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Afghanistan-Konferenz ohne Abzugstermin

Einheimisches Militärpersonal soll in ein paar Jahren die ausländischen Truppen ersetzen

Mit einem sogenannten Strategiewechsel will der Westen Stabilität ins zerrüttete Afghanistan bringen und auf einen Abzug der ausländischen Truppen hinarbeiten. Acht Jahre nach dem Sturz der Taliban geht die afghanische Regierung auch wieder auf die Radikalislamisten zu.

Die Kontrolle über die Sicherheit soll noch 2010 schrittweise an die afghanische Polizei und Armee übertragen werden. Das geht aus der Abschlusserklärung der Londoner Afghanistan-Konferenz vom Donnerstag hervor. Präsident Hamid Karsai machte geltend, dass sein Land noch jahrelang auf ausländische Truppen und Finanzhilfe angewiesen sein werde. Der Westen will ihn aber stärker in die Pflicht nehmen.

Bundesaußenminister Guido Westerwelle sprach in London von einem »strategischen Neuanfang«. Für die deutschen Soldaten gebe es jetzt eine klare Perspektive. Im Jahr 2014 könne die »vollständige Übergabe der Verantwortung an die afghanische Regierung« gelungen sein.

Um einen Abzug zu ermöglichen, müssen nach dem Willen des Westens zuvor deutlich mehr afghanische Sicherheitskräfte ausgebildet werden. Die Konferenz erwartet, dass noch mindestens fünf Jahre ausländische Sicherheitskräfte am Hindukusch nötig sind. Im Gegenzug soll auch Karsai mehr leisten. Fortschritte bei der Korruptionsbekämpfung und der Entwicklung eigener Institutionen sollen dabei regelmäßig überprüft werden. Bis Mitte April soll es zudem eine weitere Afghanistan-Konferenz in Kabul geben.

Es beginne nun »eine neue Phase auf dem Weg zu völliger afghanischer Eigenverantwortung«, heißt es in dem Zehn-Seiten-Dokument, auf das sich Delegationen aus rund 70 Ländern geeinigt haben. Es sieht auch ein - in Afghanistan umstrittenes - Aussteigerprogramm zur Eingliederung »gemäßigter« Taliban-Kämpfer vor. »Wir müssen allen Landsleuten die Hand reichen - vor allem den enttäuschten Brüdern, die nicht Teil von Al Qaida oder anderen terroristischen Netzwerken sind«, sagte Karsai.

Auf genaue Summen für das Aussteigerprogramm oder einen konkreten Termin für den Abzug der derzeit rund 85 000 ausländischen Soldaten verständigte sich die Konferenz indes nicht. Dafür wurde eine Aufstockung der afghanischen Polizei- und Armeekräfte beschlossen. Bis Oktober 2011 werde die Zahl der Sicherheitskräfte aus dem eigenen Land bei über 300 000 liegen - 171 000 Soldaten und 134 000 Polizisten.

Die Bundesregierung stellt für den Aussteiger-Fonds 50 Millionen Euro bereit. »Wir wollen, dass junge Männer, die oft genug für 200 Dollar zu Kämpfern geworden sind, zurückkehren in ihre Dörfer«, sagte Westerwelle.

* Aus: Neues Deutschland, 29. Januar 2010

Die Dokumente der Konferenz:

"Conference Participants recognised the seriousness of the humanitarian situation" in Afghanistan
Abschluss-Communiqué und Ergebnisse der Londoner Afghanistan-Konferenz / London Conference: Communiqué and Outcomes (pdf-Datei)



Mehr Soldaten, mehr Geld

Von Gerd Schumann **

Hochrangige Vertreter von 60 Staaten und zehn internationalen Organisationen berieten am Donnerstag (28. Jan.) in London »über die Zukunft Afghanistans« (tagesschau.de). Unter dem Vorsitz von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon, dem britischen Premierminister Gordon Brown und dem afghanischen Präsidenten Hamid Karsai sollte debattiert werden, wie der Besatzungszustand unter NATO-Kommando perspektivisch beendet werden könnte. Um einen Abzug zu erreichen, solle Afghanistan bis 2014 dazu in der Lage sein, »selbst für seine eigene Sicherheit zu sorgen«. Brown sprach von einer »Afghanisierung«.

Tatsächlich wurde die proklamierte Zielvorstellung am Donnerstag oft beschworen. Real behandelt indes wurde am Konferenztisch lediglich eine Frage: Wie können die westlichen Besatzerstaaten ihren seit über acht Jahren am Hindukusch geführten Krieg doch noch gewinnen? Die Antwort aus London lautet: Mit noch mehr Soldaten und dem Einsatz von noch mehr Geld und Material. Von »neuen Strategien«, die angeblich auf der Konferenz verabschiedet werden sollten, war dagegen in der englischen Hauptstadt nichts zu spüren- es sei denn, die Abwerbeprämien in zigfacher Millionenhöhe für »gemäßigte Aufständische«, so Premier Brown, würden tatsächlich als Konzept bewertet.

