug der Bundeswehr - und Tochter Emmelie (2) lebt er in Bielefeld. Das Paar erwartet im Februar ein zweites Kind. Torstens Vater ist Polizist. Auch der Sohn hatte nach dem Abitur eine Ausbildung bei der Polizei begonnen, sie jedoch nicht abgeschlossen. Am 1. Januar 2004 trat Mischel in die Bundeswehr ein, 2008 wurde er als Feldwebel Angehöriger des 17. deutschen Einsatzkontingents der ISAF nach Afghanistan. Am 31. Oktober 2012 würde seine reguläre Dienstzeit ablaufen, aber sie ist aufgrund seiner durch den Afghanistaneinsatz erlittenen Traumatisierung bis zum Jahresende verlängert worden.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 19. September 2012


Statistik und Realität in Afghanistan

Im ersten Halbjahr 2012 kamen bei Kämpfen am Hindukusch mindestens 1145 Zivilisten um

Von René Heilig **


Die Attentäterin war 20 Jahre alt. Fatima war ihr Name. Sie hat sich in die Luft gesprengt und dabei neun Südafrikaner und einen Kirgisen – sie waren Angestellte einer Luftfrachtfirma – sowie den afghanischen Fahrer und einen weiteren Landsmann umgebracht. 14 Menschen seien bei der Detonation an einer Kabuler Tankstelle verletzt worden.

Fatima gehört nicht zu den Taliban. Sie soll im Auftrag des Hesb-i- Islami-Netzwerks gemordet haben. Es handelte sich offenbar um einen Vergeltungsanschlag wegen des islamfeindlichen Schmähvideos gegen den Propheten Mohammed.

Hesb-i-Islami hört auf den Befehl des Warlords Gulbuddin Hekmatjar. Der einstige afghanische Premierminister hatte seinerzeit gegen die sowjetischen Besatzer gekämpft, dann eine blutige Rolle im Bürgerkrieg gespielt. Auch gegen die Bundeswehr hat der Terrorfürst der Nordregion zahlreiche Attentate gesteuert.

Frauen verüben in Afghanistan äußerst selten Selbstmordanschläge. Doch sie sind häufig Opfer der Kämpfe. Erst am Wochenende waren bei einem NATO-Luftangriff östlich der Hauptstadt Kabul acht Frauen getötet und weitere acht verletzt worden. Doch Statistiker des Afghanischen Sicherheitsbüros ANSA, einer Nichtregierungsorganisation, die von der EU, der Schweiz und Norwegen unterstützt wird, vermelden in der Tendenz Positives. Im ersten Halbjahr haben die Attacken von Regierungsgegnern im Vergleich zum Vorjahrszeitraum um 38 Prozent abgenommen. Die Operationen der afghanischen Sicherheitskräften und der internationalen Truppen verringerten sich um 25 Prozent, die schwere Kriminalität (Überfälle, Entführungen usw.) nahmen um 24 Prozent ab.

Doch diese Zahlen erfassen nur Ausschnitte der Realität. Im vergangenen Jahr wurde der erstmalige Rückgang an Sicherheitsvorfällen überschattet durch die weitere Zunahme von zivilen Opfern. Das erste Halbjahr 2012 brachte nach fünf Jahren Anstieg einen Rückgang der Zivilopfer um 15 Prozent. Klingt hoffnungsvoll, doch Tatsache ist, dass 1145 Zivilpersonen im Zusammenhang mit Kämpfen getötet und 1954 verwundet wurden. 30 Prozent der Opfer waren Frauen und Kinder.

Zugenommen haben auch sogenannte Insider-Attacken, bei denen echte oder vermeintliche afghanische Sicherheitskräfte verbündete ISAF-Soldaten töten. 51 ISAF-Soldaten sind in diesem Jahr durch solche Angriffe umgekommen, sechs am vergangenen Wochenende. Die ISAF-Führung befahl daher, die Zusammenarbeit unterhalb der Bataillonsstärke einzustellen. Bislang galt das Kämpfen »Seite an Seite« als Erfolgsrezept bei der Ausbildung der einheimischen Armee und Polizei.

Der afghanische Präsident Hamid Karsai hat die »Insider-Attacken « nicht näher benannten ausländischen Geheimdiensten zugeschoben, welche die Partnerschaft zwischen seinen Leuten und der Szene des Kabuler Selbstmordanschlags vom Dienstag. Foto: dpa NATO untergrabenwollten.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 19. September 2012


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