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Rückzug - aus der Verantwortung

Afghanistan: Regierung versucht, Ereignisse der Bombennacht von Kundus zu beschönigen

Von René Heilig *

Nein, die Bundesregierung will sich zu Angaben aus Afghanistan über 30 Zivilisten, die bei einem von der Bundeswehr angeforderten Bombardement auf zwei entführte Tanklaster umgebracht wurden, nicht äußern. Das habe keinesfalls etwas mit den Bundestagswahlen zu tun, sagte Regierungssprecher Wilhelm. Nach dem TV-»Duell« zwischen Merkel und Steinmeier liegt der Verdacht aber nahe.

Ein Ende des Krieges in Afghanistan war bislang - ausgenommen für die LINKE - kein Wahlkampfthema. Unter Rot-Grün begann der Kriegseinsatz, der von Union und Liberalen mitgetragen wird. Umso komplizierter ist es für die Regierung, sich um die Verantwortung für die Mordnacht vom 3. auf den 4. September bei Kundus herum zu drücken.

Regierungssprecher Ulrich Wilhelm fand gestern dennoch eine Sprachregelung. Es gebe vier Untersuchungskommissionen, deren Ergebnisse abgewartet werden müssten. Neben dem vom afghanischen Präsidenten Karsai angeforderten und ihm nun vorliegenden Bericht - der »deutschfreundlich« abgefasst scheint - laufen Überprüfungen der NATO, der UNO sowie des Komitees vom Internationalen Roten Kreuz. Der Vorfall sei noch nicht in allen Einzelheiten von »neutraler Seite« untersucht worden, sagte Wilhelm. Deswegen sollten »keine voreiligen Schlussfolgerungen« gezogen werden.

Beachten Sie auch die Meldungen vom 13. bis 15. September in unserer tagesaktuellen Afghanistan-Chronik



Doch schon die Bilanz des Karsai-Berichts ist grauenhaft: 99 Tote, darunter 30 Zivilisten. Offiziell betont das Verteidigungsministerium von Merkels Altlast Franz Josef Jung, dass es keine »belastbaren« Erkenntnisse über Opfer des Luftangriffes gebe. Zunächst hatte es geheißen, der Angriff habe sich ausschließlich gegen Taliban-Kämpfer gerichtet. Nun hört man: Sollten tatsächlich zivile Opfer zu beklagen sein, »wäre das tragisch« und man wolle sich »um diese Fälle kümmern«.

Im Moment kümmert man sich aber offenbar darum, die Vorgänge um den Angriff zu schönen. Laut »Rules of Engagement« braucht ein ISAF-Kommandeur zumindest zwei von einander unabhängige Aufklärungsergebnisse, um so einen Angriff anzufordern. Es gab aber nur einen einheimischen Informanten, aus dem nun klammheimlich mehrere »Quellen« gezaubert werden. Offenbar versuchen die Deutschen, US-amerikanische Aufklärungsbilder als zusätzliche Quelle auszugeben.

Zur Zeit ist der Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan in Afghanistan, um beim obersten NATO-Kommandeur in Afghanistan, dem US-General Stanley McChrystal, Schadensbegrenzung zu betreiben. Denn der von der Bundeswehr angeforderte Luftangriff durchkreuzte die neue Obama-Strategie, laut der Afghanistans Zivilisten zu schonen seien. Wie gehabt, soll Schweigen auch erkauft werden. Unterwegs sind »Entschädigungsexperten«, die mit Hilfe afghanischer Regionalfürsten über Entschädigungssummen für getötete Zivilisten verhandeln sollen. Die Summen sind geheim. Durchgesickert war in jüngster Zeit lediglich, dass die Bundeswehr, nachdem sie im Herbst vergangenen Jahres an einem Kontrollpunkt eine junge Mutter und ihre zwei Kinder erschossen hat, 20 000 US-Dollar als »Wiedergutmachung« zahlte.

Unterdessen hat der neue Afghanistan-Plan von Außenminister und SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier nicht nur in der Linkspartei Widerspruch, sondern auch im bürgerlichen Lager mit FDP und Grünen ein mäßiges Echo gefunden. Kein Wunder, denn in den »Zehn Schritten für Afghanistan« wird nicht einmal ein Ausstiegsdatum genannt. Man wolle, so Steinmeier im TV-»Duell« schwammig, in der nächsten Legislaturperiode Bedingungen für den Rückzug schaffen. Er »fordert zwei Wochen vor der Wahl 1500 Polizisten, hat aber vier Jahre lang gerade mal 43 Polizisten nach Afghanistan gebracht«, kritisierte Grünen-Spitzenkandidat Jürgen Trittin. Der außenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Werner Hoyer, meinte, es sei ein durchsichtiges Wahlkampfmanöver, erneut zu versprechen, was in der Vergangenheit nicht gehalten wurde.

