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Den Krieg in Afghanistan beenden und den Konflikt politisch-diplomatisch regeln

Vorschläge der "Diplomaten für den Frieden mit der islamischen Welt" an die Teilnehmer der Londoner Konferenz *

Am Vorabend der Londoner Konferenz zum weiteren Vorgehen des jetzigen VN-Mandatsträgers in Afghanistan, der Staaten der NATO, fordern wir als Botschafter a. D. der auswärtigen Dienste der ehemals beiden deutschen Staaten die Teilnehmer der Londoner Afghanistan-Konferenz auf, den Krieg im Land zu beenden und den Weg für einen sofortigen Übergang zu einer politisch-diplomatischen Regelung des Konflikts frei zu machen. Eine solche Regelung ist zu finden sowohl für seine inner-afghanische Dimension, als auch seine äußere – den kriegerischen Konflikt, indem sich der jetzige VN-Mandatsträger und immer größer werdende Teile der afghanischen Gesellschaft befinden.

Unsere Aufforderung begründen wir wie folgt:

1. Sämtliche Argumente, die der VN-Mandatsträger bereits in den vergangenen acht Jahren zum Rechtfertigen der Verlängerung seiner militärischen Präsenz in Afghanistan ins Feld führte, sind gescheitert. Die Priorität militärischer Mittel hat das Ziel verfehlt, Afghanistan zu Frieden, Stabilität und Entwicklung zu führen.

2. Der jetzt erörterte Strategiewechsel einer Afghanisierung des Kriegs gegen die Aufständischen ist zynisch, weil ihn die afghanische Armee ebenso wenig wie die NATO gewinnen kann. Es kann keine starken afghanischen Streitkräfte ohne eine starke afghanische Zentralmacht geben. Deren Schwäche ist unumstritten. Dieser Zustand wird so lange erhalten bleiben, wie eine demokratische Regelung der ethno - politischen Widersprüche in Afghanistan und ihrer Kernfrage - der nach dem Verhältnis zwischen der Zentralmacht und den anderen regionalen und nationalen Zentren – nicht erreicht ist. Gerade diese Kernfrage beließ der VN-Mandatsträger jedoch ungeregelt. Die Installation Karzais von außen hat ihre Lösung noch weiter kompliziert.

3. Der zunehmende militärische Erfolg der Taliban sowie einer wachsenden Anzahl weiterer Widerstandsgruppen wäre ohne stärker werdende Unterstützung aus der Gesellschaft nicht möglich. Es reicht daher heute nicht mehr aus, die Verantwortung für die extrem schlechte Situation in Afghanistan allein bei Warlords, ethnischen Rivalitäten, Opium oder islamistischem Extremismus zu suchen. Die entstandene Situation ist ganz wesentlich ein direktes Ergebnis einer Strategie, die die eigentlichen Schlüsselfragen einer Regelung für Afghanistan umgeht: Was zu tun ist, um in Afghanistan schnellstens den Kriegsweg zu verlassen und weiteres Sterben, darunter deutscher Soldaten, zu beenden und wie geholfen werden kann, dass die afghanischen Völker zu innerem Frieden finden.

4. Die Afghanistanpolitik des VN-Mandatsträger ist Teil einer Strategie, die in der Auseinandersetzung mit dem islamistischen Extremismus und seinen Ursachen das Schwergewicht auf militärische Mittel legt. Der überwiegende Verzicht auf politisch-diplomatische Prävention wurde in Afghanistan selbst noch zu einer Zeit beibehalten, da die Taliban als militärischer Faktor als weitgehend ausgeschaltet galten. Nach Irak führte diese Strategie auch in Afghanistan erneut in eine militärische, politische und humanitäre Katastrophe.
Bereits im Februar 2005 warnten 29 deutsche Botschafter a. D. gegenüber dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, dass eine solche Strategie keine Regelung der Probleme bewirken wird. Auch heute wird eine militärische Aufstockung lediglich dazu geeignet sein, die Feindschaft in islamischen Staaten und Gesellschaften gegen den `Westen` weiter anzufachen und Extremisten zu Gegenoffensiven in ihrem deklarierten `Jihad´ zu provozieren.

