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Afghanistan: Kein ethnischer Konflikt

Ethnische Sichtweise ist "realitätsfremd und gefährlich"

Unter dem Titel "Die gefährliche Ethnisierung eines Konflikts - Die politischen Realitäten in Afghanistan werden verzerrt wahrgenommen" veröffentlichte die Frankfurter Rundschau am 30. Oktober 2001 eine Analyse des Bonner Sozialwissenschaftlers Conrad Schetter. Schetter hat zum Thema promoviert und ist zur Zei Mitarbeiter am Zentrum für Entwicklungsforschung der Universität Bonn. Wir dokumentieren seinen Beitrag gekürzt.

... Vielfach wird die Zukunft Afghanistans auf die Frage zugespitzt, wie man mit dem ethnischen Konfliktpotenzial in diesem Land umgehen soll und die verschiedenen ethnischen Gruppen in eine Regierung einbinden kann. Ein jüngst häufig geäußertes Argument lautet, dass die moderaten Vertreter der Taliban in einer neuen Regierung mit von der Partie sein sollten, um auch Paschtunen dabeizuhaben. Dies suggeriert die Annahme, dass alle Paschtunen Anhänger der Taliban sind. ... Auf der einen Seite die Paschtunen, die mit den Taliban identisch sein sollen und das Gros der afghanischen Bevölkerung stellen. Auf der anderen Seite die zahlenstärksten ethnischen Minderheiten der Tadschiken, Usbeken und Hasara, die in der Nordallianz zusammengeschlossen sein sollen.

Diese Sichtweise, die der Vereinfachung der sehr komplexen politischen Verhältnisse in Afghanistan dient, ist realitätsfremd und gefährlich: realitätsfremd, da die meisten Afghanen ihrer ethnischen Zugehörigkeit keine wichtige Bedeutung zugestehen. Gefährlich, da suggeriert wird, dass ethnische Zugehörigkeit einer Konstanten entspricht, die das Denken und Handeln von Menschen unausweichlich bestimmt. Ein Rückblick in die afghanische Geschichte verdeutlicht, dass das Bewusstsein, einer ethnischen Gruppe anzugehören, erst im Zuge der Nationalstaatsbildung geschaffen wurde und Ethnizität erst im Verlauf des seit 1979 andauernden Afghanistankriegs allmählich als Instrument der politischen Auseinandersetzung an Bedeutung gewann.

... In ethnologischen Abhandlungen werden weit über fünfzig ethnische Gruppen aufgezählt. ...
Vielfach gerät in Vergessenheit, dass die Vorstellung einer gemeinsamen ethnischen Gruppenzugehörigkeit erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts erschaffen wurden. Der wissenschaftliche Eifer, Menschen auf Grund kultureller Eigenheiten zu klassifizieren, bedingte, dass Ethnologen eine ganze Reihe von ethnischen Gruppen in Afghanistan kreierten: So etwa die Nuristani, Paschai oder Aimaq. Den zu solchen Einheiten zusammengefassten Menschen ist oftmals nicht einmal das Ethnonym, mit dem sie belegt wurden, geläufig, geschweige denn irgendeine gemeinsame Identität. Ein anschauliches Beispiel stellt die Erhebung der Tadschiken zu einer ethnischen Gruppe dar. In Afghanistan wird der Terminus "Tadschike" für die Menschen verwendet, die sich ethnisch nicht einordnen lassen. Dennoch sprechen wir heute von der ethnischen Gruppe der Tadschiken; ein Widerspruch in sich. Auch lässt sich kaum aus der ethnischen Zuordnung ein gemeinsames Handeln ableiten.

So haben die Paschtunen im so genannten Great Game des 19. Jahrhunderts niemals vereint gegen die englische Kolonialmacht gekämpft, wie es die historische Verklärung glauben machen will. Vielmehr wechselten die einzelnen paschtunischen Stämme ständig die Seiten. Paschtunische Herrscher waren nur unter Zustimmung der Engländer in der Lage, den Kabuler Thron zu besteigen. Schließlich verschleiert die ethnische Klassifizierung, dass ein guter Teil der afghanischen Bevölkerung situationsbedingt die ethnische Identität wechseln kann. Paschtunen, die in Kabul aufgewachsen sind und eine urbane Lebensweise annahmen, können sich ohne Mühe als Tadschiken ausgeben. Hasara wiederum verschweigen oftmals ihre schiitische Konfession und bezeichnen sich als Tadschiken, um hierdurch Diskriminierungen zu entgehen.

