Hilfswerke rufen nach Feuerpause
UNHCR-Chef Lubbers kritisiert geringe deutsche Beiträge für Flüchtlinge
Von Jochen Reinert
Der folgende Artikel erschien im "Neuen Deutschland" am 18. 10. 2001.
Der USA-Bombenkrieg gegen die Taleban wirkt sich immer
unmittelbarer auf die ohnehin stark eingeschränkte
Tätigkeit der Hilfsorganisationen aus. Deshalb wird der Ruf
nach einem Stopp der Bombardements immer stärker.
Für die wenigen Hilfswerke, die nach Abzug der ausländischen
Mitarbeiter noch mit einheimischem Personal in Afghanistan tätig
sind, wird die Lage immer ernster. Nach der Zerstörung des
Kabuler Sitzes der im UNO-Auftrag arbeitenden
Minenräumorganisation Afghan Technical Consultants vergangene
Woche wurden am Dienstag zwei Lagerhallen des Internationalen
Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) mit Plastikplanen bzw.
Nahrungsmitteln getroffen – eine Entschuldigung der USA hat das
IKRK, so dessen Sprecher gegenüber der Nachrichtenagentur
epd, bisher nicht erhalten.
Aber auch von Seiten der Taleban droht immer häufiger Gefahr.
Bereits am Dienstag überfielen Taleban-Milizen in Mazar-e Sharif
das Büro der Organisation für Minenräumung und
Opferrehabilitation
(OMAR), ein Projektpartner der Frankfurter Hilfsorganisation
Medico International. Sie schlugen die Bewacher nieder und
raubten die Funkgeräte sowie drei Autos. Das Büro in Mazar-e
Sharif ist eine von vier Einrichtungen, von denen aus OMAR die Minenüberwachung und -aufklärung
sowie minimalste medizinische Notversorgung für Flüchtlinge organisiert. »Jeder Mitarbeiter in
Afghanistan befindet sich«, so äußerte OMAR-Direktor Fazel Karim Fazel, »in großer Gefahr, die
sowohl von den Luftangriffen als auch von den Taleban ausgeht.«
OMAR hat mehrere hundert Mitarbeiter vor Ort, die derzeit zwar keine Minen räumen können, aber die
vor den Luftangriffen Fliehenden auf die Minengefährdung aufmerksam machen. In Afghanistan liegen
rund 10 Millionen Minen in der Erde, durch die Clusterbomben der USA kommen weitere hinzu. Dass
die USA solche Bomben einsetzen, sei eine »schreckliche Nachricht«, so der OMAR-Direktor.
Laut Nachrichtenagenturen gab es nach neuerlichen Bombenangriffen am Dienstag und Mittwoch auch
Übergriffe auf andere Büros von Hilfswerken in Mazar-e Sharif und Jalalabad. Mehrfach haben die
Taleban unter Androhung von Gewalt Funkgeräte und Autos requiriert.
Unterdessen verlangen immer mehr Hilfsorganisationen von den USA eine Feuerpause. Dabei stützen
sie sich auf die Forderung von Mary Robinson, der UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, nach
einem »sofortigen Ende der Bombenangriffe«, damit Millionen von Flüchtlingen vor Einbruch des Winters
mit dem Nötigsten versorgt werden können. So heißt es am Mittwoch in einer gemeinsamen
Stellungnahme von vier großen internationalen Hilfsorganisationen, darunter Christian Aid und Oxfam:
»Gegenwärtig werden zu wenig Lebensmittel transportiert und verteilt, um die Menschen bis Mitte
November angemessen zu versorgen«. Dominic Nutt von Christian Aid erklärte: »Wenn diese
Militärschläge nicht umgehend aufhören, werden die Afghanen zu sterben beginnen.«
Mit Blick auf diese Situation hat der UNO-Hochkommissar für Flüchtlinge, Ruud Lubbers, von der
Bundesregierung mehr Geld verlangt: »Deutschland sollte großzügiger sein und verstehen, dass ihm
seine Größe auch eine besondere Verantwortung verleiht.« Lubbers sagte: »Die Norweger zahlen uns
fünf Dollar pro eigenem Einwohner, die US-Amerikaner einen, die Deutschen aber nur 50 Cents (etwa
1,08 Mark).« Allein in diesem Jahr fehlten im Haushalt des UNO-Flüchtlingshilfswerks 100 Millionen
Dollar.
Von den deutschen Hilfsorganisationen haben sich vor allem die Welthungerhilfe und das
Kinderhilfswerk Terre des hommes für eine Feuerpause eingesetzt. »Eine Feuerpause wäre zumindest
ein Beginn, ein Zeitfenster für Hilfen«, erklärte Erhard Bauer, der gegenwärtig in Peschawar stationierte
Leiter des Afghanistan-Büros der Deutschen Welthungerhilfe gegenüber epd. Wenn jetzt nichts
geschehe, könne man im Frühjahr erfahren, wie viele Menschen in Afghanistan verhungert sein werden.
Bauer ist ungehalten: Die USA müssten bei ihrer militärischen Strategie auch ein Konzept haben, um
Hilfslieferungen zu ermöglichen und Zivilisten zu schützen: »Die Bevölkerung sitzt zwischen den
Fronten.«
Freilich: Eine Aussetzung der Bombenangriffe bietet noch keine Gewähr dafür, dass die Taleban auch
eine unparteiische Hilfe zulassen würden. Sie verhalten sich seit langem feindselig gegen internationale
Helfer, erschweren ihre Arbeit zum Teil massiv – siehe die Übergriffe in Mazar-e Scharif und Jalalabad.
Dennoch: Viele Hilfswerke sehen in einem Stopp der Bombardements die einzige Möglichkeit, die
Winterversorgung der Millionen Not leidender Afghanen zu sichern.
Aus: Neues Deutschland, 18.10.2001
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