Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Afghanistan ist schon lange ein schmutziger Krieg

Vortrag von Norman Paech auf dem 14. Friedensratschlag - Auszüge

Im Juni 2007 bereiste Prof. Dr. Norman Paech, MdB Die Linke, Afghanistan. Auf dem 14. Friedenspolitischen Ratschlag am 1. und 2. Dezember sprach er zur Lage dort. Der Korrespondent der Wochenzeitung "unsere zeit" Adi Reiher hat den Vortrag mitgeschnitten und Auszüge für die Veröffentlichung ausgewählt.
Wir dokumentieren im Folgenden diese Zusammenstellung.*



... Wenn man im gepanzerten Wagen der Botschaft durch Kabul fährt, vielleicht auch noch in die umliegenden Dörfer, dann sieht man lachende Mädchen, man sieht auch Leute die picknicken, man sieht friedliche Landschaften. Und man trifft auch Leute, die einen flehentlich bitten, doch nicht die deutschen Truppen aus Afghanistan abzuziehen.

Z. B. den Abgeordneten Gulabzoy, ein Afghane, der aus den USA wieder zurückgekehrt ist; und der seine Zukunft in dem Aufbau einer privaten Fluglinie sieht, die er mit amerikanischen Geldern finanzieren will. Der ist angewiesen darauf, dass die Truppen dableiben ...

Zur Lage der afghanischen Frauen

Das ist die Realität dort. Wovon allerdings (unser Verteidigungsminister - AR.) Jung und andere schweigen ... ist folgendes: die Selbstmordrate der Frauen in Afghanistan ist noch nie so hoch wie jetzt gewesen. 65 Prozent der 50 000 Witwen in Kabul sehen im Selbstmord eigentlich die Erlösung ihres miesen Lebens. 95 Prozent der Frauen in Afghanistan leiden an Depressionen. Die Lebenserwartung der Frauen ist dort nur 44 Jahre. 80 Prozent der Heiraten werden nach wie vor erzwungen ... Und 54 Prozent der neugeborenen Kinder sind unterentwickelt. Dabei gibt es nur ein einziges öffentliches Kinderkrankenhaus und nur eins von fünf Mädchen besucht die Grundschule, eins von 20 Mädchen besucht eine aufbauende, eine Secondary School. 200 000 junge Mädchen und Jungen sind vollkommen von jedem Schulbesuch ausgeschlossen. Die UNICEF sagt, dass 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen keinen Schulzugang haben. Welche Zeitung bringt das eigentlich?

Nicht die Afghanen die immer wieder eingeladen werden vom Auswärtigen Amt, wie z. B. der Abgeordnete Gulabzoy, den ich zitiert habe. Wir haben diese Zahlen von einer jungen Abgeordneten, Malalai Joya, die nicht vom Auswärtigen Amt, sondern von unserer Fraktion, von unserer Kollegin Heike Hänsel eingeladen worden ist. Diese Abgeordnete bringt solche Zahlen des Elends, des Desasters - nach einer Zeit von insgesamt sechs Jahren (der Besetzung Afghanistans - AR.)

Nur zwei Prozent der Bevölkerung haben trotz der Aufbauleistung, von der immer wieder geschwärmt wird, Zugang zur Elektrizität. 60 Prozent leben nach den Angaben der Menschenrechtskommission in Kabul unter der Armutsgrenze. Und 50 Prozent leiden unter Arbeitslosigkeit. Im kommenden Winter werden über 400 000 unter Armut und Hunger leiden. Und das nach sechs Jahren, ich wiederhole es, Wiederaufbauteams, ISAF, ODeF, Nato-Präsenz. Das ist die Realität im Augenblick in Afghanistan.

"Die offenste Wirtschaft der Region"

... Die Bundesagentur für Außenwirtschaft hat in ihrem Jahresbericht 2004 und 2005 Afghanistan als "eine der offensten Wirtschaften überhaupt, die offenste Wirtschaft in der Region" charakterisiert. Da gibt es keine Handelsbeschränkung, keine Subventionen und aufgeschlossen ist dieses Land für Investitionen - also ein Dorado für Handels- und Industrieunternehmen. Man muss dabei wissen, 90 Prozent der Waren, die dort gehandelt werden, sind Importe. Wenn man z. B. einen Gouverneur an der Ostgrenze besucht, wie das bei meinem Besuch im Juni war, so bekommt man zum Frühstück Honig aus Iran, Marmelade aus Pakistan, die Butter und den Käse aus Holland. Nichts war dort aus Afghanistan, außer das Brot. Es gibt nur Trockenfrüchte und Brot, das in diesem Land noch hergestellt wird. Es ist industriell vollkommen zusammengebrochen. Es gab einmal eine Industrie.