Die rivalisierenden Kolonialmächte England und Russland riefen einen Staat Afghanistan erst Ende des 19. Jahrhunderts ins Leben. Die von Englands Gnaden eingesetzte paschtunische Herrscherfamilie favorisierte in ihrem Nationalstaatskonzept paschtunische Momente: So ist Afghane das persische Synonym für Paschtune, Paschtu war stets afghanische Nationalsprache, und die afghanische Geschichte wurde aus paschtunischer Sicht geschrieben. Die Herrschaftspolitik nutzte das ethnische Raster, um den Zugang zu staatlichen Gütern und Ämtern zu regulieren. Paschtunen erfuhren in allen Bereichen Bevorzugungen und dominierten das Militär. Tadschiken überließ der Staat den Wirtschafts- und Bildungsbereich, während die Hasara außen vor blieben.

Diese verschiedenartige Behandlung der Einwohner auf Grund ethnischer Attribute ging einher mit der Ausbildung ethnischer Stereotype: Die Paschtunen galten als kriegerisch, die Tadschiken als geizig, die Usbeken als brutal und die Hasara als ungebildet und arm. Obgleich die nationalstaatliche Politik ein ethnisches Konfliktpotenzial schuf, traten ethnische Konflikte überraschenderweise kaum auf. So bedingten die ländlichen und dezentralen Strukturen des Landes, dass die meisten Afghanen sich nicht dafür interessierten, was im fernen Kabul geschah und wer von der staatlichen Politik profitierte und wer nicht.

Dies änderte sich mit dem Ausbruch des Afghanistankriegs 1979. Obgleich der Afghanistankrieg entsprechend den Vorzeichen des Kalten Kriegs vom Gegensatz Kommunismus versus Islam dominiert wurde, nutzten die beteiligten Parteien verstärkt das ethnische Konfliktpotenzial, um ihre Position zu stärken. Die kommunistischen Machthaber in Afghanistan erhofften sich, ausgewählte ethnische Gruppen über deren Erhebung zu Nationalitäten an sich zu binden. Noch bedeutender war die Schaffung von Milizen, die auf ethnischer Zugehörigkeit aufbauten; die bekannteste ist die Usbeken-Miliz des General Dostum.

Auch Pakistan sowie Iran, die den afghanischen Widerstand aufbauten, nutzten das ethnische Konfliktpotenzial aus. Iran baute auf Grund schiitischer Verbundenheit mit der Hesb-e Wahdat eine Partei auf, die unter den schiitischen Hasara stark verbreitet war. Für Pakistan gestaltete sich die Situation schwieriger. Der Grund: Zwischen den 50er und 70er Jahren standen Pakistan und Afghanistan in der so genannten Paschtunistanfrage mehrfach am Rande eines Kriegs. Afghanistan strebte die Einverleibung der paschtunischen Stammesgebiete Pakistans an. Um die Paschtunistanfrage ad acta zu legen, protegierte Pakistan gleich mehrere paschtunisch dominierte Parteien, die sich auf Grund persönlicher Rivalitäten ihrer Führer voneinander unterschieden. Mit der Jamiat-e Islami erkannte Pakistan außerdem eine Partei an, die als Sammelbecken für alle Nichtpaschtunen dienen sollte, sich jedoch im Verlauf der 80er Jahre als Führsprecher der Tadschiken profilierte.

Mit dem Sturz des kommunistischen Regimes 1992 stieg Ethnizität zum dominierenden Faktor der Kriegführung auf. Die Jamiat-e Islami, die Dostum-Milizen und die Hesb-e Wahdat gaben sich nun offen als die Interessenvertretungen der Tadschiken, Usbeken und Hasara aus. Hierüber vermochten sie es, Kämpfer zu mobilisieren und ihre Existenzberechtigung zu rechtfertigen. Auf Grund der pakistanischen Politik fehlte allein eine Bewegung, die Rückhalt unter den Paschtunen hatte. Die von Pakistan protegierten Parteien, die unter den Paschtunen verbreitet waren, hatten sich im Verlauf der 80er Jahre diskreditiert und nahmen selten mehr als eine lokale Bedeutung ein. Auch das Verhältnis zwischen Pakistan und dem ehemaligen Ziehkind, der Jamiat-e Islami, verschlechterte sich.

Seit Anfang der 90er Jahre befand sich Pakistan im Dilemma, über keinen Verbündeten mehr in Afghanistan zu verfügen. Dies leitete eine politische Kehrtwende Islamabads ein, die 1994 in der Gründung der Taliban mündete: einer Bewegung, die über ein radikal islamistisches und ein paschtunisches Gesicht verfügte. Gerade die paschtunische Ausrichtung war eine wesentliche Ursache für die rasante Ausbreitung der Taliban in Süd- und Ostafghanistan innerhalb weniger Wochen. Mit der Einnahme Kabuls durch die Taliban 1996 und dem Zusammenschluss der Jamiat-e Islami, Hesb-e Wahdat und Dostum-Milizen zur Nordallianz mutierte der Krieg erneut. Diesmal zum Konflikt zwischen paschtunischen Majoritätsansprüchen und ethnischen Minderheitenforderungen.

