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Einer nimmt - und einer zahlt

Im Westen ist es Usus geworden, auf die afghanische Regierung zu schimpfen, die eigenen Fehler in dem Land aber zu ignorieren

Von Reinhard Erös *

Als jüngst bei der Münchner Sicherheitskonferenz wieder einmal über Afghanistan diskutiert wurde, herrschte erstmals eine Stimmung wie im Vorstand des FC Bayern nach einer Niederlage gegen den Tabellenletzten. Wer ist schuld an dem Desaster? Die Nato (um im Bild zu bleiben: der Trainerstab) oder der afghanische Präsident Karsai und seine Regierung (die Spieler)?

James Jones, der ehemalige Nato-Oberbefehlshaber, den der neue US-Präsident als Sicherheitsberater aus dem Ruhestand zurückgeholt hat, erwähnte in München zwar Karsai mit keinem Wort, wies aber in aller Deutlichkeit auf Defizite der Kabuler Regierung hin, zum Beispiel auf das noch immer ungelöste Drogenproblem und das Fehlen einer funktionierenden Justiz und Polizei. Richard Holbrooke, von Obama als Sondergesandter zur Lösung des Pakistan-Afghanistan-Konflikts eingesetzt, erklärte mit seiner Erkenntnis "Die Taliban sind so stark wie noch nie" eine frühere Äußerung des Ex-Generals Jones zu Makulatur. Noch im Sommer 2005 war der damalige Nato-Oberbefehlshaber Chef Jones nämlich der Überzeugung: "Die Zeiten, da die Taliban wieder erstarken, sind endgültig vorbei." Selten hat sich ein Nato-General so dramatisch geirrt!

Inzwischen agieren die Gotteskrieger wieder wie in ihren besten Tagen. Der Süden des Landes ist praktisch in ihrer Hand. In den an Pakistan grenzenden Provinzen erlebe ich seit drei Jahren, dass die "Religiösen", wie man die Taliban dort mit ängstlicher Ehrfurcht nennt, von der Dorfbevölkerung bei juristischen Streitereien gerne als Richter gebeten werden. "Im Unterschied zu den staatlichen Richtern sind sie wenigstens nicht korrupt", das ist die Begründung dafür. Seit 2007 dehnen sie ihre Einfluss-Sphäre auch in den Norden aus.

Inkompetenz und Korruption wirft der Diplomat Holbrooke der Kabuler Regierung ganz undiplomatisch vor. Natürlich hat er damit Recht. Aber: Zur Korruption gehören immer zwei. Einer zahlt, einer nimmt. Und dass in Afghanistan, dem ärmsten Land der Welt, der reiche Westen korrumpiert, sticht dem landeserfahrenen Helfer täglich in die Augen.

Entwicklungshilfegelder werden in unkontrollierter Großzügigkeit verteilt, und das in einem Maß, wie nirgendwo sonst. Von den 80 Millionen Euro deutscher Entwicklungshilfe an Afghanistan sind im Jahr 2006 weniger als 25 Millionen tatsächlich bei Projekten angekommen. Der große Rest ist einfach verschwunden, in horrenden Gehältern und sogenannten Verwaltungskosten. Nach Veröffentlichung dieser Zahlen hat die Bundesregierung das Übel nicht etwa abgestellt, sondern den Betrag auf 140 Millionen erhöht. Die Opposition schweigt. Die Bürger zahlen.

Auch wer über die Inkompetenz der Regierung Karsai schimpft, sollte sich erst einmal kritisch selber befragen: Wer hat denn Karsai und seine Minister ins Amt gebracht und jahrelang gehätschelt? Zum Beispiel den Außenminister Spanta, der nach eigenen Angaben einst glühender Verehrer Maos war, nach seiner Flucht im Jahr 1982 deutscher Staatsbürger wurde und 1999 nicht einmal mit Erfolg für den Stadtrat von Aachen kandidierte. Er verdankt sein Amt wohl mehr seinem früheren grünen Parteifreund Joschka Fischer als dem Wunsch vieler Afghanen. Spanta, der Politologie-Dozent, ist Lieblings-Interviewpartner unserer Medien und prägt so das Afghanistanbild hierzulande. Im Jahr 2007 wurde er durch Parlamentsbeschluss seines Amtes enthoben, wegen "Unfähigkeit". Auch dank westlicher Intervention ist er immer noch in Amt und Würden. Karsais Verhältnis zu ihm ist gespannt. Dessen Vorwurf in München, der Westen behandele Afghanistan wie eine Kolonie, ist daher nur zu gut verständlich.