* Aus: Neues Deutschland, 15. September 2009


CDU will mehr Truppen

Von Rüdiger Göbel **

Wer CDU wählt, stimmt für die weitere Eskalation des Krieges in Afghanistan. Mit Ruprecht Polenz hat jetzt erstmals ein Spitzenpolitiker der Unionspartei eingeräumt, daß nach der Bundestagswahl am 27.September erwogen werden müsse, noch mehr deutsche Soldaten an den Hindukusch zu schicken. »Wenn es notwendig ist, für die Sicherheit der Nordregion, für die wir die Verantwortung tragen, unsere Truppen zu verstärken, dann wird man darüber sprechen müssen«, sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag am Montag im Deutschlandradio Kultur. Ausschlaggebend sei die »Sicherheitslage«, so Polenz weiter. Die »jüngsten Ereignisse« - gemeint ist das Tanklaster-Massaker bei Kundus mit Dutzenden Toten - zeigten, daß sich die Situation auch im deutschen Einsatzgebiet im Norden Afghanistans zugespitzt hat. Schon jetzt sind fast 100000 Soldaten aus NATO-Staaten am Hindukusch stationiert. Noch mehr Truppen aber heißt noch mehr Krieg, noch mehr Tote, noch mehr Verletzte - Afghanen wie Deutsche.

Für die Zeit nach der Wahl gilt laut Polenz: Die künftige Bundesregierung muß die aktuelle Lage bewerten und dem Parlament entsprechende Vorschläge machen. Gleichzeitig kritisierte der CDU-Politiker Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD), weil der angesichts der kriegsablehnenden Grundhaltung in der Bevölkerung und der bevorstehenden Wahlen plötzlich über einen Bundeswehrrückzug aus Afghanistan gesprochen hatte. Steinmeier hatte am Wochenende via Spiegel erklärt, es gelte »innerhalb der nächsten Legislaturperiode die Grundlagen für einen Abzug zu schaffen« (siehe jW vom 14.9.). Am Montag ließ er allerdings klarstellen, daß Deutschland nicht im Alleingang Afghanistan verlassen werde. Voraussetzung seien »substantielle Fortschritte« bei einer »selbsttragenden Sicherheit«. Nötig seien dabei nun »Sprünge in die richtige Richtung«, wie ein Regierungssprecher wörtlich sagte.

Ähnlich wie Sozialdemokrat Steinmeier argumentierte am Montag die CSU: Die kleine Schwester der CDU sprach sich am Montag für eine »Abzugsperspektive« der Bundeswehr aus. Entsprechende Pläne müßten in Abstimmung mit der Staatengemeinschaft erfolgen, sagte CSU-Chef Horst Seehofer nach einer Vorstandssitzung seiner Partei in München.

Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) läßt derweil weiter das Massaker vom 4. September rechtfertigen. Der Luftangriff auf zwei von den Taliban entführte Tanklaster sei »militärisch notwendig« gewesen, behauptete auch am Montag wieder ein Sprecher des Ministers. Ein afghanisches Untersuchungsteam hatte am Wochenende berichtet, unter den Toten seien auch 30 Zivilisten gewesen. Jungs Ministerium mahnte, deswegen keine »Vorverurteilung« vorzunehmen und auch die Kundus-Untersuchungen der NATO, der Vereinten Nationen und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz abzuwarten. Gleichzeitig sicherte die Bundesregierung zu: »Sollte« es zu zivilen Opfern gekommen sein, »werden wir uns darum kümmern«, so ein Sprecher. Wie gestern bekannt wurde, ist der Generalinspekteur der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan, nach Afghanistan geflogen, um sich ein »eigenes Bild« zu machen. Bei Kämpfen im Süden des Landes wurden nach Angaben der Besatzungstruppen vom Montag zwei NATO-Soldaten getötet.

** Aus: junge Welt, 15. September 2009


Verbrechen sind wählbar

Von René Heilig ***

Bundeswehr-Oberst Georg Klein hat einen Befehl gegeben, US-Jagdbomber klinkten zwei GPS-gesteuerte Bomben aus. Die sprengten hundert oder mehr Menschen in die Luft, wandelten andere zu brennende Fackeln. Der Oberst tat, was er gelernt, trainiert und was seine Regierung ihm befohlen hat. Dass sein Tun verbrecherisch sein könnte, kam ihm nicht in den Sinn.

Wie auch, wenn sein Minister sich weigert, den Hindukusch-Einsatz als Krieg zu benennen? Wie auch, wenn dieser verlogene CDU-Minister - wie die Kanzlerin am Sonntag vor einem Millionen-TV-Publikum bestätigte - ihr Vertrauen genießt? Wie auch, wenn ihr SPD-Konkurrent und Außenminister, statt zu widersprechen, eine Rückzug-Legende zimmert - die so verlogen ist wie einst Schröders Sprüche über die deutsche Nicht-Beteiligung am Irak-Überfall? Wer im Krieg falsche Befehle gibt, kann zum Verbrecher werden. Was aber ist mit denen, die Krieg befehlen? Die bekommen TV-Shows!

Oberst Klein glaubte der Propaganda, dass er in Afghanistan das ferne Deutschland vor Terroristen und vor Ort seine Soldaten vor den Taliban schützen muss. Gerade jetzt vor den Bundestagswahlen, so ängstigt uns die Regierung, sei das Risiko für uns alle groß.

Irgendwie stimmt das, wenn man als Risiko den Fall annimmt, dass wieder Leute an die Macht gewählt werden, die Krieg mit Politik verwechseln und Obristen in die Welt schicken.

*** Aus: Neues Deutschland, 15. September 2009 (Kommentar)


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