Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Blutbad in Kabul

Afghanistan: Proteste gegen NATO-Krieg nach Koran-Verbrennung durch US-Militärs. Polizei schießt in die Menge. Mindesten sieben Tote in verschiedenen Städten

Von Knut Mellenthin *

Die Proteste in mehreren Städten und Regionen Afghanistans gegen die NATO-Besatzung dauern an. Die Demonstrationen hatten am Dienstag begonnen, nachdem afghanische Arbeiter halbverkohlte Exemplare des Koran in einer Müllverbrennungsanlage des Militärgefängnisses im US-Stützpunkt Bagram entdeckt hatten. Am Mittwoch fanden Kundgebungen unter anderem in mehreren Teilen Kabuls und in der ostafghanischen Stadt Dschalalabad statt. Mindestens sieben Menschen wurden getötet und Dutzende verletzt, als die Polizei in die Menge schoß. Die meisten Demonstrationsteilnehmer waren Jugendliche, darunter viele Schüler und Studenten. In Kabul wurde der US-Stützpunkt Camp Phoenix mit Steinen beworfen. Später versammelten sich Protestierende an einem Gebäudekomplex, in dem viele Ausländer, darunter Agenten der zahlreichen privaten Sicherheitsfirmen, leben.

Die stark bewachte Botschaft der USA in der afghanischen Hauptstadt stellte ihre Arbeit ein. In einer offiziellen Stellungnahme wurden alle in Afghanistan befindlichen US-Bürger aufgerufen, »wachsam« zu sein und Orte zu meiden, die dafür bekannt sind, daß sich dort westliche Ausländer aufhalten. »Wir möchten die Bürger der USA daran erinnern, daß frühere Demonstrationen in Afghanistan sich zu gewalttätigen Angriffen gegen zufällige westliche Ziele ausgeweitet haben«, hieß es weiter in der Erklärung der Botschaft.

Führende Militärs und Politiker der USA beeilten sich, öffentliche Entschuldigungen für die angeblich nur versehentliche »Entsorgung« der Koran-Exemplare und offenbar auch anderer religiöser Schriften auszusprechen. Unter den Entschuldigern befanden sich unter anderem Verteidigungsminister Leon Panetta, das Weiße Haus und der Oberkommandierende der USA in Afghanistan, General John Allen.

Aus den bisher vorliegenden Berichten ergibt sich, daß die Bücher von US-Soldaten in der Bibliothek des Militärgefängnisses von Bagram eingesammelt worden waren. Die USA halten dort Hunderte Afghanen unter juristisch und menschenrechtlich höchst fragwürdigen Bedingungen gefangen. In den Büchern, die anschließend in die Müllverbrennungsanlage geschafft wurden, befanden sich angeblich »verdächtige« Notizen, in denen die USA-Amerikaner politische Parolen oder geheime Mitteilungen der Gefangenen vermuteten, da sie sie nicht lesen konnten.

Die hohe Wertschätzung des Koran wird weithin als fundamentalischer Spleen der ohnehin »überempfindlichen und humorlosen Muslime« dargestellt. Wenig bekannt ist offenbar, daß auch für gläubige Juden die Beschädigung oder gar Vernichtung einer Thora-Rolle - unter Nichtjuden bekannter als »fünf Bücher Mosis« - als großes Vergehen gilt.

Ignoriert wird in den Berichten über die jüngsten Proteste in Afghanistan zumeist auch, daß diese zwar durch die Schändung des Koran ausgelöst wurden, aber auch eine Reaktion auf die Kriegführung der NATO-Truppen sind. Vor einer Woche wurden bei einem Luftangriff in der Provinz Kapisa nordöstlich von Kabul acht Kinder und Jugendliche getötet, die im Schnee Schafe und Ziegen gehütet hatten. Ein NATO-Sprecher behauptete dagegen, die Opfer seien bewaffnet gewesen und hätten eine »Bedrohung« dargestellt. Am Mittwoch wurden neun Schülerinnen und der Hausmeister verletzt, als NATO-Hubschrauber eine Mädchenschule in der ostafghanischen Provinz Nangarhar angriffen.

* Aus: junge Welt, 23. Februar 2012

Letzte Meldungen: Proteste weiten sich aus

Bei Demonstrationen gegen Koran-Verbrennungen in Afghanistan sind auch am 23. Februar Menschen getötet worden. Zwei Demonstranten seien bei einem Zusammenstoß vor einem US-Stützpunkt in der östlichen Provinz Nangahar erschossen worden, als afghanische und NATO-Soldaten in die Menge feuerten, teilte Gouverneur Hadschi Mohammed Hassan mit. Ein Mann in einer afghanischen Uniform habe bei dem Zwischenfall auf NATO-Soldaten geschossen und zwei von ihnen schwer verwundet, sagte Hassan weiter.
Bei zwei Kundgebungen in der nördlichen Provinz Baghlan und der südlichen Provinz Urusgan schossen laut Nachrichtenagenturen afghanische Polizisten auf Demonstranten; in Baghlan wurde einer und in Urusgan wurden zwei Kundgebungsteilnehmer tödlich getroffen, teilten die Behörden mit.
Bei der Demonstration vor dem Hauptsitz der Polizei in Baghlan habe es einen Schusswechsel zwischen einigen Demonstranten und der Polizei gegeben, hieß es weiter. Vier Personen, darunter zwei Polizisten, seien dabei verwundet worden.

Demos und Kundgebungen

In drei ostafghanischen Provinzen gingen Hunderte empörte Menschen auf die Straßen; die Kundgebungen dort verliefen laut Behördenangaben friedlich. An der größten der drei Demonstrationen in der Hauptstadt der Provinz Laghman nahmen laut Polizeiangaben 2.000 Menschen teil. In der Provinz Logar ging eine Demonstration von rund 500 Personen ohne Zwischenfall zu Ende. Außerdem gingen hunderte Menschen in der Stadt Dschalalabad auf die Straßen.

Nachrichtenagenturen, 23. Februar 2012




Zurück zur Afghanistan-Seite

Zur Islam-Seite

Zurück zur Homepage