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Propagandalügen

Kinder bei NATO-Angriffen in Afghanistan getötet. Männliche Opfer »im waffenfähigen Alter« werden pauschal als Taliban dargestellt

Von Knut Mellenthin *

Zum dritten Mal innerhalb einer Woche wurden am Sonnabend in Afghanistan mehrere »Zivilisten« bei Luftangriffen der NATO getötet. Die Opfer waren nach unterschiedlichen Angaben zehn oder elf Kinder zwischen einem und zwölf Jahren. Fünf oder sechs Frauen wurden verletzt. Außerdem seien sechs oder sieben »Taliban-Kämpfer« ums Leben gekommen, darunter zwei »Kommandeure«, die in einigen Meldungen mit Namen genannt wurden. Wie üblich sind unter den angegebenen »zivilen Opfern« keine erwachsenen Männer oder männliche Jugendliche. Das entspricht der Standardpraxis sowohl der NATO als auch der einheimischen Behörden, solche Personen automatisch und generell als bewaffnete Aufständischen zu deklarieren.

Das NATO-Massaker vom Wochenende ereignete sich in dem als »abgelegen« bezeichneten Sultan-Tal, das im Bezirk Schigal der nordöstlichen, direkt an Pakistan grenzenden Provinz Kunar liegt. Die gesamte Gegend gilt als Rückzugsgebiet der Aufständischen, in dem die NATO und die afghanischen Sicherheitskräfte keine Kontrolle ausüben und dessen Bevölkerung sie, mehr oder weniger offen ausgesprochen, als »Feinde« betrachten und behandeln.

Das Sultan-Tal war auch Schauplatz eines früheren NATO-Luftangriffs, bei dem am 13 Februar nach offiziellen afghanischen Angaben zehn »Zivilisten«, darunter vier Frauen, fünf Kinder und ein alter Mann, getötet wurden. Fünf weitere Kinder wurden als verletzt gemeldet. Auch damals gab es unter den zugegebenen »zivilen Opfern« nicht einen einzigen Mann »im waffenfähigen Alter«, sondern nur vier tote »Taliban-Kämpfer«, von denen drei angeblich »Kommandanten« waren. Den damaligen Vorfall hatte Präsident Hamid Karsai zum Anlaß genommen, den neuen Oberkommandierenden der NATO-Besatzungstruppen, General Joseph Dunford, zu sich zu rufen und ihn an eine schon vor Monaten getroffene Vereinbarung zu erinnern: Sie besagt, daß die Allianz keine Luftangriffe gegen bewohnte Gebiete führen darf. Aus aktuellem Anlaß ordnete Karsai zusätzlich an, daß die afghanischen Sicherheitskräfte bei Einsätzen in solchen Gebieten keine Luftunterstützung der NATO anfordern dürfen.

Tatsächlich wurde der Luftangriff vom Wochenende nach NATO-Darstellung nicht von afghanischen Kräften erbeten, sondern von der NATO selbst angeordnet. Dasselbe soll für zwei weitere Zwischenfälle in den vergangenen Tagen gelten, bei denen »Zivilisten« getötet wurden. Zumindest im jüngsten Fall gibt diese offizielle Darstellung Rätsel auf, da die NATO nach Aussagen mehrerer Militärsprecher an diesem Einsatz im Sultan-Tal nicht mit eigenen Bodentruppen beteiligt war. Das steht allerdings im Widerspruch zu den afghanischen Darstellungen, wonach es sich um eine gemeinsame Operation gehandelt habe. Von einheimischer Seite sollen daran Spezialeinheiten beteiligt gewesen sein. Diese werden im allgemeinen von US-Offizieren ausgebildet und oft auch im Einsatz »beratend« begleitet.

Aus den in Details voneinander abweichenden afghanischen Darstellungen ergibt sich übereinstimmend, daß die Operation im Sultan-Tal am Freitag begann, daß sie unter anderem die Tötung oder Festnahme eines örtlichen Taliban-Kommandanten zum Ziel hatte und daß es zu heftigen Gefechten gekommen sein soll. Die Kinder starben, als NATO-Flugzeuge, offenbar ganz bewußt und »präzise«, ein Haus zerstörten, in dem angeblich der Gesuchte vermutet wurde. Karsai ließ durch sein Büro den Luftangriff kritisieren, »verurteilte« zugleich aber auch »die Benutzung von Zivilisten als Schutzschilde durch die Taliban«. Das ignoriert die simple Tatsache, daß die zu Aufständischen Erklärten in der Regel Männer sind, die mit ihren Familien zusammenleben.

Bei vorangegangenen Zwischenfällen hatten NATO-Kampfflugzeuge am Mittwoch in der Provinz Ghasni vier afghanische Polizisten und zwei »Zivilisten« getötet, als sie die zuvor von Bewaffneten attackierte Polizeistation bombardierten. In derselben Provinz waren zuvor bei einem Hubschrauberangriff zwei Kinder getötet worden.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 9. April 2013


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