Die investiven Staatsausgaben werden sämtlich durch internationale Gebergemeinschaften investiert, die Zoll- und Steuereinnahmen sind auf 200 Mio. US-Dollar gesunken. Das sind gerade 4,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.

Man ist dabei hier ein neoliberales El Dorado aufzubauen. In einem an sich armen, aber vielleicht sehr zukunftsträchtigen Land. ... Das einzige, das sehr erfolgreich ist, ist die Schlafmohnproduktion. Sie ist im Jahre 2005 bis 2006 um 59 Prozent gestiegen. Trotz Krieg, trotz Anti-Terror-Kampf usw. Sie ist im Jahre 2006 bis 2007 von 165 000 ha auf 193 000 ha angestiegen, also fast 30 000 ha. Und in der Produktion von 6 200 t auf 8 100 t. Das sind jetzt 93 Prozent der Weltproduktion an Schlafmohn und an Opium.

... während des Krieges, wo eigentlich nichts läuft, hat sich auch in den Kriegsgebieten eine Produktion ausgedehnt, die im Augenblick die einzige Grundlage einer funktionierenden Wirtschaft ist.

Wer beherrscht Afghanistan?

... Ein renommierter internationaler Think Tank hat jetzt festgestellt, dass bereits in über 50 Prozent des Landes - und zwar nicht nur im Süden - die Taliban die Oberherrschaft haben. Sie befürchten, dass sich das Land teilen wird. Und dass diese Situation auch nicht umkehrbar ist. Sie gehen von einer Irakisierung dieses Krieges aus. Das machen sie unter anderem fest an den Selbstmordattentaten. Diese waren als Kampfform in Afghanistan völlig unbekannt. Von 2001 bis 2004 gab es ganze 5 Selbstmordattentate. Im folgenden Jahr 2005 gab es dann schon 17. Im Jahre 2006 123 und im Jahre 2007 131. Auch eine andere Form des Irakkrieges hat geradezu überall Platz gegriffen, nämlich die Setzung von Landminen. Eine Kampfform, die den Gegner unter größten Stress und in Panik versetzt.

Ein anderer Kronzeuge dieser Situation ist Lord Ashdown, bekannt als Hoher Kommissar in Bosnien, ein "harter Hund". Der soll nun Tom Koenigs von den Grünen ablösen, der bisher Repräsentant der UNO in Kabul gewesen ist. In seinen jüngsten Interviews nach seiner Ernennung sagt Ashdown: "Afghanistan ist verloren." Die Nato habe in Afghanistan verloren und ich zitiere ihn: "Ich glaube, verlieren in Afghanistan, ist schlimmer als verlieren im Irak. D. h. dass Pakistan fallen wird. Und das wird ernsthafte Auswirkungen auf die Situation in unseren eigenen Ländern haben. Das wird einen größeren schiitisch-sunnitischen Krieg auf einer höheren Stufenleiter nach sich ziehen." Ich bin bei solchen Prognosen skeptisch, sie sind ja auch immer gemacht, um dann gewisse Konsequenzen daraus zu ziehen. Seine Konsequenz ist denn auch: massive Truppenaufstockung. Das wird seine Botschaft sein, wenn er in Kabul übernimmt.

Die Legende von ISAF und OEF

Wir müssen auch mit einer weiteren Legende aufräumen, die von Verteidigungsminister Jung, und leider auch von anderen politischen Kräften bis hin zu den Grünen, vorgetragen wird. Das ist die Trennung von ISAF und OEF.

Ich kann inzwischen zahllose Zitate von Kommandeuren der USA, aber auch der Nato bringen. Diese Trennung wird nur aufrecht erhalten als eine Legende für die Europäer, weil sie Schwierigkeiten haben mit dieser "Verbindung" von Krieg und Wiederaufbau. Letztendlich sind ISAF und OEF austauschbar.

