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Sackgasse Hindukusch? Obama und die Überprüfung der US-Afghanistan-Strategie

Ein Beitrag von Anna Engelke aus der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien"


Andreas Flocken (Moderation)
In dieser Woche hat das Bundeskabinett die Verlängerung des Bundeswehr-Mandats für Afghanistan beschlossen. Die ersten Soldaten sollen Ende dieses Jahres abgezogen werden – vorausgesetzt, die Lage lässt dies zu. So lautet der Formelkompromiss nach dem Streit zwischen Verteidigungs- und Außenminister, ob ein Abzugsdatum genannt werden sollte. Allerdings: wie es am Hindukusch weitergeht, das wird letztlich nicht in Berlin entschieden, sondern in Washington. Präsident Obama will bereits im Sommer die ersten Soldaten abziehen. Nach seinem Amtsantritt hat Obama den Afghanistan-Krieg zur Chefsache gemacht. Auch, weil er mit den von seinen Spitzenmilitärs vorgelegten Optionen unzufrieden war. Das hat der Journalist Bob Woodward in seinem Buch „Obama‘s Wars“ deutlich aufgezeigt. Das Buch erscheint in der kommenden Woche in deutscher Übersetzung. Anlass für Anna Engelke, mit Bob Woodward über Obamas Afghanistan-Strategie zu sprechen:


Manuskript Anna Engelke

Das besondere an der amerikanischen Strategie für Afghanistan ist: der Präsident höchstpersönlich hat sie erarbeitet. Im Sommer 2009 traf sich Barack Obama über Monate hinweg immer und immer wieder mit seinen wichtigsten Beratern auf der Suche nach der richtigen Strategie. Mit dem, was ihm vor allem die Militärs lieferten, war er allerdings unzufrieden, erzählt Investigativ-Journalist Bob Woodward:

O-Ton Woodward (overvoice)
„Er hat auf mehr Optionen bestanden und keine bekommen. Er sagte: ‚Das ist unakzeptabel‘.“

Bob Woodward - der durch die Enthüllung der Watergate-Affäre berühmt geworden ist - hat für sein neues Buch mit mehr als einhundert Leuten gesprochen:

O-Ton Woodward (overvoice)
„Verteidigungsminister Gates sagte:Ja, Herr Präsident. Wir schulden Ihnen eine andere Alternative. Aber er hat sie nie bekommen. Und deswegen musste er seinen eigenen Plan entwickeln.“

Denn das Militär versuchte, Obama eine höhere Truppenzahl unterzujubeln als er wollte. 40.000 Soldaten zusätzlich. Vizepräsident Biden kam aus der entgegengesetzten Richtung. Er wollte lediglich um die 10.000 Soldaten schicken, die gezielt in den Antiterrorkampf einsteigen sollten. Biden war dagegen, Aufständische im großen Rahmen zu bekämpfen. Zum Schluss hat sich Präsident Obama entnervt hingesetzt und seine eigene Afghanistan-Strategie formuliert:

O-Ton Woodward (overvoice)
„Ist das nicht interessant, dass er seinen Plan diktiert hat? Er sagte: ‚Ich will keine Unklarheiten‘. Und das waren seine endgültigen Befehle für das Militär und sein Sicherheitsteam.“

30.000 zusätzliche Soldaten und ein Puffer von zehn Prozent - mehr nicht. Für das Vertrauen zwischen dem Oberbefehlshaber der Streitkräfte und seinen Militärs war der Verlauf dieser Debatte nicht zuträglich. Und deswegen hat Bob Woodward sein Buch auch „Obamas Kriege“ genannt, denn es geht nicht nur um den Afghanistan-Krieg des Präsidenten:

O-Ton Woodward (overvoice)
„Der andere Krieg ist der zwischen dem Militär und dem Weißen Haus, der auch noch nicht beigelegt ist.“

Genauso wenig wie der Afghanistan-Krieg. Seit vergangenem Herbst sind jetzt die 30.000 zusätzlichen Soldaten am Hindukusch. Die US-Truppenstärke ist damit auf mehr als 100.000 gestiegen. Zwei Drittel der westlichen Streitkräfte stellen die USA. In der Bestandsaufnahme seiner Afghanistan-Strategie sprach Obama im vergangenen Dezember zwar von „bedeutenden Fortschritten“, jedoch versehen mit einem dicken „Aber“:

O-Ton Obama
„I want to be clear: This continues to be a very difficult endeavor.“

„Ich will klar sagen, das bleibt ein sehr schwieriges Unternehmen“, so Obama Mitte Dezember. Die Kernpunkte seiner Strategie, das war nicht nur die Erhöhung der Soldatenzahl um 30.000, sondern parallel dazu afghanische Sicherheitskräfte auszubilden und mit ihnen gemeinsam Al Qaida sowie Taliban-Kämpfer niederzuschlagen:

O-Ton Obama (overvoice)
„Der Fortschritt ist langsam und fordert einen hohen Preis - nämlich das Leben unserer Männer und Frauen in Uniform. In vielen Gegenden sind unsere Zugewinne noch zerbrechlich und umkehrbar, aber es ist keine Frage: wir entziehen den Taliban zunehmend die Kontrolle und mehr Afghanen kehren in ihre Gemeinden zurück.“

