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Bei Afghanistans Bürgern kommt zu wenig an

Internationale Geberkonferenz in Paris will Hilfe optimieren

Von Ralf Klingsieck, Paris *

Eine internationale Konferenz zur Unterstützung Afghanistans findet heute in Paris statt. An ihr nehmen Vertreter von rund 60 Staaten und internationalen Organisationen teil. Geleitet wird sie gemeinsam durch den französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, seinen afghanischen Amtskollegen Hamid Karsai und UN-Generalsekretär Ban Ki Moon.

Diese Konferenz reiht sich in den Prozess der internationalen Hilfe für den wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbau Afghanistans ein, der 2001 mit der Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn begann, 2003 zur Verabschiedung einer demokratischen Verfassung für Afghanistan geführt hat und 2006 in London in einem Pakt für Afghanistan gipfelte, in dem Geldgeber aus aller Welt ihre Bereitschaft zur Hilfe bekundet und die Modalitäten dafür vereinbart haben. Dieses Engagement soll jetzt in Paris erneuert und konkretisiert werden. Das ist umso wichtiger, als die bisherige Entwicklung sowohl für die Geberländer als auch vor allem für die Afghanen mehr als enttäuschend war. So sind von den seinerzeit in Bonn zugesagten 25 Milliarden US-Dollar letztlich nur 15 Milliarden wirklich gezahlt worden, wie ACBAR konstatiert, eine Agentur von rund 100 afghanischen und ausländischen Nichtregierungsorganisationen, die Hilfe für das Land koordiniert.

Die Regierung in Kabul will heute ihre Strategie für den nationalen Aufbau für die Jahre 2008-2013 vorlegen. Dafür dürfte Präsident Hamid Karsai die internationale Gemeinschaft um 50 Milliarden US-Dollar bitten. Einen breiten Raum wird die Diskussion darüber einnehmen, wie die internationale Hilfe für Afghanistan auf Schwerpunkte orientiert und effizienter gemacht werden kann, damit sie tatsächlich der Bevölkerung zugute kommt. ACBAR kritisiert, dass beispielsweise von den besagten 15 Milliarden Dollar mindestens 40 Prozent in Form von Aufträgen oder Löhnen für Berater und Helfer in die Geberländer zurückgeflossen seien.

Das verstärkt die im Lande verbreitete Meinung, dass von den Geldern aus dem Ausland vor allem die Ausländer selbst mit ihren teuren Autos und Häusern sowie eine kleine Schicht korrupter Afghanen profitieren, während die Masse der Bevölkerung sich selbst überlassen bleibt. Auf diesem Boden gedeiht der Einfluss der Taliban, die mit ihren Terroranschlägen das Land destabilisieren und den demokratischen Erneuerungsprozess torpedieren. So stehen in weiten Teilen des Landes die von der Kabuler Regierung eingesetzten Provinzgouverneure sowie Armee und Polizei immer noch weitgehend hilflos den einflussreichen Stammesführern mit ihren bewaffneten Milizen gegenüber. Von ihnen wird Präsident Karsai als »Bürgermeister von Kabul« verspottet. Ein Gradmesser ist dabei auch der Anbau und Export von Rauschgift, dem die Behörden weitgehend taten- und hilflos zusehen.

Der Staatshaushalt, der zu 90 Prozent aus Hilfszahlungen aus dem Ausland alimentiert wird, sei vielfach schlecht eingesetzt, schätzen französischen Nichtergierungsorganisationen ein, die in Afghanistan tätig sind. So werden nur vier Prozent der Mittel für die Landwirtschaft verwendet, von der 75 Prozent der Bevölkerung leben, und man orientiert auf den Anbau von Exportkulturen, obwohl 21 der 34 Provinzen des Landes die Ernährung ihrer Bewohner nicht sicherstellen können. Um die Mittel aus dem Ausland besser auf die wirklichen Bedürfnisse der Bevölkerung zu orientieren, fordert der französische Außenminister Bernard Kouchner, die Hilfe zu »afghanisieren«, indem mehr engagierte und ehrliche Landesbürger an maßgeblicher Stelle in die Programme eingebunden werden. Nur so seien letztlich Entwicklung, Stabilität und Demokratie durchzusetzen, ist der einstige Gründer der Hilfsorganisation »Ärzte ohne Grenzen« überzeugt.

Dagegen setzen nur zu viele Regierungen immer noch vorrangig auf militärische Gewalt. Präsident Sarkozy wird auf der Konferenz zweifellos seine bereits vor der NATO abgegebenes Ankündigung erneuern, in den nächsten Monaten weitere 1000 französische Soldaten nach Afghanistan zu verlegen. Und im Vorfeld der Konferenz wurde bekannt, dass sich auch die deutsche Regierung mit dem Gedanken trägt, ihr Truppenkontingent von derzeit 3500 auf 6000 Mann zu vergrößern.

* Aus: Neues Deutschland, 12. Juni 2008

Wurden Versprechen eingelöst?