Bei meinem Besuch im Juni dieses Jahres habe ich schon in Paktia, einer östlichen Provinz, erlebt, dass mir ein UNO-Beamter sagte, neulich seien 4 000 OEF-Spezial-Forces in ISAF-Krieger umgewandelt worden. Das ist möglich, wenn man nur den Tac, den man mit irgendeinem Klettverschluss festmacht, einfach umwidmet. Dann ist man plötzlich ISAF. Das kann man genauso wieder rückgängig machen. Das heißt es gibt in der Praxis definitiv keine Unterscheidung mehr.

Der Bruch der Genfer Konvention

... Dieser Krieg ist schon lange nicht mehr der Genfer Konvention unterworfen. Das humanitäre Völkerrecht ist nicht mehr das Koordinatensystem für die Eingriffe, sondern das Koordinatensystem ist der Gegner. Man argumentiert: Wenn der Gegner gegen das humanitäre Völkerrecht verstößt, was er in der Tat tut, dann können wir uns nicht dessen Restriktionen auferlegen lassen, weil es dann keine Parität im Kampffeld gibt. Das ist die Logik dieses Kampfes ... Dieser Krieg ist schon lange ein schmutziger Krieg geworden. Allmählich werden die Meldungen nicht nur durch tote Zivilisten, sondern durch Fälle der Misshandlung, der Folter der willkürlichen Erschießung durchmischt. Die US-amerikanische Zeitung "The Nation" hat vor kurzem Interviews mit 50 ehemaligen Soldaten gebracht, die jetzt auf deutsch in der Zeitung "Mittelweg 36" veröffentlicht worden sind. Und zusätzlich hat die "American Civil Liberty Union" im September dieses Jahres 10 000 Seiten der Dokumentation von Übergriffen amerikanischer und alliierter Truppen in Afghanistan und im Irak gegenüber Zivilisten veröffentlicht, was darin wohl steht?

Wenn man sich nur die paar Seiten der Interviews mit den ehemaligen GI´s, die jetzt gesprochen haben, durchliest, dann kann man sich vorstellen, was für eine Brutalität der Fakten, was für eine grenzenlose Verrohung, was für eine Entfesselung äußerster Rücksichtslosigkeit in diesem Krieg der Fall sind, und auch die Missachtung jeder Mitmenschlichkeit, an der viele GI´s zugrunde gegangen sind - auch dort ist die Selbstmordrate sehr hoch. Von denen kommen viele, wenn sie zurückgekehrt sind, in psychiatrische Behandlung. Jetzt sprechen sie ...

Verrohung und Privatisierung

... Über 30 Prozent der Soldaten in Afghanistan sollen Opfer der Minen sein. Das hat eine ungeheure Wirkung auf die Soldaten. Sie ziehen sofort blank und schießen Salven ab, gegen Zivilisten, die sie nicht identifiziert haben. Denn ihnen wird auch gesagt, jeder Afghane, der auf dich zugeht, ist ein Terrorist, den musst du umlegen. Dies ist das Problem. Das heißt, verängstigte und - nehmen wir einmal an - gut ausgebildete Soldaten sind unter dem Terror ihrer eigenen Angst nicht anders zu halten als dass sie bei der ersten Gelegenheit mit den Waffen, die sie zur Genüge um sich herumtragen, auch losschießen, egal wen es trifft. Hinzu kommt etwas, das auch bekannt ist. Im Irak stehen im Augenblick so gut wie 130 000 Soldaten. Das ist nur die Hälfte dessen, was dort an Militär steht. Es gibt 160 000 Söldner von Privatfirmen. Das ist etwas, was auch in Afghanistan gang und gäbe ist. Das sind die so genannten Sicherheitsfirmen, 90 an der Zahl, 35 haben nur eine Lizenz. Die kanadischen Soldaten z. B. werden alle durch solche Privatfirmen geschützt. Zwischen 18 500 und 28 000 solcher Söldner gibt es. Nehmen wir 25 000. Das sind aktive Militärs. Und, wie wir aus den Diskussionen wissen, sie unterliegen faktisch keiner Kontrolle. ... Das ist eine Truppe, die nur an Cash interessiert ist, den sie nach Hause bringen wollen, wenn sie denn dahin kommen ...

* Aus: UZ, 51/52, 21. Dezember 2007


Zu weiteren Beiträgen über Afghanistan

Zur Bundeswehr-Seite

Zum Friedenspolitischen Ratschlag 2007

Zurück zur Homepage