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Krieg ohne Gnade

Von Arnold Schölzel *

Im Musterland für westliche Werte, der Bundesrepublik, zählen Menschenleben nicht viel – jedenfalls nicht die von Afghanen. Ein Jahr nach dem Luftangriff nahe Kundus hat die Bundesregierung die Vorgänge jenes Tages nicht – wie von der Bundeskanzlerin angekündigt – »lückenlos aufgeklärt«, sondern vertuscht, verschleiert und den Untersuchungsausschuß des Bundestages massiv behindert. Das tatsächliche Resultat des Angriffs ist eine Veränderung der Besatzertaktik in Afghanistan. Als »Spezialkommandos« bezeichnete geheim agierende Mordschwadronen der NATO sollen mit »gezielten Tötungen« erreichen, was Bombardements nicht erbringen. Die Ruhe an der Heimatfront ist oberstes Gebot. Angemessene Entschädigungen für die Verletzten und Hinterbliebenen wurden – selbstverständlich– nicht geleistet. Am Freitag forderte daher die Afghanische Unabhängige Menschenrechtskommission (AIHRC) Deutschland auf, den Betroffenen über die Zahlungen hinaus mit Wohltätigkeitsprojekten zu helfen. »Die deutschen Kräfte in Kundus und andere Hilfsorganisationen sollten sie weiter unterstützen«, erklärte der AIHRC-Leiter in Kundus, Hajatullah Amiri, gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. Die Menschenrechtskommission habe dies bei zahlreichen Besuchen in Deutschland und in den Gesprächen mit dem Bundesverteidigungsministerium in Berlin deutlich gemacht.

Bei dem von Bundeswehr-Oberst Georg Klein veranlaßten Luftangriff von US-Bombern gegen zwei von den Taliban entführte Tanklaster waren in der Nacht zum 4. September 2009 in der Nähe des nordafghanischen Kundus nach NATO-Angaben bis zu 142 Menschen ums Leben gekommen. Die AIHRC listete 102 Opfer auf, darunter 91 Tote und elf Verletzte. Deutschland zahlte an jede der 86 betroffenen Familien 5000 Dollar (rund 3900 Euro)– unabhängig davon, wie viele Opfer sie jeweils zu beklagen hatte.

Rückhalt haben die deutschen Besatzer aber nach wie vor bei den Vertretern der Marionettenregierung von Kabul. So erklärte der Gouverneur von Kundus, Mohmmed Omar, AFP, das Verhältnis der afghanischen Behörden zur Bundeswehr sei durch die zivilen Opfer rückblickend nicht beschädigt worden. Eine offizielle Gedenkfeier für die Opfer am Jahrestag am Samstag war nach seinen Angaben nicht geplant. Der Angriff habe trotz der getöteten Zivilisten einen Fortschritt im Kampf gegen die Aufständischen gebracht, behauptete Omar und teilte mit: »Nach unseren Geheimdienstinformationen waren 60 der Opfer Taliban.«

Selbst die Nachrichtenagentur räumte am Freitag aber ein, daß die Bundeswehr und verbündete Einheiten im Raum Kundus gegen einen besonders starken Widerstand kämpfen. Fast täglich komme es zu Gefechten. »Wir wollen den ausländischen Soldaten klar machen, daß solche Aktionen gerächt werden«, zitierte AFP Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid mit Bezug auf den Luftangriff vor einem Jahr. Die Besatzungstruppen reagieren darauf mit Mord, im Jargon »gezielte Tötung« genannt.

Unterdessen wird die von US-Präsident Barack Obama angeordnete Intensivierung des Krieges vorangetrieben. US-Verteidigungsminister Robert Gates traf am Freitag zu einem Truppenbesuch in Südafghanistan ein. Der Einsatz in der Stadt Kandahar sei von zentraler Bedeutung für den Erfolg der gesamten Afghanistan-Operation, erklärte Gates vor Soldaten im Hauptquartier Camp Nathan Smith. Siegesmeldungen bleiben aber aus, bislang steigen die Verluste der Truppe: Bis Ende August wurden in Afghanistan 316 US-Soldaten getötet, im gesamten Jahr 2009 waren es 304.

* Aus: junge Welt, 4. September 2010


Staatsräson beugt Recht

Heute vor einem Jahr ließ ein deutscher Offizier in Afghanistan weit über 100 Menschen töten. Strafrechtliche Konsequenzen hatte das nicht. Einige Anwälte wollen dies ändern

Von Frank Brendle **


Am 4. September um 01.51 Uhr entschloß ich mich, zwei am Abend des 3.September erbeutete Tanklastwagen sowie an den Fahrzeugen befindliche INS durch den Einsatz von Luftstreitkräften zu vernichten.« Mit INS sind Aufständische, »Insurgents«, gemeint.

