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Auch nach 2014 präsent – NATO plant ISAF-Nachfolge-Mission für Afghanistan

Ein Beitrag von Christoph Prößl aus der NDR-Sendung "Streitkräfte und Strategien" *


Andreas Flocken (Moderator):
Ende 2014 soll in Afghanistan die NATO-geführte ISAF-Mission beendet werden. Dann sollen die Afghanen selbst für Sicherheit und Stabilität im Land sorgen. Doch in der breiten Öffentlichkeit ist kaum bekannt: auch nach einem Abzug der Kampftruppen wird die NATO in Afghanistan weiterhin mit Soldaten präsent sein – wenn auch mit einem kleineren Kontingent als bisher. Die Bundeswehr wird ebenfalls Soldaten für den neuen Einsatz stellen. Es sind aber noch viele Fragen offen. Christoph Prößl berichtet:


Manuskript Christoph Prößl

ISAF heißt bald ITAAM. Für die Nachfolge-Mission der NATO in Afghanistan steht noch nicht viel fest – mit Ausnahme des Namens. Und selbst hier ist noch unklar: Soll das Kürzel ITAM zwei As beinhalten oder nur eines? Die Buchstaben stehen für Internationale Trainings- und Ausbildungs-Mission. Bundesverteidigungsminister de Maizière:

O-Ton de Maizière
„Die Regierungschefs haben in Chicago, zu diesem neuen Mandat wörtlich beschlossen: This is not a combat mission. Das heißt auf Deutsch: das ist keine Kampfmission. Und deswegen ist es eine Ausbildungs- und Beratungs- und Unterstützungsmission.“

Doch viel mehr Vorgaben haben die Staats- und Regierungschefs der NATO auf ihrem Gipfel im Mai dieses Jahres in Chicago nicht gemacht. Die militärischen Planer gehen nun ans Werk. Alle ISAF-Nationen werden sich wohl nicht an der neuen Mission beteiligen. Beim Treffen der NATO-Verteidigungsminister in Brüssel vor rund zwei Wochen wurde allerdings deutlich, dass sich die großen Truppensteller auch über 2014 hinaus am Hindukusch engagieren wollen - auch Deutschland. Innerhalb der Bundeswehr liebäugeln offenbar viele mit dem Gedanken, auch weiterhin im Norden des Landes aktiv zu bleiben, dort, wo deutsche Soldaten schon jetzt präsent sind. Doch es gibt noch viele offene Fragen. Erste Unklarheit: Wie viele Soldaten werden im Land bleiben? Vor allem Ausbilder und Berater sollen nach 2014 die Afghanen unterstützen. Doch auf einen Ausbilder kommen rechnerisch sechs weitere Männer oder Frauen, die für den Schutz des Militärberaters sorgen, für die medizinische Versorgung, Unterkunft, Transport und Fernmeldewesen. Diese Strukturen sollen von den künftigen Truppenstellern gemeinsam aufgebaut und getragen werden, so die Vorstellung im Bündnis. Dass die NATO beim Planungsprozess noch ganz am Anfang steht, wurde beim Treffen der Verteidigungsminister vor zwei Wochen deutlich. Bundesverteidigungsminister de Maizière:

O-Ton de Maizière
„Wir wissen ja noch nicht genau, wie die Sicherheitslage Anfang 2015 ist. Deswegen wird man darüber sicher zu beraten haben. Das hängt auch davon ab, wo die Ausbildung im Einzelnen stattfindet. Wird es regionale Zentren geben, wird es die nicht geben? All das wird erst jetzt zu beraten sein auf der Basis, die wir morgen abstecken.“

Dazu kommen weitere Fragen: Wie viel Sicherheit können ab 2015 die Afghanen bereit stellen? Wie wird es zum Beispiel um die Einsatzbereitschaft der afghanischen Luftwaffe bestellt sein? Kann sie eigene Militäroperationen wirksam aus der Luft unterstützen? Derzeit verfügt das afghanische Militär über 50 Hubschrauber vom Typ Mi-17. Jan Kordys, Journalist für das Fachblatt Europe Diplomacy and Defence:

O-Ton Kordys (overvoice)
„Derzeit werden diese Hubschrauber vor allem zur Ausbildung weiterer Piloten genutzt. Ob das afghanische Militär für die Zeit nach 2014 eine ausreichende Kapazität hat? Nein, das glaube ich nicht.“

Dabei sind Hubschrauber in dem zerklüfteten Land besonders wichtig. Nur so können Truppen schnell verlegt und kämpfende Einheiten zügig unterstützt werden. Benötigt werden sie auch für den Transport verwundeteter Soldaten.

