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Afghanistan: Das halbe Volk lebt vom Waffenhandel und Drogenanbau

Jochen Hippler (Institut Entwicklung und Frieden - INEF) über Terrorregime, Bombenangriffe und Hunger

Jochen Hippler, Politikwissenschaftler an der Universität Duisburg und Mitarbeiter am Institut für Entwicklung und Frieden - INEF, äußerte sich in einem Interview mit der in Kassel erscheinenden "HNA-Sonntagszeit" am 21. Oktober 2001 sehr pessimistisch über die Zukunft Afghanistans. Zwei Wochen zuvor schrieb er einen Artikel für den Rheinischen Merkur, worin er die "Ökonomie des Krieges" am Beispiel Afghanistans erläuterte. Wir dokumentieren Auszüge aus dem Interview sowie den Artikel vom 5. Oktober, der auch auf der Homepage von Jochen Hippler einzusehen ist (www.jochen-hippler.de.)

Interview in der HNA-Sonntagszeit
(Die Fragen stelle HNA-Redakteur Wolfgang Riek)

Zum Taliban-Regime und zur Nordallianz
"Es ist möglich, dass sie (die Taliban) gestürzt werden. Die Taliban sind in Afghanistan wegen ihrer grausamen Politik verhasst. Das Problem ist: Was käme nach den Taliban?
...
(Die Nordallianz) ist keineswegs beliebter. Die Nordallianz ... sammelt ja Reste der Mudschahedin. Sie sind verantwortlich für die Zerstörung der Hauptstadt Kabul. Außerdem gehören ihre Kämpfer zu ethnischen Minderheiten, die die Mehrheit der Paschtunen als Eindringlinge betrachtet."

Über den Ex-König Zahir Schah
"Der ist ein ehrenwerter alter Mann, aber seit fast 30 Jahren außer Landes und in Afghanistan ohne Kräfte, auf die er sich stützen könnte."
...
"Von außen lassen sich die Probleme des Landes nicht lösen, es wird höchstens eine weitere Generation in einem neuen Bürgerkrieg verheizt."
...
"Ich sehe keine Kräfte, denen man über den Weg trauen könnte und die zugleich von politischer Bedeutung wären. Ich kenne viele Afghanen - in ihrem Heimatland und in Deutschland. Nette, kluge, demokratisch gesinnte Leute - leider sind sie politisch nicht relevant. Die Geschichte Afghanistans ist seit jeher gekennzeichnet von gescheiterten Versuchen, eine starke, funktionsfähige zentrale Staatsgewalt gegen die Teilinteressen der Stämme und Volksgruppen zu installieren.
... Aufeinander folgende Regierungen sind daran gescheitert, die Völker Afghanistans zu alphabetisieren, Respekt und eine bessere Lage für Frauen durchzusetzen, dem Land eine substanzielle industrielle Infrastruktur zu geben. Die traditionelle afghanische Gesellschaft bot ebenfalls keine Lösungsperspektive: Sie war das Grundproblem."

Zur Frage nach den Möglichkeiten der "Anti-Terror-Allianz":
Sie dürfen nicht neue Waffen und neues Geld ins Land bringen. Das verlängert und verschärft nur alle Ause3inandersetzungen. Erste Priorität muss daneben der Blick auf Pakistan haben. Das Land steht seit zehn Jahren am Rand des Bankrotts und in einem Auflösungsprozess. Hier müssen USA und EU stabilisierend wirken. Wenn nämlich in Pakistan, das bekanntlich Atomwaffen bsitzt, ein Bürgerkrieg ausbricht, dann war Afghanistan nur ein kleines Vorspiel. Dann haben wir wirklich eine Krise im Weltmaßstab."

