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NATO feiert Abzug

Offizielle Übergabe der Leitung der Aufstandsbekämpfung in Afghanistan an die einheimischen Streitkräfte. Praktisch ändert sich kaum etwas

Von Knut Mellenthin *

Mit immer noch 97000 ausländischen Soldaten, darunter 68000 US-Amerikaner, simuliert die NATO ihren »Abzug aus Afghanistan«. Am Dienstag übergab die westliche Allianz mit einer spektakulär aufgemachten Feierstunde in der Hauptstadt Kabul die gesamte »Leitung« der Aufstandsbekämpfung offiziell an das einheimische Militär. »Wir werden fortfahren, den afghanischen Sicherheitskräften zu helfen, wenn das nötig ist. Aber wir werden die Operationen nicht länger planen, durchführen oder leiten«, verkündete NATO-Chef Anders Fogh Rasmussen. »Und zum Ende 2014 wird unsere Kampfmission abgeschlossen sein«, wiederholte er eine vielgebrauchte Propagandalüge. Präsident Hamid Karsai assistierte ihm mit der Aussage, dies sei »ein historischer Tag« und für ihn selbst »ein Moment persönlichen Stolzes«.

Trotzdem: Viel ändern wird sich nach dem Festakt, an dem zahlreiche ausländische Diplomaten teilnahmen, nicht. Für 312 der 403 Bezirke des Landes galt schon seit Dezember 2012, daß dort Afghanen formal die »Leitung« der Operationen haben. Hinzugekommen sind jetzt Bezirke in den südlichen und südöstlichen Provinzen, die Hochburgen der Taliban und anderer Aufständischer sind. Für jene Bezirke, in denen die einheimischen Streitkräfte schon länger die »Leitung« haben, gibt es eindeutige Erfahrungen, die die Ahnung bestätigen, daß US-amerikanische und andere NATO-Truppen sich selbstverständlich nicht afghanischen Kommandos unterordnen, sondern – soweit sie an Operationen beteiligt sind – der führende Teil der »Partnerschaft« bleiben.

Das wird sich schon aus materiellen Gründen nicht so bald ändern: Die afghanischen Sicherheitskräfte verfügen nicht über die Nachschubkapazitäten, die Kommunikationstechnik, die Aufklärungsmittel, die Artillerie und die Luftunterstützung, die sie zu selbständigen Operationen befähigen könnten, selbst wenn sie dazu aufgrund ihrer Strukturen und ihrer Ausbildung in der Lage wären – was sie jedoch größtenteils gar nicht sind. Hinzu kommt, daß die Spezialeinheiten der USA auch weiterhin einen von Kabul nicht kontrollierten eigenen Krieg führen und für diesen sogar einheimische Milizen rekrutieren. Es steht schon jetzt fest, daß diese sogenannte Terrorismusbekämpfung auch nach dem angeblichen Truppenabzug, der Ende 2014 gefeiert werden wird, auf Jahre hinaus beibehalten werden soll.

Offen oder zumindest noch nicht bekannt ist jedoch, mit wieviel Soldaten die NATO nach dem »Abzug« in Afghanistan präsent bleiben will. Führende US-Militärs empfehlen allein für das US-Kontingent eine Zahl um die 13600, wozu noch 6000 bis 7000 Soldaten der Verbündeten kommen sollen, zusammen also ungefähr 20000. Eine Anfang Juni bekannt gewordene Studie des Center for a New American Security empfiehlt, zusätzlich zu den US-Truppen, die nach 2014 längerfristig in Afghanistan stationiert werden sollen, noch mehrere tausend Soldaten für zwei oder drei Jahre als »Überbrückungsstreitmacht« dort zu lassen, um Defizite der einheimischen Sicherheitskräfte auszugleichen. Zu den Verfassern gehören General John Allen, der bis vor kurzem Oberbefehlshaber in Afghanistan war, und die ehemalige Pentagon-Staatssekretärin für Politik – das entspricht dem dritten Rang in der Ministeriumshierarchie – Michèle Flournoy.

Die afghanischen Sicherheitskräfte wurden in nur sechs Jahren von weniger als 40000 auf 350000 Mann aufgebläht. Abgesehen von wenigen Spezialeinheiten sind sie von professionellen Standards weit entfernt. Viele Soldaten können kaum lesen und rechnen. Die Desertionsrate ist hoch und auch die Zahl der eingeschleusten Taliban groß. Die eine liegt bei mehreren tausend Mann monatlich, die andere ist nicht zuverlässig einzuschätzen. Die Kosten sind so hoch, daß Afghanistan allein dafür jährlich mehrere Milliarden Dollar Zuschuß benötigt.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 19. Juni 2013


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