O-Ton Kordys (overvoice)
„Die Schwierigkeit dieser neuen Mission wird sein, die Unterstützung dafür zu definieren. 352.000 afghanische Sicherheitskräfte können noch nicht über alle Kapazitäten und Fähigkeiten verfügen, die nötig sind, um Aufständische und Taliban selbständig zu bekämpfen.“

Sagt der Militärexperte Jan Kordys. Zweite offene Frage: Der rechtliche Rahmen. Bundesverteidigungsminister de Maizière:

O-Ton de Maizière
„Die Fragen, die dabei zu klären sind: wir brauchen selbstverständlich eine Einladung der afghanischen Regierung, wir streben auch ein Mandat der Vereinten Nationen, des UNO-Sicherheitsrates an.“

Dazu kommt, dass die Mitgliedsstaaten der NATO, die sich an einer Nachfolgemission beteiligen, die Zusage der afghanischen Regierung verlangen, dass ihre Soldaten strafrechtlich nicht durch afghanische Behörden zur Verantwortung gezogen werden und praktisch Immunität genießen. Bei internationalen Einsätzen unterliegen die Soldaten eigentlich nur der Gerichtsbarkeit der Entsender-Staaten. Doch Afghanistans Präsident Karsai will den Truppenstellern der neuen NATO-Mission diese Zusage nicht mehr geben. Während eines Besuchs von NATO-Generalsekretär Rasmussen in Kabul Mitte Oktober sagte Karsai, das afghanische Volk könnte der Regierung nicht erlauben, diese Immunität zuzugestehen, wenn die Sicherheitslage im Land schlecht sei. Eine offene Drohung – und ein Machtspiel.

Dritte offene Frage: Verläuft die derzeitige ISAF-Mission erfolgreich? Das heißt, wird die Sicherheitslage Ende 2014 wirklich so sein, dass die Kampftruppen abziehen können und die Nachfolgemission erfolgreich starten kann? NATO-Generalsekretär Rasmussen beantwortet die Frage mit einem klaren Ja.

O-Ton Rasmussen
„Our strategy is working and our timeline remains unchanged."
„Unsere Strategie geht auf und unser Zeitplan bleibt unverändert.“


Derzeit sind afghanische Polizisten und Soldaten für die Sicherheit von 75 Prozent der Afghanen zuständig – bis Ende 2014 sollen die afghanische Nationalarmee und die Polizei alleine für die Sicherheit in ganz Afghanistan verantwortlich sein.

Ein weiteres Problem: Vor allem sogenannte Insider-Attacken nehmen zu. Das heißt, afghanische Soldaten oder Polizisten schießen in den Stützpunkten oder beim Einsatz auf ihre verbündeten Soldaten und Ausbilder aus den ISAF-Nationen. Nach Angaben der NATO wurden 2011 35 Soldaten bei solchen Attentaten getötet. In diesem Jahr sind bereits mehr als 50 ISAF-Angehörige durch diese sogenannten „Green-on-Blue“-Angriffe getötet worden. 2010 waren es 20. Die NATO hat auf diese besorgniserregende Entwicklung inzwischen reagiert. Die Ausbildung und die Zusammenarbeit, zum Beispiel gemeinsame Patrouillen, wurden in einzelnen Distrikten zeitlich begrenzt ausgesetzt. Außerdem soll bei der Rekrutierung noch stärker als bisher darauf geachtet werden, dass eine Infiltration der Sicherheitskräfte durch Taliban-Anhänger verhindert wird. Zugleich werden die ISAF-Soldaten verstärkt für Konflikte sensibilisiert, wie sie zwischen Moslems und Christen entstehen können. Olivier Jehin, Chefredakteur des Fachdienstes Europe Diplomacy and Defence:

O-Ton Jehin (overvoice)
„Man kann jeden Filter mit einem weiteren Filter ergänzen. Dann wird man Schritt für Schritt die Lage sicherer machen. Aber Attentate vollständig zu verhindern – das erscheint mir sehr schwierig.“

Vor allem zeigen die Attentate in Uniform eines: Die Aufständischen in Afghanistan sind anpassungsfähig. In den vergangenen Jahren dominierten Sprengfallen die Strategie der Taliban. Nun sind es zunehmend Anschläge innerhalb der Sicherheitskräfte. Das zeige, dass auch die Taliban sich auf die neue Strategie der NATO einstellten, sagt Olivier Jehin.

Offen ist auch, wie weit Ende 2014 der zivile Aufbau in Afghanistan voran geschritten sein wird. Noch immer belastet Korruption die Gesellschaft, die wirtschaftliche Entwicklung verläuft träge, der politische Aufbau ist schwierig. Olivier Jehin:

O-Ton Jehin (overvoice)
„Die Afghanen sind sehr beunruhigt über die Zukunft! Derzeit ist gar nichts sicher und es kann sein, dass das ganze System nach dem Abzug der NATO-Truppen zusammen bricht.“

* Aus: NDR-Forum "Streitkräfte und Strategien", 3. November 2012; www.ndr.de/info


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