Das teilte, einem Spiegel-Bericht zufolge, der deutsche Oberst Georg Klein am 5.September 2009 dem Generalinspekteur der Bundeswehr mit. »Vernichtet«, von US-Bombern auf deutsches Kommando, wurden damals deutlich über 100 Menschen, die meisten von ihnen unbewaffnete Zivilisten. Zum Jahrestag des Massakers finden heute in Berlin Gedenkkundgebungen statt.

Obwohl nach den ersten Berichten über den Raub der Tanklaster bis zum Bombardement über sechs Stunden vergangen waren, hatte Oberst Klein, damals Chef des »Wiederaufbauteams« in Kundus, wenig getan, um die Lage aufzuklären. Auch nach dem Angriff wurde die Schadensaufklärung hinausgezögert. Sehr schnell wurden aber offensichtlich gezielt Spuren beseitigt: Deutsche Feldjäger berichteten, sie hätten am nächsten Tag den Tatort in einem »geradezu stark gereinigten« Zustand vorgefunden. Erst nach etlichen Medien-Enthüllungen räumte der neue Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) im Dezember 2009 ein, der Angriff sei »militärisch nicht angemessen« gewesen, stellte sich aber dennoch vor Klein.

Ein Ermittlungsverfahren der Bundesanwaltschaft (BAW) gegen den Oberst wurde im April diesen Jahres eingestellt. Rechtsanwälte des »Europäischen Zentrums für Verfassungs- und Menschenrechte« (ECCHR) streben seither ein Klageerzwingungsverfahren an und werfen der BAW vor, nicht ernsthaft ermittelt zu haben. »Militär, Regierung und Justiz verfolgten gemeinsam nur ein Ziel: das Ausmaß des Angriffes zu verschleiern, um damit Oberst Klein und andere Bundeswehrangehörige zu schützen«, schreiben der Strafrechtler Wolfgang Kaleck und andere Autoren in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Kritische Justiz. Die Bundesanwaltschaft habe nur untersucht, ob ein Kriegsverbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch vorliege. Dies hätte nach Auffassung der BAW »in subjektiver Hinsicht die sichere Erwartung der Täter« vorausgesetzt, »daß der Angriff die Tötung oder Verletzung von Zivilpersonen (...) in einem Ausmaß verursachen wird, daß außer Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten (...) militärischen Vorteil steht«. Das, räumt Kaleck ein, sei Klein derzeit nicht nachzuweisen, wohl aber mehrere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht. Damit liege eine Strafbarkeit nach dem deutschen Strafgesetzbuch vor. Denn laut Genfer Konvention müsse »alles praktisch Mögliche« getan werden, um zivile Opfer zu vermeiden. Legitime Ziele seien ausschließlich »Mitglieder einer bewaffneten organisierten Gruppe«, nicht aber Personen, die beispielsweise Fahrzeuge von Aufständischen freischaufeln. Bei größeren Menschenmengen sei im Zweifelfall davon auszugehen, daß es sich um Zivilisten handle.

Zudem habe es keine akute Bedrohung für die deutschen Truppen gegeben: Die Tanklaster hatten eine Richtung eingeschlagen, die vom deutschen Feldlager weg führte, und steckten im Flußbett fest. Es wäre zudem, wie von den US-Kampfpiloten vorgeschlagen, möglich gewesen, im Tiefflug oder mittels Drohnen genauere Videobilder vom Schauplatz zu erhalten. Unterlassene Aufklärungspflicht, unterschiedsloser Angriff auf Bewaffnete wie Zivilisten, Verletzung der Warnpflicht plus Mißachtung bestehender Einsatzregeln der NATO – »in jeder Konstellation ergibt sich eine mögliche Strafbarkeit von Oberst Klein«, so die Anwälte.

Die Bundesanwaltschaft hat kaum Anstrengungen unternommen, die tatsächliche Zahl der Getöteten zu ermitteln, weil das »nicht entscheidungsrelevant« sei – in einer Ermittlung zu einem Tötungsdelikt höchst unüblich. Ganze vier Zeugen haben die Bundesanwälte gehört. Angehörige der Opfer bzw. Augenzeugen waren nicht darunter.