Dialog zwischen den Kulturen - wie?
"Die durchschnittliche westliche Sichtweise betont das Fremdartige, das Bedrohende - trotz unserer wirtschaftlichen und militärischen Überlegenheit.
... Aufseiten der maßgeblichen Eliten des islamisch geprägten Raumes herrschen zwei Wahrnehmungsformen 'des Westens' vor: Auf der einen Seite wird er als reich, fortschrittlich und mächtig betrachtet, und es wird ihm weitgehend kritiklos nachgeeifert.
... Die politische Alternative zur Bewunderung ist die Verteufelung: Der Westen wird als Lager des Imperialismus betrachtet, das die Welteroberung zum Ziel hat - er erscheint als machtpolitische, zugleich aber auch ideologisch-kulturelle Bedrohung. In beiden Denkrichtungen schwingt ein latentes Gefühl der Unterlegenheit mit.
... (Aber) ein echter Dialog kann nur von gleich zu gleich stattfinden. Beide Seiten müssen dafür bereit sein, ihre eigenen Positionen selbst in Frage zu stellen oder in Frage stellen zu lassen.
... Er (der Dialog) kann nicht auf Konferenzen von religiösen Führern oder Regierungen beschränkt sein. Wir müssen ihn zuerst als gesellschaftlichen Dialog führen. Europäische und amerikanische Intellektuelle sollten mit ihren Gegenparts im Osten sprechen, Vereine, Verbände und Medien die Zusammenarbeit und die Auseinandersetzung intensivieren, Schulen und Universitäten, Kommunen und Bundesländer, Kirchenkreise, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen sich um verstärkte Kontakte und Kooperation bemühen."

Das klingt nach deutsch-französischer Freundschaft ...

"Ja, dieser Annäherungsprozess nach dem Krieg könnte ein Beispiel sein. Wir müssen gemeinsame Probleme - etwa von Krieg und Frieden, Armut und Umwelt - ansprechen und auch harte Frage wie den Nahost-Konflikt nicht aussparen.

Auf die Frage, ob er über die wütenden antiwestlichen Proteste in islamischen Ländern nicht erschrecke, antwortete Jochen Hippler:

Das sind keine wirklichen Mehrheiten. Die wenigsten derer, die da mitmarschieren, würden selbst unter dem Regime der Taliban und Bin Ladens leben wollen. Deshalb wäre es besonders wichtig, Beweise gegen Bin Laden vorzulegen, ihn als Verbrecher vor Gericht zu stellen und ihn damit zu entzaubern. Der Westen sollte sich an seine eigenen rechtsstaatlichen Grundsätze halten ...

Sprich: Er sollte Osama bin Laden nicht zum Märtyrer machen?

Genau - dann hätte der nämlich eines seiner Ziele erreicht. Das würde nur Öl ins Feuer gießen und den Konflikt in weiteren Ländern des Nahen und Mittleren Ostens anfeuern.

Gekürzt aus: HNA-Sonntagszeit, 21. Oktober 2001

Ökonomie des Krieges

Von Jochen Hippler

Vom Waffenhandel und Drogenanbau lebt das halbe Volk. Für die Grundversorgung müssen Organisationen aus dem Ausland herhalten.


Kriege sind die radikalste Form zwischen- oder innerstaatlicher Gewalt. Das Blutvergießen und die militärischen Operationen stehen dabei in der öffentlichen Wahrnehmung verständlicherweise im Vordergrund. Doch das "Phänomen" Krieg lässt sich nur begreifen, wenn man seine politischen, sozialen und wirtschaftlichen Hintergründe versteht. Auch die kleinsten Regionalkriege in der Dritten Welt haben eine beträchtliche Auswirkung auf die örtlichen Ökonomien, wie sie auch umgekehrt nicht selten von wirtschaftlichen Bedingungen geprägt werden.

Ein Beispiel dafür ist Afghanistan. Schon während der sowjetischen Besatzungszeit wurden durch Bombardierungen aus der Luft und Kampfhandlungen am Boden große Teile der Infrastruktur zerstört oder schwer beschädigt. Bewässerungssysteme für die Landwirtschaft, Straßen und Verkehrswege, die ohnehin wenigen Industriebetriebe, Kommunikationswege und Energieversorgung wurden schwer getroffen. Große Teile des Landes sind noch heute mit Landminen gepflastert. All das führte zu beträchtlichen Einschränkungen jeglicher wirtschaftlicher Tätigkeit.

