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"... Jonny, schieß"

In Afghanistan vermißte Bundespräsident Gauck den Kontakt zum Gefechtsfeld. Ein "tief integrierter" Journalist und ein Fallschirmjäger legen ihm Eindrücke von der Front unter den Baum

Von Rüdiger Göbel *

In seiner Weihnachtsbotschaft am Hindukusch hat der Bundespräsident die Deutschen zu einer positiveren Sicht auf die Bundeswehr aufgefordert. Soldaten leisteten Dienst am Gemeinwesen, so Joachim Gauck. »Diese Leistung müssen wir würdigen.« Im Feldlager in Masar-i-Scharif machte er »kriegsähnliche Zustände« aus, wenigstens in Teilen Afghanistans, und entzündete ein Kerzchen für die Getöteten der Truppe. Schlechtes Wetter machte dem Reisenden zu schaffen. »Ich wollte eigentlich bei den Soldaten sein, die draußen auf dem Gefechtsfeld agieren müssen«, barmte der oberste Zivilist. Nebel und Schnee hätten dies verhindert – als flögen seine Besatzer sonst nur bei Sonnenschein und Rückenwind. Und doch hat Gauck den »ganzen Ernst der Hausforderung eines militärischen Einsatzes gespürt«. Den rund 4500 deutschen Soldaten an der Front dankte er »für ihre Einsatzbereitschaft und ihren Mut«. Und wie es sich gehört, wurden die »zählbaren Erfolge« bei der militärischen Sicherheit, in der Wirtschaft und im Schulwesen gelobt. »Wir glauben, daß ein dauerhafter Friede in Afghanistan möglich ist«, bekundete Gauck vorweihnachtlich pastoral, und der Bürgerrechtler a.D. zeigte sich zuversichtlich, daß die »Sicherheitskräfte« den Terroristen »kraftvoll entgegentreten« werden.

Im Sommer erst hatte der Bundespräsident beim Antrittsbesuch in der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg eine »gewisse Ignoranz« der Bürger gegenüber den Streitkräften und eine Tendenz zum »Nicht-Wissen-Wollen« bemängelt. »Und daß es wieder deutsche Gefallene gibt, ist für unsere glückssüchtige Gesellschaft schwer zu ertragen«, leidklagte Gauck damals.

Neue Landkarte

Vor dem Bundespräsidenten war Jonathan Schnitt aufgebrochen, der glückssüchtigen Gesellschaft den Kriegsdienst am Hindukusch nahezubringen. Sechs Monate war der Journalist mit deutschen Soldaten, den Panzergrenadieren »Juwe«, »Asterix«, »Totti« und »Gina«, in Afghanistan unterwegs, hat seine Erlebnisse im Buch »Foxtrott 4« aufgeschrieben. Es ist ein eindrückliches Zeugnis, was »eingebetteter Journalismus« anrichtet. Schnitt wollte wissen, »wie es sich anfühlt, wie es klingt, wie es schmeckt, einem kargen, zerrissenen, ausgebluteten Land als ausländischer Soldat Frieden bringen zu wollen«. Er beschreibt die »beeindruckende Aussicht« vom Hügel Höhe 432 (»unter den Soldaten in Afghanistan fast schon ein Kult«) auf die Westplatte, auf die Felder und Dörfer, beschreibt die Eintönigkeit, gelegentliche Gefechte und die Reaktionen der Soldaten. »Dort muß aber jetzt die Landkarte neu geschrieben werden«, sagt einer nach erfolgtem Luftbombardement. Die Soldaten hätten gelernt, erklärt Schnitt, »als Einheit so zu funktionieren, daß der Feind besiegt wird. Das heißt, im richtigen Moment, vom richtigen Punkt aus, im Zusammenwirken mit den anderen Soldaten, die verfügbaren Waffen einzusetzen, um den Feind zu vernichten.« Bei »Erfolg« hat man dann auch mal »Grund zur Freude«. »Ich finde die Reaktion der Soldaten nach kurzer Überlegung nicht verwerflich«, bekundet Schnitt.

Das kommt dabei raus, wenn man sich in die Truppe »tief integriert«, wie die Armee »embedded« für sich übersetzt: »Die Bundeswehr hat sich als Organisation ohne Frage weiterentwickelt. Wenn sie dafür steht, deutsche Interessen im Ausland – wenn nötig auch mit Waffengewalt (und letzlich ist eine Armee für ebendas konzipiert) – zu verteidigen, hat sie viel dazugelernt. Eine neue Bundeswehr ist entstanden.« Und offensichtlich hat sie für ihre Ziele die richtigen Leute. Zeitsoldat Daniel »Gina« Wild bekundet: »Ob das, was wir hier tun, jetzt wirklich Sinn macht, interessiert mich als Soldat eigentlich ziemlich wenig. Ich bin gewöhnlicher Landser: Ich kämpfe, ich sitze ab, ich mache das, was mir gesagt wird. Und was die obere Führung sagt, denkt, macht oder machen möchte, das hat mich eigentlich gar nicht zu interessieren.«