Dass Obamas Strategie in Teilen funktioniert - vor allem militärisch - das meinen inzwischen einige. Wie Bill Harris, ein ehemaliger US-Diplomat in Afghanistan und mittlerweile pensioniert:

O-Ton Harris (overvoice)
„Ja, wir haben genug Soldaten. Zum ersten Mal können wir überall im Süden gleichzeitig kämpfen. Das war in den vergangenen Jahren zu keinem Zeitpunkt möglich. Außerdem haben wir zivile Experten und genug Geld. Also, Präsident Obama hat Anerkennung dafür verdient, dass er die Anstrengungen in Afghanistan verdoppelt hat.“

Obama braucht den Fortschritt. Dringend. Denn die Amerikaner haben keine Lust mehr auf diesen Krieg mit inzwischen mehr als 1.400 toten US-Soldaten. Am 7. Oktober 2001 haben die USA ihn begonnen. Der Krieg wird also bald zehn Jahre alt. Ein Geburtstag, den niemand feiern will. Wie alle anderen westlichen Staaten will auch die Obama-Regierung ihre Soldaten lieber heute als morgen aus Afghanistan abziehen. Aber Abzug klingt so nach Aufgeben, deswegen nennen es die NATO und auch der amerikanische Präsident lieber eine „neue Phase“:

O-Ton Obama (overvoice)
„Die afghanischen Sicherheitskräfte beginnen ab diesem Jahr, mehr Verantwortung zu übernehmen. 2014 wird diese Phase abgeschlossen sein.“

Dieser Punkt von Obamas Strategie - Beginn des Abzugs der US-Soldaten in diesem Jahr - ist schon seit jeher umstritten. Weniger als ein Jahr nach dem Aufstocken der Truppen sollen die ersten Soldaten schon wieder gehen? Was für ein Zeichen ist das für die Taliban? Barack Obama wollte dieses Datum vor allem aus politischen Gründen: im November 2012 ist in den USA Präsidentschaftswahl und da will Obama sagen können, dass er den unbeliebten Afghanistan-Krieg beendet - oder zumindest damit angefangen hat. Dass dies wohl nicht mehr wird als ein klitzekleiner Anfang, das lassen die Worte von Verteidigungsminister Robert Gates ahnen:

O-Ton Gates (overvoice)
„In der Frage, wann die Truppen rausgehen, hat der Präsident klargemacht, dass das von den Bedingungen in Afghanistan abhängt. Was nach Juli 2011 kommen wird, das wissen wir zurzeit nicht. Unsere Hoffnung ist, dass mit mehr Fortschritt auch das Tempo der Truppenreduzierung zunimmt.“

Der Beginn des Rückzugs bereits in diesem Jahr hat beim afghanischen Präsidenten Hamid Karsai das ohnehin schon vorhandene Misstrauen gegenüber der Obama-Regierung noch weiter verstärkt, erklärt Vanda Felbab-Brown, Expertin für nationale Sicherheitsfragen am angesehenen Washingtoner Brookings-Institut:

O-Ton Felbab-Brown (overvoice)
„Jetzt haben wir das Schlechteste aus beiden Welten. Karsai hat seine Regierungsfähigkeit nicht verbessert. Und gleichzeitig misstraut er uns mehr als je zuvor.“

Das Verhältnis zwischen dem Weißen Haus und Karsai ist mies. Die Obama-Regierung sieht Afghanistan als ein Fass ohne Boden. Milliarden von Dollar versickern dort und Karsai tut zu wenig. Es gibt kaum verlässliche Behörden, eine funktionierende Justiz oder weniger Korruption. Aber ein unzuverlässiger Präsident in Kabul ist nur eins der Probleme, die die USA mit ihrem Krieg in Afghanistan haben. Das andere große Problem ist Pakistan und die Tatsache, dass sich die Taliban ins dortige Grenzgebiet zurückziehen um wieder Kräfte zu sammeln. Der ehemalige US-Diplomat Bill Harris:

O-Ton Harris (overvoice)
„Die Rückzugsgebiete sind für mich das Entscheidende. Ich weiß nicht, wie wir gewinnen können, ohne dass diese Zufluchtsstätten geschlossen werden.“

Washington drängt Pakistan schon seit Jahren zu einem entschiedeneren Vorgehen im Grenzgebiet nach Afghanistan - mit mäßigem Erfolg. Die Taliban in Pakistan und die Untätigkeit des afghanischen Präsidenten Karsai - dagegen muss sich die US-Regierung dringend etwas einfallen lassen. Denn die meisten sind sich einig: 2011 ist das entscheidende Jahr für den Afghanistan-Krieg und für Obamas Strategie. Buchautor und Journalist Bob Woodward:

O-Ton Woodward (overvoice)
„Wenn die Strategie funktioniert, dann ist Obama das neue strategische Genie, der neue Clausewitz. Wenn sie nicht funktioniert, werden Demokraten, Republikaner und das Militär sagen: das ist nicht das, was wir vorgeschlagen haben. Das ist das, was sich Obama ausgedacht hat.“

* Aus: NDR Info; STREITKRÄFTE UND STRATEGIEN; 15. Januar 2011; www.ndrinfo.de


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