5. Der jetzige Träger des VN-Mandats hat sich in Afghanistan selbst so tief in den inner-afghanischen Konflikt verwickelt, dass er zum Teil der Probleme und ihrer Ursachen geworden ist. Er ist als westliche Militärallianz in erster Linie deren Interessen verpflichtet und damit zur Wahrnehmung der neutralen Pflichten von Peace Building untauglich.
Daher bleibt nur noch eine Alternative: radikal einen Zustand zu beenden, in der die Gewalt selbst Ursache und Motor ständiger Eskalation des Krieges geworden ist. Der Afghanistankrieg muss durch einen entschlossenen Übergang zu einer friedlichen Regelung über die Einleitung eines inner- afghanischen Regelungs- und Friedensprozesses beendet werden. Weiterhin ist konsequent an einer Entfeindung des Verhältnisses zwischen dem Westen und den islamischen Gesellschaften zu arbeiten.

Von diesen Wertungen ausgehend, unterbreiten wir folgende Überlegungen für den Übergang zu einer friedlichen Regelung des Afghanistan-Konflikts durch Einleitung eines inner - afghanischen Regelungs- und Friedensprozesses:

I. Der Übergang zu einer friedlichen Regelung ist an folgenden Zielen und Kriterien zu messen: 1. an humanitären: Beendigung der Kampfhandlungen, Schutz der Zivilbevölkerung, Eindämmung von Flüchtlingsströmen. 2. an friedensstiftenden: schnellstmögliche Rückkehr zu friedlichen Bedingungen im Land durch das Schaffen eines Gesprächsformats für die Beendigung aller Kampfhandlungen, die Aufnahme von Friedensverhandlungen und die Regelung der Konfliktursachen. 3. an sicherheitspolitischen: Verhütung einer weiteren regionalen Ausweitung des Konflikts. Dazu müssen die Nachbarstaaten von vornherein in die Konfliktbearbeitung einbezogen werden. Erst der Beweis der Bereitschaft zu einer friedlichen Regelung in Afghanistan wird die Tür zu einer solchen auch in Richtung Pakistan öffnen.

II. Die universelle Verantwortlichkeit der Vereinten Nationen für die internationale Sicherheit gilt es auch im Fall Afghanistan wiederherzustellen. Eine Überprüfung des jetzigen ISAF - Mandats durch die Vereinten Nationen ist angesichts des Scheiterns aller bisherigen Instrumente des gegenwärtigen Mandatsträgers unumgänglich. Ein neuer VN-Mandatsentwurf sollte die Vereinten Nationen in die Verantwortung als Hauptträgerin internationaler, regionaler und nationaler Bemühungen um eine Afghanistanregelung zurückführen. Als zentral für einen neuen Mandatsentwurf gilt eine demokratische Regelung der ethno - politischen Widersprüche in Afghanistan und des Verhältnisses zwischen der Zentralmacht und den anderen regionalen und nationalen Zentren. Unumgänglich für die Stabilisierung der Lage ist die Erweiterung des regionalen Kontextes einer Regelung des Afghanistankonflikts. Für die militärische Sicherung eines Friedensprozesses könnte das Potential benachbarter Staaten Zentralasiens, Irans, Pakistans, Russlands, Chinas, Indiens, der Shanghai Cooperation Organisation sowie arabischer Staaten der Islamic Conference Organisation nutzbar gemacht werden.

III. Ein innerafghanischer politischer Verhandlungsprozess als Rahmen zur Erzielung einer „Win–Win“–Konstellation für alle inneren politischen, ethnischen und religiösen Kräfte Afghanistans ist einzuleiten. Dabei dürfen radikale Kräfte nicht ausgeschlossen werden, denn sie sind ein zentrales Element der Probleme. Die Verhandlungen müssen ohne Vorbedingungen beginnen. Wenn die Taliban und andere Widerstandsgruppen den Abzug der ausländischen Streitkräfte fordern, so sollte im Interesse der Dringlichkeit und Unaufschiebbarkeit der Friedensfrage in Afghanistan darauf eingegangen werden. Seitens der jetzigen externen Streitmächte könnten eine Bereitschaftserklärung zum Abzug aus Afghanistan und die Vorlage eines mit dem VN-Generalsekretär abgestimmten Zeitplans eine fördernde Rolle spielen. Bei gutem Willen aller Seiten lassen sich dafür entsprechende Modalitäten erarbeiten und vermittelnde Verhandlungsformate finden – unterstellt, dass sich eine solche Forderung auf den Abzug von ISAF (NATO) und den US-Streitkräften bezieht, nicht aber auf einen friedensunterstützenden Einsatz von Streitkräften neutraler Staaten unter VN-Mandat für die militärische Absicherung eines Regelungsprozesses.