Sayed Yaqub Ibrahimi zu zwei Jahren Afghanistan-Pakt *

Ihr Bruder Sayed Parvez Kaambakhsh, der ebenfalls Journalist ist, wurde im Oktober 2007 in Afghanistan inhaftiert. Was wird ihm vorgeworfen?

Er soll angeblich islamkritische Text gelesen und verteilt haben. Das ist eine Lüge. Der Hintergrund: Nach seiner Verhaftung durchsuchte der Inlandgeheimdienst NDS mein Büro ohne richterlichen Beschluss. Ich hatte vorher kritisch über die Gewalttaten eines mit dem Geheimdienstchef befreundeten Warlords berichtet. Im Dezember wurde mein Bruder von einem islamischen Gericht zum Tode verurteilt. Die Verhandlung dauerte vier Minuten. Die richterliche Entscheidung der Berufungsinstanz ist auf unbestimmte Zeit vertagt worden. Hand und Nase wurden ihm unter der Folter gebrochen.

Wie ist die Menschenrechtssituation in Afghanistan?

Immer mehr Menschen fallen gewalttätigen Übergriffen von Warlord-Milizen zum Opfer. 87 Prozent der Frauen geben an, von Verbrechen betroffen gewesen zu sein. Es kommt zu Zwangsheiraten von Mädchen im Alter ab sechs Jahren. Viele Jungen werden von den Warlords als Tanz- und Sex- Sklaven gehalten.

Und die wirtschaftliche und soziale Entwicklung?

Trotz eines jährlichen durchschnittlichen Wirtschaftswachstums von 13 Prozent nimmt die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten rapide zu. Manche Eltern verkaufen ihre Kinder, um das Überleben der Restfamilie sichern zu können. Viele Menschen leiden unter desaströsen sanitären Verhältnissen. Lediglich sechs Prozent der Bevölkerung haben Zugang zu Elektrizität.

Was treiben die Warlords?

Sie haben führende Positionen in Regierung, Parlament, Verwaltung und Justiz. Die Kriegsfürsten unterhalten mafiöse Strukturen und dominieren den Drogen- und Waffenhandel. Nicht selten kooperieren sie mit den Taliban und liefern Waffen an militante Islamisten in Afghanistan, Pakistan, Kaschmir und die arabische Welt. Die Entwaffnung der rund 1800 illegalen Kampfgruppen, die zum Jahresende 2007 abgeschlossen sein sollte, hat praktisch nicht stattgefunden.

Welchen Schutz bieten die ISAF-Truppen?

Viel zu wenig. Immer mehr Zivilisten kommen bei Terroranschlägen, Minendetonationen sowie bei Luftangriffen der Alliierten ums Leben. Ende April mussten mehr als 60 000 Menschen vor einer Offensive der US-Marines und der ISAF gegen die Taliban fliehen. Die Milizionäre der Warlords begehen ihre Verbrechen direkt vor den Augen der Schutztruppen, ohne strafrechtlich verfolgt zu werden – viele von ihnen sind sogar in den Polizeidienst übernommen worden.

In dem Report der Gesellschaft für bedrohte Völker ist von »uneingelösten Versprechen« die Rede. Was hat die internationale Gemeinschaft versäumt?

Sie hat die Lage in Afghanistan zu lange beschönigt und ihre Analysen fast ausschließlich auf die militärischen Probleme fokussiert. Ein gemeinsames Afghanistan-Programm existiert nicht. Die Staaten arbeiten nicht zusammen und ihre Ziele verfehlen oft den tatsächlichen Bedarf.

Welche Forderungen haben Sie an die Afghanistan-Konferenz in Paris?

Korruption und Machtmissbrauch innerhalb der afghanischen Regierung müssen schonungslos aufgedeckt, kritisiert und beseitigt werden. Die internationale Hilfe muss besser koordiniert werden.

Fragen: Susann Witt-Stahl

* Aus: Neues Deutschland, 12. Juni 2008




Internationale Afghanistan-Konferenz Paris:

Deutschland sagt 420 Mio. Euro Wiederaufbauhilfe für Afghanistan zu

Pressemitteilung des Auswärtigen Amts
11.06.2008


Die morgige internationale Afghanistan-Konferenz in Paris wird fast 90 Staaten und internationale Organisationen zusammenführen, um zur Halbzeit des Afghanistan Compact politische Bilanz über den Stand von Wiederaufbau, Entwicklung und Stabilisierung zu ziehen. Während der Konferenz wird auch die nationale Entwicklungsstrategie (ANDS) vorgestellt. In ihr hat die afghanische Regierung einen Fahrplan für die wichtigsten Bereiche des Wiederaufbaus bis zum Jahr 2012 ausgearbeitet. So sollen die Ziele des in London 2006 gemeinsam zwischen Afghanistan und der Internationalen Gemeinschaft vereinbarten Compact auf afghanischer Seite umgesetzt werden. Damit geht Afghanistan einen bedeutsamen Schritt für den weiteren Aufbau und die Zukunft des Landes durch mehr Eigenverantwortlichkeit.