Die Ethnisierung des Afghanistankriegs in den 90er Jahren schlug sich in einer Reihe ethnischer Säuberungen und Massaker nieder, an denen alle Kriegsparteien beteiligt waren. Vor allem Zivilisten waren die Opfer dieser Auseinandersetzungen. Trauriger Höhepunkt stellte das Massaker in der Stadt Masar-e-Scharif 1998 dar. Die Taliban schlachteten mehrere tausend Hasara ab. Trotz dieser Ethnisierung des Kriegs blieb eine Ethnisierung der Massen aus. Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass sich die Paschtunen durch die Taliban und die Angehörigen der ethnischen Minderheiten durch die Nordallianz vertreten sehen. Auch die Relevanz von Ethnizität als politische Klammer blieb begrenzt: Viele Kommandeure und Kampfeinheiten wechselten aus Opportunismus mehrfach die Fronten - unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit.

Zukunftsaussichten

Die Tage der Taliban scheinen gezählt zu sein. Seit Wochen arbeiten Politiker fieberhaft an einer Post-Taliban-Lösung. Anstelle die gesamte Komplexität des Afghanistankriegs zu berücksichtigen, findet eine monokausale Verengung auf den ethnischen Horizont statt: Ethnische Quotenregelungen und Föderalismus avancieren zu zentralen Zauberwörtern. Jedoch wird die Problematik solcher ethnischen Reglementierungen übersehen. Die Festsetzung ethnischer Quoten für Staatsämter birgt die Gefahr, die Bedeutung von Ethnizität festzuschreiben und bei jedem neu zu besetzenden Amt ein Jonglieren mit Zahlen heraufzubeschwören: Ob etwa die Paschtunen 60, 45 oder 38,65 Prozent der afghanischen Bevölkerung stellen.

Diese ethnische Arithmetik erscheint um so bizarrer, da die afghanische Bevölkerung bislang ethnischen Zugehörigkeiten kaum eine politische Bedeutung zugesteht und sich der zahlenmäßige Umfang ethnischer Gruppen nicht festlegen lässt. ... Auch die Etablierung ethnisch-föderaler Strukturen ist wenig dienlich, da in Afghanistan ein ethnisches Mosaik vorherrscht und sich ethnische Gruppen kaum räumlich verorten lassen. Nicht selten findet man Täler und Dörfer, in denen gleich eine ganze Reihe ethnischer Gruppen leben. Daher würde die Einrichtung föderaler Strukturen nur eine Verlagerung der ethnischen Problematik von der nationalstaatlichen auf die föderale Ebene bedeuten. Schnell könnten aus fünf Föderalstaaten dann zwanzig oder mehr werden - eine brisante Entwicklung, die aus dem multiethnischen Nigeria hin längst bekannt ist.

Die Entpolitisierung von Ethnizität sollte das wesentliche Ziel einer politische Neuordnung Afghanistans sein. Eine neue afghanische Regierung muss vor allem deutlich machen, dass die Ämterbesetzung und die politischen Entscheidungen nicht von Ethnizität geleitet werden. Die afghanische Verfassung sollte nach Möglichkeit auf ethnische Bezüge verzichten. Es wäre verheerend, den sunnitischen Islam als Staatsreligion festzuschreiben, da hierüber die Schiiten ausgeklammert blieben. Auch in der Sprachenpolitik sollten Persisch, die Lingua franca Afghanistans, und Paschtu gleichberechtigt nebeneinander stehen.

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In Afghanistan steht die Weltpolitik erneut vor der Herausforderung, mit ethnisch überlagerten Konflikte umzugehen. Die Politiker, die jetzt die Zukunft Afghanistans planen, sind gut beraten, der ethnischen Polarisierung Afghanistans entgegenzuwirken. Ethnizität ist nicht Ursache eines Konflikts, sondern Folge der politischen und militärischen Mobilisierung. Eine Berücksichtung ethnischer Forderungen behebt daher nicht die Ursachen des Konflikts, sondern bestärkt nur diejenigen, die - wie bereits in Jugoslawien - Ethnizität als Instrument der Interessendurchsetzung einsetzten.

Aus: Frankfurter Rundschau, 30. Oktober 2001

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