IV. Schließlich geht es um erste inhaltliche Überlegungen zum Einstieg in einen innerafghanischen Verhandlungsprozess. Dessen Inhalt müssten die afghanischen Seiten gemeinsam mit den VN erarbeiten. Folgende Stichpunkte können als vorrangig gelten:
  1. Erarbeitung von Prinzipien und Mechanismen einer inneren Stabilisierungsphase; Behandlung militärischer Fragen (Waffenstillstand, Überwachung, Charakter der Streitkräfte u. a.);
  2. Erörterung der Fragen, die mit der inneren Zukunft des Staatsaufbaus und des politischen Systems Afghanistans zusammenhängen;
  3. Wiederherstellung der afghanischen Wirtschaft;
  4. Fragen eines rechtlichen Umgangs mit Kriegsverbrechen;
  5. Inhalte einer Übergangsperiode zur Implementierung von unter 3. gefundenen Entscheidungen sowie Wege zur inneren Konsolidierung;
  6. Mandat und Zusammensetzung einer internationalen Kontaktgruppe sowie anderer Fragen, die von afghanischer, regionaler und internationaler Seite für wichtig gehalten werden.
V.Entfeindung des Verhältnisses zwischen dem Westen und islamischen Gesellschaften der Region.
Der Glaubwürdigkeit ihrer Bereitschaft zu einer sofortigen Aufnahme von Gesprächen über eine friedliche Regelung des Afghanistankonflikts sollte insbesondere die EU mit einer Erklärung an die islamischen Völker zu einem Paradigmenwechsel untermauern. Es wäre zu verdeutlichen, dass ein solcher Wechsel den Beginn einer Politik bedeutet, die beruht auf der Respektierung der Integrität der Zivilisation des Anderen; der Anerkennung der Unterschiedlichkeit seiner Gesellschaften und ihrer politischen Systeme; dem Recht auf einen selbstbestimmten Entwicklungsweg, darunter einen sich am Islam orientierenden. Es geht um ein solches Verhältnis zu den islamischen Nachbarregionen, das langfristig zu einem Modus vivendi friedlicher Koexistenz und Zusammenarbeit führt. Ein solcher Paradigmenwechsel könnte der Einstieg in die Vertrauensbildung sein, um die tiefe antiwestliche Stimmung gerade in dieser Region abzubauen.

Die Bundesrepublik Deutschland sollte sich gegenüber dem Generalsekretär der Vereinten Nationen für die Schaffung von Systemen kollektiver Sicherheit und Zusammenarbeit im nah- und mittelöstlichen Raum sowie in seinen Subregionen (Persischer Golf, südlicher Mittelmeeranrainer) und in Südasien einsetzen. Angesichts latenter Spannungen zwischen verschiedenen Staaten in diesen Regionen, empfundener oder tatsächlicher Sicherheitsdefizite, der Existenz von Atomwaffen, militärischer Ungleichgewichte und nahezu permanenter äußerer militärischer Präsenz erscheint es dringend geboten, sich in dieser Region für eine „Ordnung friedlicher Koexistenz“ einzusetzen.

Wir wenden uns mit diesen Überlegungen und Vorschlägen nicht nur an die Politiker, die die Londoner Konferenz vorbereiten. Vor allem wenden wir uns an die Zivilgesellschaft. Es bedarf ihrer Wortmeldung, um mit dem Desaster Afghanistan auch die Findung sicherheits- und außenpolitischer Orientierungen in die öffentliche Debatte zurückzuführen und ihre Reduktion auf enge Führungsstäbe und Geheimdiplomatie zu beenden. Die Predigt der EKD-Vorsitzenden Margot Käßmann ist dazu ein nicht hoch genug zu schätzender Beitrag, den wir unterstützen. Als Diplomaten mit Jahrzehnten Erfahrung im Nahen und Mittleren Osten sowie in Westasien hoffen wir verdeutlichen zu können, dass friedliche Regelungen auch für komplizierte Konflikte möglich und anzustreben sind.

Berlin, den 22. Januar 2010

Dr. Arne C. Seifert
Botschafter a. D.
Sprecher der Initiative

* Initiiert von den Botschaftern a.D. Dr. Jürgen Hellner, Heinz Knobbe, Günter Mauersberger, Peter Mende, Freimut Seidel, Dr. Arne C. Seifert, Dr. Heinz-Dieter Winter


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