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Kundus-Massaker: Zivilisten auf Videos

Erster Prozeßtag in Bonn – außergerichtliche Einigung abgelehnt *

Es war einer der verheerendsten Bombenangriffe, den Afghanistan je erlebte. Auf Befehl eines Bundeswehrkommandeurs kamen vor vier Jahren, am 4. September 2009, im afghanischen Kundus mehr als 90 Menschen ums Leben. Die genaue Zahl der Opfer ist unbekannt, es wird von bis zu 142 Toten gesprochen. Das Gericht sichtete am Mittwoch erstmals öffentlich Videos, die an diesem Tag entstanden.

Im Prozeß um Schadenersatzklagen gegen die BRD sahen sich die Anwälte am Mittwoch durch die Videos in ihrer Meinung bestätigt. Klägeranwalt Karim Popal sagte der Nachrichtenagentur dpa: »Die Videoaufnahmen bei den beiden Tanklastwagen haben gezeigt, daß sich dort unorganisiert Menschen aus den umliegenden Dörfern versammelten und nicht etwa hundert Taliban.« Der Anwalt des Bundesverteidigungsministeriums widersprach: Es sei ein »diffuses Bild«, das auf den Aufnahmen aus US-Kampfjets zu sehen sei. Es sei nicht erkennbar, daß die Zivilbevölkerung »involviert« gewesen sei.

Das Bonner Landgericht, das die Infrarotaufnahmen über das Geschehen bei den Tankwagen vor dem Bombenabwurf sichtete, will am 11. Dezember eine Entscheidung über das weitere Vorgehen in diesem ersten Prozeß um Schadenersatzklagen verkünden. Hinterbliebene der zivilen Todesopfer fordern höhere Entschädigungszahlungen, da der damals zuständige Bundeswehrkommandeur Georg Klein falsch gehandelt habe. Der Oberst sah Taliban am Werk und stützte sich auf einen Informanten. Der sei nach Darstellung des Ministeriumsanwalts »verläßlich« und von »höchster Glaubwürdigkeit« gewesen.

Nach Funkprotokollen, die das Gericht auch auswertete, zogen die US-Piloten zunächst eine »Show of Force« (Zeigen von Stärke) in Betracht. Sie schlugen vor, die Menschen an den Lastern mit Tiefflügen zu verjagen. Dieses Vorgehen wurde aber von deutscher Seite abgelehnt, das direkte, tödliche Bombardement angeordnet. Das Gericht will weiter prüfen, ob ein schuldhafter Verstoß Kleins gegen Amtsverpflichtungen zum Schutz der Zivilbevölkerung vorgelegen hat. Wenn es Anhaltspunkte für eine hinreichende Verantwortung Kleins gebe, sei eine Haftung durch die Bundesrepublik möglich, sagte Richter Heinz Sonnenberger. Dann werde die Beweisaufnahme mit Zeugen fortgeführt. Doch es kann anders kommen: Eine Abweisung der Entschädigungsklage ist auch möglich.

Der Anwalt des Verteidigungsministeriums lehnte am Mittwoch eine außergerichtliche Einigung mit der Einwilligung auf eine höhere Entschädigungszahlung ab. Es gehe um die rechtliche Klärung, ob ein Bundeswehr-Oberst bei einem Nato-Einsatz haftbar sein könne. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums wurden als sogenannte »humanitäre Leistung« bereits 90 Mal je 5000 US-Dollar (rund 3800 Euro) an afghanische Familien gezahlt – insgesamt etwa 350000 Euro. Klägeranwalt Karim Popal forderte hingegen eine Gesamtentschädigung von 3,3 Millionen Euro.

* Aus: junge Welt, Freitag, 1. November 2013


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