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"Unsere befreundeten Länder schicken uns ihre Soldaten, aber warum schicken sie uns nicht ihre Ärzte?"

Bericht eines afghanischen Mitarbeiters einer deutschen Hilfsorganisation *

Beste Grüße aus Afghanistan und die Hoffnung, dass Ihr alle bei guter Gesundheit seid. Hier geht es all unseren Freunden und Kollegen gut, und sie senden Euch ihre besten Grüße. Diese Woche denke ich, ich sollte Euch lieber über etwas anderes als über unsere Projekte schreiben. Ich habe das Gefühl, dass es etwas langweilig geworden ist, jede Woche fast die gleichen Dinge zu schreiben. Ich möchte lieber über die allgemeine Situation in unserem Land schreiben und darüber, was ein normaler Afghane wie ich darüber denkt. Ich weiß, Ihr hört eine Menge in den Nachrichtensendungen, und ich hoffe, dass es für Euch nicht langweilig ist, das Gleiche noch einmal von mir zu hören.

Warum habe ich mich entschlossen, heute über dieses Thema zu schreiben?

Ich bin sicher, Ihr habt gehört, dass vor kurzem in Kuna 9 Kinder während eines Luftangriffs getötet wurden, und einige Wochen davor hatten sie in der gleichen Provinz schon 64 Leute getötet, die meisten Frauen und Kinder. Diese neun Kinder waren dabei, Feuerholz zu sammeln, entweder zum Kochen oder um ihre Häuser zu heizen. Und alle waren zwischen 8 und 14 Jahre alt. Ich höre, dass alle diese Tötung von Zivilisten verurteilen, aber es geschieht auch weiterhin.

Ich meine, dass Verurteilung nicht genug ist, wir müssen mehr tun. Auf der anderen Seite sehen wir auch, dass die Taliban und Al-Quaida Zivilisten und unschuldige Menschen töten. Deshalb weiß ich einfach nicht, wer unser Feind ist. Beide Seiten sagen, dass sie hier sind, um die Afghanen zu retten und das Land zu retten, aber sie töten einfach unschuldige Menschen. Bedeutet das, Menschen zu retten?

Es sind jetzt schon fast zehn Jahre, dass mehr als 40 Länder hier in unserem Land sind, um uns zu helfen und uns Frieden zu bringen, aber was ist geschehen? Haben wir Frieden bekommen? Nein.

Selbst auf den anderen Gebieten ist nicht sehr viel geschehen. Heute haben wir drei Flüge pro Tag nach Indien, und die Hälfte der Passagiere wollen sich in medizinische Behandlung begeben. Es gehen also im Durchschnitt 200 Afghanen pro Tag zur Behandlung nach Indien. Wenn jeder von ihnen dort 1 000 US-Dollar ausgibt, wären das 200 000 US-Dollar pro Tag. Das ist eine gute Einnahme für Indien, aber ich denke, es ist eine Schande für unsere Verwaltung und auch für deren Unterstützer, dass sie in den zehn Jahren hier im Land nicht ein ordentliches Krankenhaus bauen konnten, so dass dessen Leute nicht zur Behandlung nach Indien und Pakistan gehen müssten.

Unsere befreundeten Länder schicken uns ihre Soldaten, aber warum schicken sie uns nicht ihre Ärzte, um uns zu helfen?

Heute sind rund 5 Millionen Kinder nicht in der Lage, in die Schule zu gehen. Die Verwaltung gibt selbst zu, dass mehr als 650 Schulen geschlossen sind, weil sie in Taliban-Gebiet liegen. Wahrscheinlich nur 10 % der Bevölkerung haben Zugang zu sauberem Wasser. Elektrizität ist noch ein weiteres Problem. In einigen Gebieten von Kabul ist es gelöst, aber das ist ja auch die Hauptstadt.

Heute hören wir, dass immer mehr Leute zu Unterstützern der Taliban werden., warum? Weil sie von der anderen Seite nicht all zu viel sehen.

Diese Gedanken gehen mir nicht aus dem Kopf. Ich denke, dass jeder Afghane in der gleichen Situation ist. Eine Hälfte unseres Gehirns ist immer mit den Sorgen beschäftigt, die wir uns wegen der Sicherheit und wegen unserer Zukunft machen, und die andere arbeitet daran, wie das Brot für die Familie zu beschaffen ist. So ist also unser Gehirn immer mit diesen beiden Dingen beschäftigt, und wir können nicht an andere Dinge denken. Deshalb bin ich manchmal erstaunt zu sehen, dass wir immer noch hier im Komitee arbeiten und etwas erreichen können.

Vielleicht würdet Ihr mich jetzt fragen, ob, wenn die Anwesenheit der westlichen Länder uns nicht hilft, sie uns nicht verlassen sollten und was dann als Nächstes geschehen würde? Meine Antwort ist die, dass es einen neuen Krieg geben würde, aber das, was wir jetzt haben, ist wie Krieg.

Deshalb würde ich sagen, dass wir Hilfe von den Ländern benötigen, die hier sind, um uns zu helfen, aber dass wir wirkliche Hilfe benötigen und keine Politik.

Ich habe Euch all dies geschrieben und ich erwarte von Euch keine Antworten auf meine Fragen, aber ich möchte Euch bitten, Eure Stimme gegenüber denen zu erheben, die in Eurem Land entscheiden. Bitte fragt Sie, ob sie wirklich Frieden in dieses Land bringen wollen oder nicht. Ich weiß, Ihr nehmt an verschiedenen Konferenzen über Afghanistan teil und vielleicht seid Ihr in der Lage, meine Fragen weiterzugeben.

Vielleicht seid Ihr nicht glücklich über diese Mail, aber ich bin glücklich, weil ich endlich meine Gedanken und meine Fragen an einige Personen weitergeben konnte, die vielleicht die Möglichkeit haben, sie an solche Personen weiterzugeben, die zu den Spielern in dem Spiel um Afghanistan gehören.

Mit besten Grüßen
(Name der AG Friedensforschung bekannt)

* Diesen Bericht hat ein junger afghanischer Zivilhelfer geschrieben. Er arbeitet in Afghanistan für eine deutsche Hilfsorganisation, die seit vielen Jahren im Land aktiv ist und sehr wertvolle Hilfe leistet. Aus Sicherheitsgründen nennen wir weder den Namen der Organisation noch den des Afghanen. Beide sind uns bekannt.


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