Frieden in Afghanistan bedeutet auch Sicherheit für Deutschland und Europa. Deutschland steht als viertgrößter bilateraler Geber fest zu seinem Engagement in Afghanistan und wird die Umsetzung der afghanischen Entwicklungsstrategie aktiv unterstützen. Die Bundesregierung sagt Afghanistan deshalb zu, für die Jahre 2008 bis 2010 insgesamt 420 Mio. Euro für den Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen. Damit ist der gesamte Zeitraum abgedeckt, der im Afghanistan Compact von London zur Umsetzung der darin definierten mittelfristigen Ziele definiert worden war. Mit dieser Zusage wird Deutschland seine vielfältigen Unterstützungsleistungen für Afghanistan auf hohem Niveau fortsetzen.

Zur Halbzeit des Afghanistan-Compact lässt sich sagen: Der vernetzte und ausgewogene Einsatz von politischen, entwicklungspolitischen, polizeilichen und militärischen Maßnahmen zahlt sich aus, es gibt bereits beachtliche Erfolge. Die Verfassungsorgane sind aufgebaut, die Friedensdividenden des Aufbaus werden für einen immer größeren Teil der Bevölkerung spürbar, im Bereich von Infrastruktur, Gesundheit und Bildung sind sichtbare Fortschritte zu verzeichnen. Deutschland unterstützt u.a. Maßnahmen zur nachhaltigen ländlichen Entwicklung, zur beruflichen Wiedereingliederung von Flüchtlingen und finanziert Beschäftigungsprogramme, etwa im Bereich von arbeitsintensiven Infrastrukturvorhaben.

Angesichts der weiterhin fragilen Sicherheitslage bleibt der Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte von überragender Bedeutung. Im Bereich des militärischen Engagements hat der NATO-Gipfel in Bukarest bereits die erforderlichen Entscheidungen getroffen. Es gilt, das Land Schritt für Schritt in die Lage zu versetzen, selbst für seine Sicherheit zu sorgen und so mittelfristig die Aufgaben, die heute noch die internationale Gemeinschaft leistet, zu übernehmen.

Für den Polizeiaufbau hat Deutschland schon im Jahr 2008 seinen Mitteleinsatz verdreifacht. Insgesamt wurden seit 2002 bisher rund 22.000 afghanische Polizisten durch deutsche Trainer oder unter deutscher Anleitung aus- und fortgebildet. Darüber hinaus intensiviert Deutschland derzeit die Ausbildungsmaßnahmen durch die Entsendung von Polizeitrainern auf Kurzzeitbasis, um im Vergleich zum Jahr 2007 die Anzahl der jährlich Auszubildenden bis 2009 auf rund 3000 zu verdoppeln.

Auf deutsche Initiative haben die EU-Mitgliedstaaten am 26. Mai mit Blick auf die Pariser Konferenz zudem beschlossen, die Personalstärke der europäischen Polizeimission EUPOL zu verdoppeln. Die Bundesregierung steht bereit, die Zahl ihrer Polizeiberater von 60 auf 120 zu erhöhen.

Ein weiterer Pfeiler beim Aufbau selbsttragender afghanischer Sicherheitsstrukturen ist die Ausbildung der afghanischen Armee. Hier engagiert sich Deutschland seit Mitte 2006 mit einer stetig steigenden Zahl von Ausbilder- und Mentorenteams, um im deutschen Verantwortungsbereich "Nord" ca. 7500 afghanische Soldaten auszubilden. Der Personaleinsatz wird von aktuell 5 Teams mit 120 deutschen Soldaten bis März 2009 auf 7 Teams mit 200 Soldaten gegenüber 2007 verdreifacht.

Die morgige Pariser Konferenz wird aber auch Gelegenheit für eine Klärung bieten, wo wir auf der Hälfte des Weges zur Umsetzung der im Afghanistan Compact vereinbarten mittelfristigen Ziele stehen. Die Bundesregierung will mit den afghanischen Partnern offen über die Herausforderungen sprechen, die zur dauerhaften Sicherung der Wiederaufbauerfolge zu bewältigen sind: der Kampf gegen die Korruption, Verbesserungen im Bereich der Regierungsführung sowie auch die Bekämpfung des Drogenanbaus. Darüber hinaus wird es für den friedlichen und langfristigen Wiederaufbau auch darauf ankommen, den Menschen verstärkt Bildungs- und Beschäftigungsperspektiven zu bieten.

Fest steht, dass ein langer Atem nötig sein wird, um die erzielten Erfolge zu verstetigen und die Herausforderungen für den Wiederaufbau und den Staatsbildungsprozess gemeinsam zu bewältigen. Eine wichtige politische Wegmarke werden die in 2009/10 stattfindenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen sein. Afghanistan muss und wird immer mehr Eigenverantwortung für die nachhaltige und gleichmäßige Entwicklung übernehmen, so wie auch in seiner neuen nationalen Entwicklungsstrategie vorgesehen. Deutschland wird Afghanistan bei dem weiteren Weg in eine sichere und friedliche Zukunft weiterhin nach Kräften unterstützen.

*** Quelle: Website des Auswärtigen Amts; www.auswaertiges-amt.de


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