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Stabwechsel bei ISAF und NATO in Afghanistan - und schon knallt es

ISAF dehnt Operationsgebiet auf Südafghanistan aus - Drei britische Soldaten starben

Kaum war das Kommando der US-Truppen an die NATO und damit an ISAF weiter gegeben worden, kaum wasr also die Ausdehnung der Tätigkeit der UN-mandatierten ISAF auf die südlichen Provinzen vollzogen, da krachte es schon: Drei britische Soldaten starben am 1. August bei einem Anschlag.
Wir dokumentieren im Folgenden aktuelle Meldungen vom Kriegsgeschehen in Afghanistan sowie Artikel/Kommentare aus der Tagespresse vom 1. und 2. August 2006.
Wir beginnen aber (im Kasten) mit einer offiziellen Verlautbarung des Bundesverteidigungsministers, wonach die Bundeswehr und die NATO ion Afghanistan alles "richtig" mache.



Konzept für Afghanistan ist richtig

Mazar e Sharif, 20.07.2006.
Bei seinem Besuch bei deutschen Soldaten in Afghanistan überzeugte sich Verteidigungsminister Dr. Franz Josef Jung davon, dass der Einsatz der Internationalen Schutztruppe sinnvoll ist.

"Die Umsetzung des Konzepts ist geglückt", stellte Jung mit Blick auf die Arbeit der internationalen Staatengemeinschaft in dem Land am Hindukusch fest. Die Internationale Schutztruppe in Afghanistan ISAF weitet ihr Engagement derzeit auf ganz Afghanistan aus. Deutschland hat dabei die Rolle des Regionalkoordinators im Norden Afghanistans übernommen. Dafür wurden die deutschen Soldaten großteils von Kabul nach Mazar-e Sharif verlegt.

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist weder ruhig noch stabil. Das macht den Einsatz der Internationalen Schutztruppe dort besonders wichtig. "Die Menschen müssen spüren, dass nicht nur Kabul, sondern das gesamte Land befriedet werden soll", betonte der Minister. Zwei Tage bereiste er das Land, in dem die Bundeswehr mit derzeit rund 2.750 Soldaten den Friedensprozess unterstützt. Jung unterstrich, dass die Bundeswehr sich trotz der Angriffe nicht verstecke sondern weiter Präsenz auf den Straßen zeige.

Ziel seiner Reise waren die Regionalen Wiederaufbauteams in Kunduz und Feizabad und das neu errichtete Feldlager in Mazar-e Sharif. Letzeres ist das Hauptquartier für die Nordregion des Landes. Zur Zeit befinden sich schon über 1.000 deutsche Soldaten im dortigen Camp Marmal. Hinzu kommen noch Soldaten aus 13 anderen Nationen. In den kommenden Monaten wird das Camp, das schon jetzt das größte Feldlager der Bundeswehr außerhalb Deutschlands ist, weiter ausgebaut.

Quelle: Website des Verteidigungsministeriums; www.bmvg.de



NATO fasst heiße US-Kastanien an

Afghanistan: ISAF übernahm Südkommando

Die US-Truppen in Afghanistan haben am Montag (31. Juli 2006) das Kommando über die unruhigen Südprovinzen an die NATO-geführte ISAF übergeben.

Die USA sind seit Wochenbeginn erlöst von einer scheinbar unlösbaren Aufgabe. Mit feierlicher Zeremonie auf dem Militärstützpunkt nahe der Stadt Kandahar übergaben Bushs Invasionsstreitkräfte die Verantwortung für die südlichen Landesteile Afghanistans an die ISAF – und reichten damit eine »heiße Kastanie« weiter an ihre Verbündeten. Eingesetzt werden nun Tausende Soldaten aus Kanada, Großbritannien und den Niederlanden. Die bisherigen so genannten Koalitionsstreitkräfte, die aus dem Gebiet abziehen, werden verstärkt im weiterhin instabilen Osten eingesetzt.

Bisher operierten die gut ausgerüsteten rund 10 000 Soldaten der ISAF-Schutztruppe nur im verhältnismäßig ruhigen Norden – wo die deutsche Bundeswehr das Regionalkommando führt – sowie im Westen und in der Hauptstadt Kabul. Befehligt werden sie vom britischen Generalleutnant David Richards. Er ist der erste Nicht-US-General in der 57-jährigen NATO-Geschichte, unter dessen Kommando in einem Kampfeinsatz auch US-Truppen stehen.