Der Einstellungsbescheid ist bis heute unter Verschluß, weil er als »geheimhaltungsbedürftig« gilt. Die BAW arbeite derzeit an einem »Einstellungsbescheid light«, berichtete Kaleck dieser Tage auf einer Veranstaltung in Berlin. Bevor es zu einem Gerichtsverfahren gegen Klein kommen kann, steht demnach erst ein Prozeß gegen die BAW an, um sie zu umfassender Vorlage der Akten zu zwingen.

** Aus: junge Welt, 4. September 2010


Leere Versprechungen"

Anwalt Popal: 5000 Dollar "keine Entschädigung im Rechtssinn". Kundus-Opfer wollen klagen

Von Jörn Boewe ***


Ein Jahr nach dem tödlichen Bombardement bei Kundus ist die Frage der Entschädigung für die Opfer nicht geklärt. Zwar sei kürzlich das Gros der Hinterbliebenen durch das Bundesverteidigungsministerium mit jeweils 5000 US-Dollar pro Haushalt abgefunden worden, erklärte Rechtsanwalt Karim Popal am Donnerstag in Berlin. Dies sei jedoch zu wenig. Popal vertritt nach eigenen Angaben 113 Mandanten, Hinterbliebene der Opfer, in ihren Schadenersatzansprüchen. »Wir werden auf 33000 Dollar pro Toten klagen«, kündigte er an. Dies entspricht etwa 26000 Euro. Es gebe Opfer, die für notwendige medizinische Behandlungen ihrer Verletzungen in der Folge der Bombardierung Schulden hätten, die diesen Betrag noch übersteigen.

113 Todefälle könne er »durch schriftliche Unterlagen und Dokumente« zweifelsfrei nachweisen, so Popal. Dazu kämen sieben Verletzte und 20 Verschollene. Zudem gebe es glaubhafte mündliche Berichte über weitere Opfer. Insgesamt geht Popal von 137 Toten aus. Das Verteidigungsministerium in Berlin beziffert die Zahl der Opfer auf 91 Tote und elf Verletzte. Es hatte vor etwa drei Wochen mitgeteilt, die 86 Familien der Opfer würden jeweils 3800 Euro (5000 Dollar) als Ausgleich erhalten. Insgesamt würden etwa 327600 Euro (430000 US-Dollar) überwiesen.

»Damit ist das Verfahren nicht beendet«, stellte Anwalt Popal am Donnerstag (2. Sept.) klar. Die Zahlung sei »keine Entschädigung im Rechtssinn«. Es sei zwar zu begrüßen, daß überhaupt Geld gezahlt worden sei. Er kritisierte aber, daß die deutsche Bundesregierung bei der Auszahlung der Summe die Opfer und ihre Anwälte ignoriere und sich stattdessen der »korrupten Regierung« in Afghanistan bediene. Mit allen Mitteln habe das Verteidigungsministerium versucht, an ihm vorbei an seine Mandaten ranzukommen. »Das ist nicht zulässig, das ist gesetzwidrig«, betonte Popal.

Alles in allem seien aus Deutschland seien nur »leere Versprechungen« gekommen. »Ich und mein Recherche­team haben festgestellt, daß unsere Mandaten sehr, sehr, sehr arm sind und unter Hunger und Kälte im Winter leiden«, sagte er. Mitunter hätten Familienangehörige der Opfer das Geld für die wahren Bedürftigen einbehalten. Es habe drei »Falschanspruchsteller« gegeben, eine männliche Person sei nach der Entgegennahme der 5000 Dollar »verschwunden«.

Der Bundestagsabgeordnete der Grünen, Hans-Christian Ströbele, kritisierte ebenfalls am Donnerstag, daß der Bundeswehroberst Georg Klein für den Befehl zum Bombenabwurf nicht rechtlich zur Verantwortung gezogen worden sei. Die Anforderung des Luftangriffs wäre nur zulässig gewesen, wenn eine unmittelbare Gefährdung für die deutschen Truppen bestanden hätte. Eine solche hatte Klein den US-Piloten gegenüber behauptet, ebenso einen unmittelbaren Feindkontakt am Boden. Tatsächlich habe es all das aber nicht gegeben, betonte Ströbele: »Das hat er erfunden.«

Die Linke-Abgeordnete Christine Buchholz sprach von einem »unwürdigen Verhalten« der deutschen Regierung gegenüber den Opfern. Zudem sei das Bombardement »kein Betriebsunfall« gewesen, sondern liege »in der Logik dieses Krieges«.

*** Aus: junge Welt, 4. September 2010


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