Also mutet der nun behauptete Strategiewechsel eher als Akt der Verzweiflung an. Neben erwähnten Zahlungen an Überläufer, für die ein Fonds von mindestens 500 Millionen Dollar geschaffen werden soll, sieht die Planung zwei Eckpunkte vor. Einerseits eine Aufstockung der Besatzertruppen weit über die derzeit stationierten 113000 Soldaten hinaus. Das entspricht der US-amerikanischen Strategie, den Krieg gegen die Aufständischen in allen Regionen des Landes - und darüber hinaus auch auf pakistanischem Gebiet - militärisch zu forcieren. Hierfür will Washington über 30000 weitere GIs schicken, die übrigen NATO-Staaten 9000. Die Präsenz der deutschen Bundeswehr wird von 4500 um 850 Soldaten erweitert. Von diesen, erklärte Außenminister Guido Westerwelle in London, sollten sich 1400 dem »Aufbau afghanischer Sicherheitskräfte widmen«.

Des weiteren soll die »Aufstandsbekämpfung zunehmend unter afghanische Führung« gestellt werden, so das in London erneut proklamierte, nicht gerade neue Vorhaben. Es entspricht dem »Wunsch«, den Karsai am Donnerstag vortrug. Zielvorgabe ist demnach, daß Kabul bis Ende 2011 insgesamt über 171600 Soldaten und 134000 Polizisten verfügt. Allerdings meldete ausgerechnet der afghanische Präsident selbst Zweifel an den Plänen seiner noch immer nicht vollzählig vorhandenen Regierung in Kabul an: Der Zeitraum bis zum Abzug der internationalen Truppen sei auf weitere »zehn bis 15 Jahre zu veranschlagen«, meinte er und nannte als Grund »fehlende Mittel für die Finanzierung von Streitkräften und Polizei«. Zudem würden mehr Ausbilder benötigt, so der Präsident, dessen Regime sich in der Vergangenheit vor allem durch Korruption auszeichnete.

In Karsais Anwesenheit hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits am Mittwoch in Berlin vor einem schnellen Abzug aus Afghanistan gewarnt. Die »Nennung eines Datums wäre verantwortungslos«, proklamierte sie und nahm das Ergebnis der Londoner Konferenz vorweg: Der Krieg geht weiter und wird intensiviert.

** Aus: junge Welt, 29. Januar 2010


Der "Afpak"-Krieg

Strategiedebatte in London

Von Werner Pirker ***


Die Londoner Afghanistan-Konferenz stellt einen verzweifelten Versuch der westlichen »Wertegemeinschaft« dar, den Kriegskarren doch noch aus dem Dreck zu ziehen. Im neunten Jahr der bewaffneten Einmischung in afghanische Angelegenheiten ist das kriegszerstörte Land noch immer nicht befriedet. Es stellt heute für den Westen ein wesentlich größeres Problem dar, als dies vor der Militärintervention der Fall war. Auch steht die Begründung für die Besetzung Afghanistans im Herbst 2001 heute in einem äußerst zweifelhaften Licht da. Die Erzählung von der islamischen Weltverschwörung in den Höhlen des Hindukusch hat mittlerweile an Glaubwürdigkeit stark eingebüßt. Später nachgeschobene Gründe, wie die militärische Absicherung der Schulwege für afghanische Mädchen, hätten damals zur Erteilung eines derart massiven UN-Mandats wohl nicht ausgereicht.

Mit der Vertreibung der Taliban und der Einsetzung eines willfährigen Regimes in Kabul meinte die westliche Allianz, ihr Kriegsziel im wesentlichen erreicht zu haben. Doch das »Nation building«-Programm, die Zurichtung einer Nation nach westlichen Vorgaben, ließ sich in Afghanistan nicht verwirklichen. Der Westen hatte das Land im Bündnis mit den Warlords erobert, die ihre Stärke stets aus der Schwäche der Zentralmacht bezogen haben. Damit waren von Beginn der Invasion an alle Voraussetzungen für »schlechtes Regieren« gegeben. Zwischen Kabul und den Lokalmächten ergab sich ein korruptes Beziehungsgeflecht, das alle Aufbaubemühungen erstickte.

Der Teil der Bevölkerung, der sich aus dem westlichen Eingreifen eine Verbesserung der Lebensbedingungen erwartet hatte, sah sich getäuscht. Das machte die Besatzergewalt noch unerträglicher. Zumal sie sich in dem Maße intensivierte, in dem sie von der Bevölkerung abgelehnt wurde.Dieses für sie fatale Wechselspiel wollen die Okkupanten nun durchbrechen, indem sie - Stichwort: Sozialhilfe für Verzicht auf Widerstand - um die Gunst der Bevölkerung werben. Als sollte der Eindruck erweckt werden, daß es sich bei der Unterwerfung Afghanistans um ein sozial-emanzipatorisches Projekt handeln würde. Dabei geht es einzig um die soziale Ruhigstellung nationalen Widerstandes.

Je stärker das Legitimationsbedürfnis der Invasoren, desto deutlicher tritt der illegitime Charakter dieses Krieges zutage. Er ist als »War on terror« ebenso unbegründet wie als »Befreiungskrieg«. Der wirkliche Befreiungskrieg richtet sich gegen die »Befreier«, wobei das afghanische Volk sein legitimes Recht auf Widerstand gegen eine Besatzungsmacht wahrnimmt. Washington und seine NATO-Verbündeten führen einen Krieg gegen die Afghanen. Dabei geht es nicht um die Verteidigung der Sicherheit Deutschlands und anderer Länder, sondern um die Ausübung der amerikanischen Kontrolle über Afghanistan und Pakistan (»Afpak«) -und die Befähigung der NATO, US-Interessen durchzusetzen.

*** Aus: junge Welt, 29. Januar 2010 (Kommentar)


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