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Immer tiefer im Sumpf

Afghanistan: Erstmals Militäroperation unter deutschem Kommando

Von Knut Mellenthin *

Von der Öffentlichkeit fast unbemerkt gab es in den vergangenen zwei Wochen eine Zäsur in der Entwicklung der Bundeswehreinsätze im Ausland. In Nordafghanistan fand zum ersten Mal unter deutschem Kommando eine offensive Militäraktion statt. Angesichts des Schweigens der Bundesregierung fordert die FDP eine »offensivere Öffentlichkeitsarbeit«. Auch die Grünen sorgen sich, daß man mit Geheimhaltung »nicht in der Bevölkerung für eine Unterstützung der Afghanistanpolitik werben« könne. Gegen das direkte Eingreifen deutscher Soldaten in die Aufstandsbekämpfung wandte sich nur die Bundestagsfraktion der Partei Die Linke.

Schauplatz der Ende Oktober begonnenen Angriffsoperation »Harekate Yolo II« waren Grenzgebiete der Provinzen Badghis und Faryab. Letztere gehört zur Region Nord, für die deutsches Militär zuständig ist. Badghis hingegen liegt in der Westregion, die unter italienischem Kommando steht. Nordafghanistan, das überwiegend von Usbeken und Tadschiken bewohnt wird und während des gesamten Bürgerkriegs von der Taliban-feindlichen Nordallianz beherrscht wurde, galt bisher als eine Oase relativer Friedlichkeit. Das wurde von der Bundesregierung immer wieder gern so dargestellt, als handele es sich dabei um ein besonderes Verdienst deutscher Geschicklichkeit.

Seit einigen Monaten gibt es verstärkte Anzeichen, daß Aufständische auch im Norden an Einfluß und Kampfkraft gewinnen. Bisher scheint es aber keine Offensivoperationen der ISAF in der Nordregion gegeben zu haben. Die militärische Tätigkeit der Bundeswehr beschränkte sich nach eigenen Aussagen bisher auf Patrouillen. An »Harekate Yolo II« – über eine Vorgängeroperation mit der Nummer 1 ist nichts bekannt – waren 800 Afghanen, 200 bis 300 Deutsche, 200 Norweger sowie Soldaten aus Spa­nien, Lettland und Ungarn, nach einigen Berichten auch Italiener beteiligt. Die Führung der gesamten Operation, also auch der Aktionen in der zur Westregion gehörenden Provinz Badghis, lag beim Regionalkommandeur Nord, dem deutschen Brigadegeneral Dieter Warnecke.

Pressemeldungen zufolge, die offenbar auf Insiderinformationen aus dem Verteidigungsausschuß beruhen, beteiligte sich die Bundeswehr an der Operation »hauptsächlich« mit Sanitätern, Aufklärungs- und Nachschubkräften. Luftangriffe, bei denen nach Angaben des afghanischen Verteidigungsministeriums »Dutzende« Aufständische –und nach Zeugenaussagen auch Zivilisten – getötet wurden, müssen auf die Ergebnisse der deutschen Luftaufklärung durch Tornados zurückzuführen sein. Hauptkraft am Boden waren die 200 norwegischen Soldaten, die als »Schnelle Eingreiftruppe« dem deutschen Regionalkommandeur Nord ständig zur Verfügung stehen. Die beteiligten Spanier sind in der zur Westregion gehörenden Provinz Badghis stationiert.

Brigadegeneral Warnecke unterstehen im Normalfall rund 4 000 Soldaten aus 15 Ländern, darunter ungefähr 2500 Deutsche. Die weitgehend hochgebirgige, unerschlossene Region Nord ist rund doppelt so groß wie Bayern und hat etwa sieben Millionen Einwohner. Der offizielle Auftrag der ISAF, dort für ein »sicheres Umfeld« zu sorgen, ist militärisch unmöglich zu realisieren. Am Dienstag voriger Woche starben bei einem Bombenanschlag in der zu Warneckes Kommandobereich gehörenden Provinz Baghlan über 70 Menschen. Der Angriff richtete sich gegen Politiker der Nordallianz, die in Opposition zur Regierung in Kabul stehen.

* Aus: junge Welt, 12. November 2007

"Komplexer Hinterhalt"

Am Samstag (10. Nov.) verzeichneten die US-Besatzer in Afghanistan ihren bisher größten Tagesverlust in Afghanistan. Einer Verlautbarung der NATO zufolge wurden sechs der ISAF unterstellte US-Soldaten und drei ihrer afghanischen Hilfstruppen in der ost-afghanischen Provinz Nuristan von einer Gruppe von Taliban getötet. Acht weitere US-Soldaten und elf afghanische Kollaborateure wurden verwundet. Nach einem Treffen mit den Ältesten des Dorfes Arnis hatten sich die US-Soldaten durch unwegsames Gelände zu Fuß auf den Rückweg gemacht, als sie angegriffen wurden. »Es war ein komplexer Hinterhalt mit Maschinengewehren und Panzerfäusten, die von zwei verschiedenen Positionen das Feuer eröffneten«, räumte ISAF-Sprecher Oberstleutnant David Acceta ein. Damit erreicht die Zahl der US-Toten in Afghanistan dieses Jahr einen neuen Rekord: 101 Opfer sind fast dreimal soviel wie bei der ursprünglichen Eroberung des Landes vor fast genau sechs Jahren.

Der jüngste Angriff illustriert die zunehmende Effizienz und Kampfkraft der Taliban, die ihr Einflußgebiet im Laufe dieses Jahres über die Pakistan-nahen Grenzprovinzen ausgeweitet haben und der afghanischen Hauptstadt Kabul stetig näher kommen. Berichten zufolge fallen inzwischen sogar ganze Distrikte den Taliban kampflos in die Hände. Von weitreichender strategischer Bedeutung dürfte auch der verheerende Selbstmordangriff der Taliban am vergangenen Dienstag in der bisher ruhigen Nordprovinz Baghlan gewesen sein. Dabei wurden neben einer Reihe von Parlamentariern und 60 weiteren Menschen auch der Anführer der schiitischen Gruppe der Hazara, Sayed Mustafa Kazimi getötet. Kazimi, der offensichtlich das eigentliche Ziel des Angriffs war, war der aufsteigende Stern an Afghanistans politischem Himmel, denn er galt als Garant einer friedlichen Koexistenz sowohl zwischen den von Interessengegensätzen geprägten Kriegsherren als auch innerhalb der Ethnien der Nordallianz, die untereinander zutiefst zerstritten sind.

Bereits in den brudermörderischen Kämpfen Ende der 90er Jahre, in denen die gegen die Taliban gerichtete Nordallianz sich regelmäßig selbst bekämpfte, hatte Kazimi immer wieder als Mittler eine Schlüsselrolle gespielt. Seine Ermordung gilt daher Afghanistan-Beobachtern als Warnsignal für einen Plan zur Destabilisierung der Nordprovinzen des Landes. Davon wären die deutschen Truppen besonders betroffen, weil diese Entwicklung zugleich eine Ausweitung der Angriffe gegen die fremden Besatzer im bisher ruhigen Norden bedeuten würde. Dann allerdings bräuchte Kanzlerin Angela Merkel in Washington nicht mehr nach Entschuldigungen zu suchen, wenn ihr vorgeworfen wird, daß Deutschland nicht bereit sei, seinen »fairen« Anteil an den »Lasten« (Gefallenen) der NATO-Operation in Afghanistans zu tragen.




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