NATO-Generalsekretär Jaap De Hoop Scheffer sprach von einem historischen Tag für das Bündnis. »Das ist eine der größten Herausforderungen, die die NATO jemals übernommen hat«, sagte er. Die Sicherheitslage besonders im Süden des Landes ist so schlecht wie nie seit dem Sturz der Taliban im Jahr 2001. Die Widerstandsgruppen der gestürzten Taliban dürften nun darauf hoffen, die im Vergleich mit den US-Truppen weniger kampferfahrenen ISAF-Einheiten besser unter ihre Kontrolle zu bekommen. Es gibt dafür Anhaltspunkte. In weniger als einem Monat töteten Rebellen allein sechs britische Soldaten in der südafghanischen Provinz Helmand.

Mit der Kommandoübergabe der USA an die ISAF wurde auch »Mountain Thrush« beendet. Die Offensive mit dem Codewort »Vorstoß in die Berge« war Mitte Mai begonnen worden. Offenbar waren auch Teile der Bundeswehr-Krisenreaktionskräfte an den Operationen beteiligt. Das gestellte Ziel – eine wirksame Schwächung der Taliban – wurde nicht erreicht. Auch weil die nationalen Streitkräften ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind. Sogar die afghanische Regierung kritisiert inzwischen die Ausbildung ihrer Einheiten durch NATO-Staaten. Nach offiziellen Angaben sind bei »Mountain Thrush« 900 Menschen getötet worden. Darunter sind auch 35 ausländische Soldaten.

Bis zum Jahresende soll die NATO-geführte ISAF auch die Verantwortung für Ruhe und Sicherheit in Ostafghanistan übernehmen und damit die US-Streitkräfte fast völlig ersetzen.

* Aus: Neues Deutschland, 1. August 2006

Meldungen

AFP, 31. Juli 2006 - Viereinhalb Jahre nach dem Sturz der radikalislamischen Taliban hat die US-Armee die Kontrolle über den unruhigen Süden Afghanistans an die NATO-Schutztruppe ISAF übergeben. Die NATO werde langfristig im Land bleiben, "so lange wie die Regierung und die Bürger Afghanistans unsere Hilfe benötigen", sagte der britische General und ISAF-Chef David Richards bei der feierlichen Übergabe des Kommandos auf dem Militärstützpunkt in der Stadt Kandahar.
US-General Karl Eikenberry übergab in Kandahar das Kommando an Richards. Dieser betonte vor rund 300 Zuschauern, Millionen Afghanen sehnten sich nach "Frieden, Stabilität und mehr Wohlstand". "Wir werden sie nicht im Stich lassen." Gleichzeitig richtete er eine Warnung an die in der Region aktiven Aufständischen: "Wir werden nicht zulassen, dass sie Erfolg haben."

Mit der Übernahme des Kommandos in Südafghanistan hat die ISAF ihren Einsatz auf nunmehr 13 afghanische Provinzen ausgedehnt. Insgesamt stehen in Afghanistan derzeit rund 18.500 Soldaten aus 37 Ländern unter NATO-Befehl. Gegen Ende des Jahres soll das Bündnis auch das Kommando im Osten des Landes übernehmen, die Truppenstärke soll dann auf 23.000 Soldaten erhöht werden. Im Süden werden vor allem Soldaten aus den Niederlanden, Kanada und Großbritannien stationiert. Großbritannien stellt mit rund 4000 Soldaten den größten Teil dieses Kontingents.

Drei Tote
dpa, 1. August 2006 - Nur einen Tag nach der Kommandoübernahme durch die Internationale Schutztruppe ISAF haben Taliban-Kämpfer im Süden Afghanistans erstmals ISAF-Soldaten getötet. Drei britische Soldaten starben, als ihre ISAF-Patrouille am Dienstag (1. August) in der Provinz Helmand in einen Hinterhalt geriet und mit Panzerfäusten beschossen wurde, teilte die Schutztruppe mit. Ein weiterer britischer Soldat sei schwer verletzt worden.
Der Sprecher der radikal-islamischen Taliban, Kari Jussif Ahmadi, sagte der dpa, Taliban-Kämpfer hätten die britischen Soldaten im Distrikt Musa Kala angegriffen. Die Rebellen hätten zwei Panzerfahrzeuge der ISAF zerstört und sieben Briten getötet. Die Gefechte in der Region dauerten an.



