Das Rezept für einen neuen Bürgerkrieg
Washington mobilisierte diverse Milizen als Hilfstruppen – die werden nun zu einem großen Sicherheitsproblem
Von Thomas Ruttig *
Am 21. September haben die letzten
der 33 000 zusätzlichen USTruppen
Afghanistan verlassen,
die Präsident Barack Obama Anfang
2009 dorthin geschickt hatte,
um die Aufstandsbewegung der
Taliban in die Defensive zu drängen.
Wie General Martin Dempsey,
höchster US-Militär, erklärte, habe
man so »Zeit für ein paar Taliban-
Initiativen und Raum zur Verstärkung
der afghanischen Sicherheitskräfte
kaufen« können. Damit
soll suggeriert werden, man habe
die Situation im Griff und könne,
wie angekündigt, Ende 2014 die
meisten NATO-Kampftruppen abziehen,
ohne dass die Regierung in
Kabul zusammenbricht.
Die afghanische Armee und
Polizei sind tatsächlich auf eine
Personalstärke von 352 000 Mann
gewachsen. Aber die Qualität ihrer
Ausbildung und ihre Moral haben
dabei nicht mitgehalten. Das bestätigen
selbst afghanische Offiziere.
Auch diverse Morde an
westlichen Ausbildern durch afghanische
Kollegen (in der NATOSprache
»Grün gegen Blau«), denen
seit Jahresbeginn bei 31 Fällen
51 ISAF-Soldaten zum Opfer fielen,
haben eine der zentralen Säulen
der künftigen NATO-Strategie in
Afghanistan ins Wanken gebracht.
Gespräche zwischen US-Vertretern
und Taliban haben Anfang
des Jahres in Katar begonnen,
doch brachen die Aufständischen
sie schon im März mit dem Vorwurf
ab, Washington habe Zusagen
nicht eingehalten. In der Tat
hatten die US-Verhandlungsführer
Hoffnungen geweckt, fünf in
Guantanamo einsitzende hochrangige
Taliban-Führer könnten in
das gastgebende Golfemirat verlegt
werden und das Verhandlungsteam
verstärken. Doch die US-Regierung
hatte offenbar nicht damit
gerechnet, dass der republikanisch
geführte Kongress in einem Wahljahr,
wo jede Flexibilität in Sicherheitsfragen
als Schwäche gedeutet
wird, diese Idee blockieren würde.
Falls man wirklich an Gesprächen
interessiert war.
In Afghanistan selbst sieht
man, dass die Amerikaner ihre eigenen
Erfolgsmeldungen nicht
glauben. In den vergangenen Jahren
mobilisierten sie eine ganze
Reihe unterschiedlicher Milizen als
Hilfstruppen für die wenig vertrauenswürdige
Nationalpolizei
und –armee. Das neueste Programm
läuft seit 2010 unter dem
Etikett »Afghanische Lokalpolizei«
(ALP). Mitte des Jahres wurde auf
gemeinsame Initiative des US-Militärs
und des Kabuler Innenministeriums
die Zielgröße für die
ALP-Rekrutierung von 10 000 auf
30 000 Mann ausgeweitet, und
das, obwohl – wie die »Los Angeles
Times« schrieb – »das Pentagon
und die afghanische Führung besorgt
sind, dass solche Dorf-
Selbstverteidigungseinheiten
sich in kriminelle Banden
verwandeln oder zu den
Taliban desertieren könnten
«. Die ALP soll derzeit etwa
13 000 Mann zählen und
operiert in 31 der 34 Provinzen.
Dazu kommen zahlreiche
»illegale Milizen«. Dabei
handelt es sich um übrig gebliebene
Gruppen aus den
Bürgerkriegen der 1990er
Jahre und dem Kampf gegen
die Taliban, die nach deren
Sturz Ende 2001 eigentlich
entwaffnet werden sollten, sowie
neue Verbände. Manch ehemaliger
Milizkommandeur hat seine Leute
wieder zusammengerufen, um der
ALP beizutreten, es aber nicht
durch die Rekrutierungskommission
geschafft. Da Waffen reichlich
vorhanden sind, gehen diese
Gruppen aber nicht nach Hause,
sondern erpressen oft »religiöse
Steuern« von der örtlichen Zivilbevölkerung,
so wie die Taliban.
Ein Schwerpunkt solcher Milizen
ist die Provinz Kundus im Verantwortungsbereich
der Bundeswehr.
Anfang September überfiel dort
eine aus mehreren Hundert
Kämpfern bestehende Miliz das
Dorf Loy Kanam, nachdem einer
ihrer Leute von Taliban umgebracht
worden war. 13 Zivilisten
kamen ums Leben. Ethnische Differenzen
spielen dabei eine Rolle:
Die Angreifer waren Usbeken, die
Opfer Paschtunen, die mitunter
tatsächlich die Taliban unterstützen.
Ähnliche Fälle trugen sich in
Paktika, Parwan und Balkh zu. In
Kobaji starben Zivilisten im
Kreuzfeuer zweier Milizen.
Die angeblich besser kontrollierte
ALP verursacht ähnliche
Probleme. Im Sommer massakrierte
eine Einheit, die zur Minderheit
der Hazara gehört, 15
paschtunische Dorfbewohner in
der Provinz Uruzgan, auch das eine
Racheaktion nach einem Taliban-
Angriff. Dem obersten afghanischen
Militärstaatsanwalt zufolge
waren im August über 100 ALPKämpfer
wegen »Mordes, Bombenanschlägen,
Vergewaltigung,
tätlicher Angriffe und Raubes« in
Haft. Laut einer Studie im Auftrag
des US-Spezialkräftekommandos
hat jedes fünfte seiner Teams, die
als Mentoren dieser Milizen arbeiten,
Fälle von ALP-Gewalt gegen
Zivilisten angezeigt.
Zudem gehen viele der Fälle,
bei denen afghanische Sicherheitskräfte
eigene Kollegen umbringen,
auf das Konto von ALPEinheiten.
35 solche Angriffe mit
53 Toten gab es allein in diesem
Jahr. In mindestens drei Provinzen
liefen ALP-Kämpfer zu den Taliban
über. Die Special-Forces-Studie
stellt fest, dass »in den meisten«
der 78 von der ALP patrouillierten
Distrikten die Sicherheitssituation
»nicht signifikant unterschiedlich«
zu der in Distrikten ohne ALP ist.
Afghanische Parlamentarier haben
die Milizen deshalb als »eine
Hauptgefahr für die Sicherheit Afghanistans
« bezeichnet. Das alles
bestätigt die Feststellung der renommierten
norwegischen Afghanistan-Expertin Astri Suhrke, dass
das Land nach 2014 vor allem aus
»schwachen Institutionen und einer
Menge bewaffneter Männer«
bestehen werde. Das ist das Rezept
für einen neuen Bürgerkrieg.
* Thomas Ruttig ist Ko-Direktor des
Afghanistan Analysts Network.
Aus: neues deutschland, Freitag, 12. Oktober 2012
Zurück zur Afghanistan-Seite
Zurück zur Homepage