Der einstige Kriegsdienstverweigerer mutiert zum Kriegsratgeber: Noch sei unklar, was am Hindukusch wirklich erreicht wurde, resümiert Schnitt in »Foxtrott 4«, in jedem Fall aber »hat der Afghanistan-Einsatz die Bundeswehr darauf vorbereitet, international mehr Verantwortung zu übernehmen. Er hat die Gesellschaft darauf eingestellt zu akzeptieren, daß ein Einsatz wie der in Afghanistan Tote bedeutet …« Tief integriert im Deutsche-Interessen-Denken wünscht sich der Autor, »daß die Politik verstanden hat, daß sie in Zukunft frühzeitiger, ehrlicher und schonungsloser die Realitäten eines Auslandseinsatzes kommunizieren muß. Im gleichen Zug wird die Gesellschaft lernen müssen, diese Realitäten zu akzeptieren, auch wenn sie nicht bequem sind.«

Treue um Treue

Robuster geht’s zu im Landserband »Vier Tage im November. Mein Kampfeinsatz in Afghanistan«. Der Econ-Verlag bewirbt das Buch von Johannes Clair mit dem Slogan »›Im Westen nichts Neues‹ des 21. Jahrhunderts«, als sei es eine Art Antikriegswerk, und mit dem Hinweis: »Der Fallschirmjäger kämpfte von Juni 2010 bis Januar 2011 als Mitglied einer ›Task Force‹ an vorderster Front.« Tatsächlich läßt es der Autor auf gut 400 Seiten in der Manier von Ernst Jünger reichlich stahlgewittern bzw. frei nach Gauck: »kraftvoll entgegentreten«. Dem wetterverhinderten Bundespräsidenten legt er Berichte vom Gefechtsfeld unter den Baum. Es kämpfen »Muli, Nossi, Simbo, Kruschka, Wizo, Jonny, Russo, Butch, Dolli, Mica, TJ, Hardy und ich. Dreizehn Männer.« Als der Krieg in Afghanistan begann, waren sie selbst noch Kinder. Wenn der harmlos wie die kleinen Strolche klingende Trupp ausrückt, macht er sich selbst Mut. »Treue um Treue, brüllte Mica ins Fahrzeug. Wie aus einem Mund antwortete jeder von uns, schrie ein lautes ›Aauuh‹, das sich wie das Brüllen eines Gorillas anhörte. (…) Es hörte sich stark an. Ich fühlte mich stark. Unser Teamgeist hatte das bewirkt.«

Jetzt heißt es warten auf das erste Gefecht. Und es kommt, inklusive Panzerhaubitze. »Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg würden deutsche Soldaten im Kampf Artilleriegeschütze einsetzen. Aber dieser historisch bedeutsame Moment war mir in diesem Augenblick egal.« »Der Chef hat Artilleriefeuer angefordert!, rief Muli mit dem Funkgerät am Ohr. Wir jubelten. Die Freude, in solch einer Situation wirkungsvolle Unterstützung zu bekommen, war unbeschreiblich. Als die mächtige Panzerhaubitze im Feldlager abgefeuert wurde, blieben nur wenige Sekunden, um zu hoffen, daß sie an die richtige Stelle schoß. (…) Wir hörten die Geschosse heranfliegen. Und konnten sie am Himmel über uns sehen. Ein ohrenbetäubendes Heulen und Pfeifen begleitete den Flug. In einem großen Bogen zogen die beiden Granaten am Himmel ihre Bahn. Das Schauspiel war in seiner Gewaltigkeit schrecklich und wunderschön zugleich. Ehrfürchtig starrten wir nach oben.« Aus dem abgehörten feindlichen Funkverkehr hören die Soldaten: »Überall sind Verletzte! Wir gehen hier alle drauf!« Der anschließende Jubel bei den Deutschen »war unbeschreiblich. Ich spürte eine innerliche Befreiung, die sich kaum in Worte fassen ließ. Erst viel später wurde mir bewußt, daß diese Meldung den Tod von vielen Menschen bedeutete. Aber war das nicht gerecht? Schließlich wollten sie uns töten. Wir hingegen waren nicht mit dieser Absicht gekommen. Ich fühlte keine Reue, keine Trauer.«

An anderer Stelle kann Gauck wider die Glückssüchtigen mitschaudern: »Ich zielte sorgfältig. Preßte die Waffe in die Schulter, bewegte den Finger ruhig über den Abzug. Fand den Druckpunkt und kontrollierte meine Atmung. Über uns lächelte die Sonne, als ich mein Gewehr abfeuerte. Der Körper des Mannes zuckte deutlich, dann verschwand er in der Staubwolke, die mein Schuß ausgelöst hatte.«

Kamerad Simbo simpler: »Super, wir werden denen in den Arsch treten.« Wizo grinst: »Ja, Digger, so richtig in den Arsch.« Und Muli brüllt: »Ich brauch’ ’ne Handgranate.« Nüchtern bekundet TJ zum Mordhandwerk: »Was gemacht werden muß, muß gemacht werden.«