Verschwimmende Grenzen

Von Karl Grobe

Die Nato hat die Kommandogewalt im Süden Afghanistans von den USA übernommen. Damit droht die Unterscheidung zwischen der Isaf und der "Operation Enduring Freedom" vollends zu verschwinden. Die internationale Schutztruppe Isaf (somit die Nato) sollte den Frieden dort wahren, wo messbare Spuren erhalten sind, und allenfalls zur Selbstverteidigung schießen. Die "Operation Enduring Freedom" bleibt eine militärische Operation zur Bekämpfung von Aufständischen, Taliban, Terroristen und gelegentlich Drogen-Warlords. Der amerikanische Militärjargon beschreibt sie mit dem Wort Counterinsurgency.

Dass die USA die militärische Verantwortung im Süden des Landes abgeben, während dort gerade alle Formen aufständischer Gewalt zunehmen, ist ein Zufall, so gelegen er dem Pentagon kommen mag. Wichtiger ist der Tatbestand, dass die Nato Partei in einem Land-Kleinkrieg in Asien geworden ist. Das Wort ist eine Übersetzung von "Guerilla". Es bedeutet nicht, dass der Krieg - die "insurgency" - kleiner wird. Im Gegenteil.

Die Baltimore Sun hat am Wochenende die Versäumnisse des Westens - hier: der USA - deutlich beschrieben. Schulen, Straßen, Ordnung und Lebenshaltung seien nicht nennenswert verbessert worden, Prostitution und Alkoholismus aber hätten zugenommen. Korruption, Kleinkriminalität und Drogengeschäft erwähnt das Blatt gar nicht. Alles zusammen aber heizt den Widerstand an. Die Nato-Taktik, auf feste Stützpunkte statt Razzien zu vertrauen, hilft nichts. Der Kampf geht weiter. Darauf wird ein "robusteres Mandat" folgen. Die Nato wird - noch eindeutiger - Krieg führen.

Aus: Frankfurter Rundschau, 2. August 2006 (Kommentare)


Tödliches Willkommen

Von René Heilig

Trauriger und zugleich auch deutlicher hätte das »Willkommen« für die ISAF-Truppen in Süd-Afghanistan nicht sein können. Drei unter NATO-Befehl stehende britische Soldaten wurden getötet, einer ringt im Lazarett um sein Leben. Die Taliban, die diesen Hinterhalt gelegt hatten, brüsten sich gar mit sieben Toten.

Wie sehr auch Familien die Ihren beweinen – jeder ist letztlich völlig sinnlos gestorben. Sie wurden, weil sie einem Befehl unterliegen, in einen Krieg geschickt, dessen Ziel politisch nicht definiert ist. Auch wenn man den Unsinn, man wolle »in Afghanistan demokratische Verhältnisse errichten helfen«, noch so oft wiederholt, er bleibt Unsinn. Denn dazu gehört ein Konzept, das landesgemäße Hoffnung ins zerstörte Land bringt. Man hätte klar definieren müssen, wie der Westen gedenkt, das ausgeblutete Land an so etwas wie wirtschaftlichen Aufschwung heranzuführen. Falls die Menschen in Afghanistan derzeit so etwas überhaupt für möglich halten, dann – wie gehabt – nur durch Unterwerfung unter die alten einheimischen Kriegsfürsten. Was aber nicht weniger bedeutet, als eine neue Runde im ewigen Kreislauf von Macht und Gewalt in Gang zu setzen.So lange ISAF-Soldaten-Killen mehr bringt als die Beteiligung am – von UNO und EU – nur vage skizzierten Neuaufbau des Landes, so lange ist der westliche Militäreinsatz für »Frieden, Demokratie und Wohlstand« nur ein Witz. Doch für immer mehr ein verdammt tödlicher!

Aus: Neues Deutschland, 2. August 2006 (Kommentare)


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