So ist eine funktionierende Landwirtschaft in weiten Landesteilen schon seit Jahren kaum noch möglich, da die dafür zumeist nötigen Bewässerungsmöglichkeiten fehlen. Auch die Vermarktungswege für landwirtschaftliche Produkte - vor allem Straßen - sind schon während der sowjetischen Besatzungszeit weitgehend zusammengebrochen. Der Effekt: Die wirksame Nachfrage sank massiv, obwohl der Bedarf der Menschen an Nahrungsmitteln natürlich unverändert blieb.

Massive Fluchtbewegungen - bis zu einem Drittel der Bevölkerung floh nach Pakistan und in den Iran - führten zum Zusammenbruch der Ökonomie in großen Teilen des Landes. Die wirtschaftliche Leistung fiel häufig auf reine Subsistenzproduktion zurück. Die Versorgung der Städte war zunehmend prekär - was damals durch sowjetische Nahrungsmittellieferungen zum Teil ausgeglichen wurde

Mohn statt Tomaten

Solche Prozesse des Zerbrechens normaler wirtschaftlicher Strukturen sind typisch für die meisten lokalen Konflikte - wenn sie auch, je nach lokalen Bedingungen und dem speziellen Charakter des jeweiligen Krieges, verschiedene Formen annehmen können. Die wirtschaftlich destruktiven Auswirkungen des Krieges konnten in Afghanistan nur durch zwei gegenläufige Effekte kompensiert werden: durch die Umstellung von landwirtschaftlichen Produktionsflächen auf die Erzeugung von Opium (Mohnanbau) und die Weiterverarbeitung zu Heroin; und zum Zweiten durch den Waffenhandel.

Mohn ist eine sehr genügsame Pflanze und benötigt nur sehr geringe Wassermengen. Zudem reicht eine vergleichsweise geringe Produktion aus, um die ausgefallene Jahresproduktion etwa an Tomaten oder Zwiebeln auszugleichen. Auch die Vermarktung ist einfacher: Müssen größere Mengen Gemüse relativ frisch und deshalb schnell auf die Märkte gelangen, kann eine Bauernfamilie ihre gesamte Opiumproduktion auf dem Rücken weniger Esel oder Kamele problemlos auch an den zerstörten Straßen vorbei zur Grenze oder zu den Heroinlabors in den Provinzen Nangahar oder Helmand schmuggeln.

Mit kleinen, leicht zu transportierenden Mengen an Roh-Opium können die Bauern somit weit mehr verdienen als mit ihren traditionellen landwirtschaftlichen Erzeugnissen, deren Herstellung ohnehin immer schwieriger oder ganz unmöglich geworden ist. Dass auch kriminelle Banden und die Mudschaheddin-Parteien - die Parteien der heutigen "Nordallianz" - den Drogenhandel als attraktive Geldquelle erkannten, kam hinzu.

Der zivile Sektor blutet aus

Den zweiten Faktor der Kriegswirtschaft, die an die Stelle der zusammengebrochenen Wirtschaftsstrukturen trat, bildet der Waffenhandel. Der Krieg, und insbesondere seine großzügige Finanzierung von außen durch die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten, brachte große Mengen an Militärgut ins Land. Bis zu einem Drittel davon erreichte allerdings nie die intendierten Empfänger, sondern wurde gleich von Parteiführern und Kommandanten weiterverschoben. So erhielt beispielsweise der Iran hochmoderne amerikanische "Stinger"-Luftabwehrraketen, die er dann zum Teil im Persischen Golf gegen US-Kriegsschiffe einsetzte.

Der Waffenhandel erfolgte aber nicht nur durch die politischen und militärischen Eliten: Bauernfamilien, die ihre alten Erwerbsmöglichkeiten zerstört sahen, schickten ihre Söhne in den Krieg, damit diese auf den Schlachtfeldern liegen gebliebene Waffen einsammeln oder durch Überfälle erbeuten sollten. Anschließend wurde die Beute auf dem Schwarzmarkt verkauft.

