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NATO eröffnet neue Front

Brüssel übernimmt Kommando über Militäreinsätze in ganz Afghanistan. Anhaltender Krieg zwingt laut UNO Zehntausende Menschen zur Flucht

Von Rüdiger Göbel *

Die NATO hat am Donnerstag den Einsatz ihrer ISAF-Truppe nun auch auf den Osten Afghanistans ausgeweitet und damit das Kommando über militärische Einsätze am ganzen Hindukusch übernommen. Von einer »Übernahme der Kontrolle über das gesamte Land«, wie die Agentur AP gestern schrieb, kann allerdings keine Rede sein. Knapp fünf Jahre nach Beginn des US-Krieges gegen Afghanistan stehen die Besatzungstruppen gleich in mehreren Provinzen unter schwerem Beschuß von Widerstandskräften, die hierzulande in der Regel als »Taliban-Kämpfer« diffamiert werden. Am vergangenen Wochenende hatte die BBC berichtet, eine Militärbasis der britischen Armee in der Südprovinz Helmand sei über mehrere Wochen belagert und so beständig aus allen Richtungen angegriffen worden, daß selbst eine Nachschubversorgung aus der Luft kaum möglich war. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind mittlerweile mehrere zehntausend Afghanen auf der Flucht vor den Kampfhandlungen.

Ungeachtet dessen halten die Spitzen der Besatzungstruppen markige Reden. Die NATO übernahm am Donnerstag das Kommando über rund 12000 der im Osten Afghanistans stationierten US-Soldaten. Das ISAF-Kontigent ist damit auf rund 30000 Soldaten angewachsen. 8000 weitere US-Amerikaner führen zudem im Rahmen der Operation »Enduring Freedom« auch zukünftig unter eigener Regie Krieg in der Region. Angesichts des Stabswechsels sprach der britische ISAF-Kommandeur Generalleutnant David Richards von einem »historischen Schritt«. Die Übergabe verdeutliche »das anhaltende Engagement der NATO und ihrer internationalen Partner für die Zukunft dieses großartigen Landes«, schwärmte Richards, der am Donnerstag zum Vier-Sterne-General befördert wurde. Vor zwei Monaten hatte die NATO bereits ihren Einsatz vom Norden und Westen Afghanistans auf den Süden ausweitet.

US-Generalleutnant Karl Eikenberry erklärte gestern bei einer kleinen militärischen Feierstunde, die Zusammenlegung werde die Truppe »effektiver« und »flexibler« machen. Die US-geführte Kriegskoalition behält demnach die Kontrolle lediglich über den Stützpunkt Bagram – einschließlich der dortigen Gefängnisse und Folterzentren. Auch eine Hubschrauber-Einheit in Kandahar bleibt unter US-Aufsicht.

Das UN-Flüchtlingshilfswerk ­UNHCR schlug unterdessen Alarm. Wegen der Kämpfe zwischen der ­NATO-geführten Besatzungstruppen und Besatzungsgegnern hätten im Süden des Landes bis zu 90000 Menschen die Flucht ergriffen. Rund 15000 Familien seien vor den NATO-Offensiven geflohen. Betroffen seien vor allem die Provinzen Kandahar, Urusgan und Helmand. Die NATO selbst behauptet, bei der verschärften Offensive im Süden Afghanistans – in die auch die Bundeswehr involviert ist – seien mehr als tausend islamische Kämpfer ums Leben gekommen. Zudem sollen 19 ISAF-Soldaten und mehr als 50 afghanische Zivilisten getötet worden sein. Ein Kommandeur der NATO sprach von »den schwersten Kämpfen seit dem Korea-Krieg«. »Es ist der schlimmste Ort, an dem ich je war«, zitierte die britische BBC den für seinen Irak-Einsatz ausgezeichneten Stabsgefreiten Trevor Coult. »Es ist schlimmer als Bagdad. Es läßt Bagdad im Vergleich hiermit aussehen wie einen Spaziergang im Park.«

* Aus: junge Welt, 6. Oktober 2006


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