Ein starkes Band

Krieg knüpft feste Bande: »Am Abend hielt uns das Adrenalin noch lange wach. Dieser unbeschreiblich starke Kick, das absolut geile, positive Gefühl, das der Kampf ausgelöst hatte, hielt viel länger an als sonst. Niemand kam zur Ruhe, alle berauschten sich an den Erlebnissen des Tages, saßen oder standen herum und grinsten, lachten, grölten. (…) Ein starkes Band, fast unauflösbar, hielt uns zusammen.«

Nicht immer reicht’s für einen Toten: »Durch das Zielfernrohr erkannte ich einen Schatten«, schildert Clair eine andere Gefechtssituation. »Ich zielte sorgfältig und suchte mit dem Finger den Abzug. Der Schatten befand sich genau in meinem Fadenkreuz. Hoffentlich ist das Gewehr gut eingeschossen, flog es mir durch den Kopf. Ich würde es gleich wissen. Mit den Füßen stemmte ich mich in den lockeren Boden, preßte die Waffe in die Schulter und verfolgte die Bewegungen des Schattens. Er schien es nicht eilig zu haben, war sich wohl sicher, unentdeckt zu sein. Ich spannte meinen Körper an, brachten den Atem noch mehr zur Ruhe. Und drückte ab. Im gleichen Augenblick tauchte der Schatten im Graben unter. Verdammt, fluchte ich innerlich. Ich war mir sicher, ihn nicht erwischt zu haben. Und ärgerte mich darüber.«

Die »Terroristen« zeigen Beharrungsvermögen. »Scheiße, die schießen auf Nossi und treffen uns!, brüllte TJ.« Kalaschnikows tackern, Maschinengewehre scheppern, »das Tosen und Donnern der Waffen kam von allen Seiten. Es durchdrang jeden Winkel und zermalmte die Luft.« Ernst Jünger gleich schwadroniert Clair von »Höllenfeuer« und »Raserei«, von einer »Symphonie des Todes, vor der es kein Entrinnen gab«. »Reglos kauerte ich da, fühlte mich von allem Guten im Leben verlassen.« »Es knallte wieder. Dann noch mal.« »Wieder und wieder spritzte die Erde auf. Entfernte Schüsse, nahe Schüsse. Überall nur Verderben.« »Verdammt, schieß, Jonny, schieß.«

Die Air Force kommt zu Hilfe, beschrieben erneut in miesem Deutsch. »Der Donnerhall am Himmel kündigte den amerikanischen Kampfjet lange an, bevor wir ihn sehen konnten. Noch niemand von uns hatte einen Bombenabwurf miterlebt. Innerlich freute ich mich darauf und hoffte, daß viele Aufständische erwischt würden. Mit lautem Heulen rasten die Bomben der Erde entgegen. Der Jet verschwand am Himmel und die gewaltige Explosion erschütterte uns. Wir lagen im Graben und klatschten laut Beifall. Es lebe die Air Force!, schrien wir vor Freude.«

Grüße in die Heimat

Die von Gauck ausgemachten »zählbaren Erfolge« am Hindukusch sind bei dem »Bürger in Uniform« nicht auszumachen, nichts mit Brunnenbohren, Mädchenschulen, Demokratieaufbau und Sicherheit. Hat sich der Einsatz gelohnt? Was bleibt? Für Johannes Clair ist der Krieg eine Art Selbstzweck: »Das einzig Wichtige für mich ist, daß ich eine Entscheidung traf und bereit war, bis zum Ende dazu zu stehen. Das begleitet mich. Und wenn ich dieses Dorf jetzt verlasse, wird vermutlich alles wieder wie vorher sein. Und trotzdem wird sich alles verändert haben. Aber es sind diese vier Tage im November, die den Unterschied bedeuten.«

Dankbar muß man Clair sein für die Offenheit. Neben der unerträglichen Ästhetisierung des Krieges vermittelt er Eindrücke vom Alltag an der Front, wie die Soldaten warten, weinen, schwitzen, stinken, wichsen und töten. Die Einheimischen heißen bei den deutschen Soldaten übrigens in bester Kolonialmanier »Kuddel« – »jeder nannte sie so«. Freitags dürfen sie auf dem »Kuddelmarkt« im Feldlager Krimskrams verkaufen. Im Westen nichts Neues, in der Tat. Und der Fallschirmjäger zitiert aus einem Brief vom Opa daheim. »Lieber Johannes, meinen letzten Feldpostbrief habe ich 1943 geschrieben, das war in der 4. Klasse. Kannst Du Dir das vorstellen?« Treue um Treue. Aauuh.

Joachim Gaucks Kriegsgedanken: www.bundespraesident.de

Jonathan Schnitt: Foxtrott 4 - Sechs Monate mit deutschen Soldaten in Afghanistan. Verlag C Bertelsmann, Köln 2012, 224 Seiten, 14,99 Euro

Johannes Clair: Vier Tage im November. Mein Kampfeinsatz in Afghanistan. Econ Verlag 2012, 416 Seiten, 18,99 Euro


* Aus: junge Welt, Samstag, 22. Dezember 2012


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