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Tödlicher Irrtum

Afghanistan: Gefecht zwischen NATO-Truppen und Regierungssoldaten. Bundeswehr rechnet mit gefährlicherer Lage

Von Rainer Rupp *

In der Nacht zum Samstag ist es in der afghanischen Provinz Wardak zu einem tödlichen Zusammenstoß zwischen NATO-Soldaten und einer Einheit der afghanischen Armee gekommen. Nach offizieller Darstellung soll es sich um ein Mißverständnis gehandelt haben. Angeblich sei eine nicht näher bezeichnete NATO-Einheit bei Nacht in einem Dorf unterwegs gewesen. Dabei sei sie von einem erst seit kurzem bestehenden Militärposten der afghanischen Armee unter Beschuß genommen worden. In dem darauffolgenden Feuergefecht forderten die NATO-Soldaten Luftunterstützung an. Ein Kampfbomber beendete die Schießerei. Bilanz des »Mißverständnisses« nach Angaben der Provinzregierung: vier tote und sieben verwundete afghanische Soldaten und ein zerstörter Militärposten. Ein ­NATO-Sprecher bestätigte mittlerweile den Zwischenfall, halbierte jedoch von seinem Büro in Kabul aus erst einmal die Zahl der Toten auf zwei.

Wie eine britische Nachrichtenagentur berichtet, ist die Wut unter der Bevölkerung auf die NATO groß. Zu deren Beschwichtigung hat das afghanische Verteidigungsministerium gefordert, die Verantwortlichen des Militärpakts vor ein Kriegsgericht zu stellen. Wie immer hat die NATO bereits Untersuchungen versprochen. Die bisherigen aber endeten stets mit einem Persilschein für die Verantwortlichen.

Derweil rechnete der Kommandeur der deutschen Truppen in Afghanistan, Brigadegeneral Frank Leidenberger, in einem Interview mit Bild am Sonntag damit, daß der Einsatz am Hindukusch wegen des neuen Strategiekonzepts der Bundesregierung vorübergehend gefährlicher wird: »In der Anfangsphase werden wir gemeinsam mit den afghanischen Sicherheitskräften in die bedrohten Gebiete vorgehen und dort den Gegner verdrängen. Dadurch kann es mehr Gefechte geben«. Eine erhebliche Verbesserung der Lage verspricht sich der General jedoch von den 4000 bis 5000 US-Soldaten, die von April an in dem von der Bundeswehr kontrollierten Norden des Landes ankommen werden. Allerdings dürfte dadurch die von Berlin gerne herausgestellte Unterscheidung zwischen den netten Aufbauhelfern von der Bundeswehr und den schießwütigen amerikanischen Rambos immer schwerer fallen, falls die Afghanen diese Differenz überhaupt je erkannt haben.

Das neue Strategiekonzept der Bundeswehr, wonach in Zukunft jedem Truppenteil der afghanischen Streitkräfte eine kleine deutsche, aus sogenannten »Mentoren« bestehende Partnereinheit zugeordnet wird, ist von den US-Amerikanern abgekupfert. Die afghanischen Einheiten werden von ihren »Beratern« nicht nur ständig kontrolliert und gedrillt, sondern auch unter deren Aufsicht als Kanonenfutter in die Schlacht geschickt. Das dürfte mit ein Grund dafür sein, weshalb in den letzten Monaten immer mehr Afghanen durchgedreht sind und ihre »Mentoren« erschossen haben. So auch am vergangenen Wochenende, als ein im Dienst der US-Armee stehender afghanischer Übersetzer auf einer Militärbasis zwei US-Soldaten tötete.

* Aus: junge Welt, 1. Februar 2010

"Taktische Nebelwerfer"



(...) So alternativlos der neue Militäransatz in Afghanistan angesichts der gegenwärtigen Lage scheinen mag, so verlogen ist der erneute Versuch der Bundesregierung, diese Strategie als Defensive zu verbrämen. Da mögen sich Angela Merkel, Guido Westerwelle und Karl-Theodor zu Guttenberg noch so sehr als taktische Nebelwerfer aufführen: Wenn häufiger geschossen werden muss, werden auch mehr Tote zu beklagen sein - auf allen Seiten.

Abermals hat die Bundesregierung damit die Chance verpasst, der Öffentlichkeit reinen Wein einzuschenken über die tatsächlichen Zustände in Afghanistan. Wohin ein solch verdruckster, unehrlicher Umgang mit der Wahrheit führt, hat nun der Spiegel eindrucksvoll nachgezeichnet. Die Kollegen haben detailgenau zusammengetragen, was in den vergangenen vier Monaten über den verheerenden Luftangriff von Kundus bekanntgeworden ist, bei dem damals wohl mehr als hundert Menschen getötet wurden.

Mit wirklichen Neuigkeiten kann der Spiegel zwar nicht aufwarten, doch allein die akribische Darstellung zeigt, wie sehr Merkel, Guttenberg, Franz Josef Jung und Frank-Walter Steinmeier in dieser Zeit darauf bedacht waren (und immer noch sind), nicht genauer nachzufragen. Sich nicht selbst eigene kritische Gedanken zu machen. Sich von der blutigen Realität in Afghanistan so weit es geht zu isolieren.

Aus einer Analyse von Steffen Hebestreit: "Die offensive Defensive", in: Frankfurter Rundschau, 1. Februar 2010




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