Solche Ausprägungen des Waffenhandels sind aus nahe liegenden Gründen ein häufiger Bestandteil von Kriegswirtschaften. In Afghanistan wurden Drogenhandel und Krieg auf diese Weise schon vor Jahren nach und nach zu den wichtigsten Erwerbsquellen der Bevölkerung: Arbeit ließ sich vor allem bei den Milizen und Warlords finden, und mit dem Zusammenbruch der zivilen Ökonomie konnte die Bevölkerung - neben dem Schmuggel - eigentlich nur noch durch Handel mit Opium, Heroin und Waffen gute Geschäfte machen.

So setzt sich eine Dynamik in Gang, die sich selbst verstärkt: Zuerst wurden Arbeitskräfte und Ressourcen aus der funktionsunfähigen Zivilwirtschaft in die Kriegsökonomie gedrängt. Dann saugte die aufblühende Kriegsökonomie weitere zivile Ressourcen ab, da sie weit dynamischer war und lukrativere Einkommensmöglichkeiten versprach. Dadurch jedoch blutete der zivile Sektor noch zusätzlich aus. Insgesamt allerdings dürfte die Umstrukturierung die Profitabilität der afghanischen Ökonomie deutlich gesteigert haben.

Ihr Nachteil - wenn wir von den schädlichen Folgen des Drogen- und Waffenhandels einmal absehen - liegt in der Tatsache, dass die Kriegsökonomie nicht länger vermochte, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Von darüber hinausgehenden Bedürfnissen wie einem funktionierenden Gesundheitswesen, Bildungs- und Erziehungsmöglichkeiten et cetera ganz zu schweigen. Die Grundversorgung musste zunehmend von außen, etwa über die Uno oder humanitäre Hilfsorganisationen, sichergestellt werden.

So mochte die Kriegswirtschaft in Afghanistan blühen - ihre beträchtlichen Profite konnten in Pakistan (Transportwesen, Autohandel, Teppiche), Europa und den USA reinvestiert werden -, die Bevölkerung jedoch geriet immer mehr an den Rand einer offenen Hungerkatastrophe. Nur durch ausländische Hilfsgelder und nichtstaatliche Hilfsorganisationen konnte das Elend notdürftig stabilisiert werden. Heute, wo die Organisationen das Land verlassen haben, ist die humanitäre Katastrophe kaum mehr aufzuhalten.

Manche dieser Entwicklungen gelten in spezifischer Weise für Afghanistan, andere sind in vielen Konfliktherden und lokalen Kriegen gültig. Der Aspekt der Drogenproduktion oder des Drogenhandels beispielsweise fehlt, wenn die lokalen Bedingungen ihn erschweren oder nicht zulassen: Auf dem Balkan gehörte der (Transit-)Handel mit Drogen zum Beispiel durchaus zum Konfliktbild, aber die Mohn- und Opiumerzeugung fehlte. Im kolumbianischen Bürgerkrieg wiederum ist das Drogengeschäft ein Schlüsselelement - dort geht es dann um Koka beziehungsweise Kokain, nicht um Mohn und Heroin.

Hindernis für den Frieden

Auch der Waffenhandel und die Ausnutzung internationaler Hilfe sind an vielen Kriegsschauplätzen wichtige Bestandteile der Ökonomie. In manchen Fällen müssen von den Hilfsorganisationen sogar Milizen dafür bezahlt werden, sie zu "schützen", wie dies in Somalia der Fall war. Ein Schlüsselproblem der Kriegsökonomien besteht fast immer darin, dass sie sich verselbstständigen und somit die Beendigung des Krieges behindern oder gar ausschließen. Wenn die einzigen nennenswerten Einnahmequellen eines Landes, seiner Bevölkerung oder seiner Machteliten direkt oder indirekt aus dem Krieg resultieren, während die zivilen Verdienstmöglichkeiten zerstört wurden - dann ist die Rückkehr zum Frieden besonders schwer.

Quelle: www.jochen-hippler.de
Veröffentlicht in: Rheinischer Merkur, 5. Oktober 2001


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