2300 westliche Polizei-Ausbilder forderte im Herbst 2008 der für die Ausbildung verantwortliche US-General Cohen. Deutschland hatte sich bei der Petersberger Konferenz vor sieben Jahren verantwortlich für die Polizeiausbildung erklärt. Tatsächlich leisten heute weniger als 100 deutsche Beamte dort Dienst, und ein Großteil von ihnen ist nicht mit Ausbildungs-, sondern mit Verwaltungsaufgaben beschäftigt. Und wie interessant ist es wohl für einen jungen Afghanen, sich von deutschen Polizisten ausbilden zu lassen? 4000 Euro netto verdient ein 18-jähriger, unverheirateter deutscher Obergefreiter, der im Hochsicherheits-Camp der Bundeswehr in Faisabad als Hilfskoch vier Monate den Kochlöffel schwingt. Der afghanische Polizeimeister, 35 Jahre, 7 Kinder, erhält 60 Euro im Monat für einen Job, der ihn mit einiger Wahrscheinlichkeit das Leben kostet: Im vergangenen Jahr kamen 1370 afghanische Polizisten ums Leben. Und wir wundern uns, dass sich trotz hoher Arbeitslosigkeit nur Analphabeten zur Polizei melden. Wenn ich an den Schulen unserer Organisation im Osten des Landes die Abiturienten frage, wer denn zur Polizei gehen möchte, ernte ich Gelächter: "Nur Doofe und Kriminelle arbeiten für 70 Dollar im Monat. Wir suchen uns nach der Schule einen Job als Dolmetscher bei der Internationalen Afghanistan-Schutztruppe oder als Büroangestellter bei einer Hilfsorganisation. Dort verdienen wir das Zehnfache eines Polizisten."

Rund 12.000 westliche Söldner verdingen sich derzeit am Hindukusch, zusätzlich zu den regulären Truppen. Durchschnittsverdienst jeweils 5000 US Dollar im Monat. Bezahlt aus dem Topf "Wiederaufbau". Mit diesen 60 Millionen könnte man 100.000 afghanischen Polizisten für ein Jahr ein menschenwürdiges Salär bezahlen und die für viele Polizisten lebensnotwendige Korruption deutlich reduzieren, wenn schon nicht ganz beseitigen.

Präsident Karsai hat sich in München völlig zu Recht, nur viel zu spät, verbittert und enttäuscht vom Westen gezeigt. Er klagt an: Die Zahl der durch US-Bombardements getöteten Zivilisten hat sich in den vergangenen zwei Jahren verdreifacht. Das Verhalten der US-Marines beim Durchsuchen der Dörfer ist von kultureller Ignoranz und Brutalität geprägt. Verwunderlich ist das nicht. Bei den Marines dienen laut CNN derzeit 12.000 Kriminelle: vorbestraft wegen schwerer Körperverletzung oder schweren Raubs. Kein Wunder also, dass die landesweite Umfrage von ARD und BBC in Afghanistan vom Herbst 2008 ein vernichtendes Bild ergab: Nur jeder dritte Afghane bescheinigte den westlichen Truppen eine positive Leistung. Vor zwei Jahren waren es mehr als doppelt so viele. 50 Prozent der Afghanen drängen auf ihren raschen Abzug. Der Westen hat den Kampf um die Herzen und Köpfe vorläufig verloren. Die Taliban gelten immer mehr Afghanen als das kleinere Übel.

* Dr. Reinhhard Erös, 61, war Oberstarzt der Bundeswehr. Seine Organisation "Kinderhilfe Afghanistan", betreibt im Süden des Landes zwei Dutzend Schulen und Gesundheitsstationen.

Dieser Beitrag erschien am 16. Februar 2009 auf Seite 2 der Süddeutschen Zeitung unter der Rubrik "Außenansicht". Wir dokumentieren ihn hier mit freundlicher Genehmigung durch den Autor.



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