Friedensbewegung widerspricht Bundesregierung
Das neue Afghanistan-Konzept: Eine Mogelpackung mit erhöhten Risiken und Nebenwirkungen
Pressemitteilung des Bündnisses "Dem Frieden eine Chance - Truppen raus aus Afghanistan"
Berlin/Kassel, 10. August 2008 - Zum
neuen Afghanistan-Konzept, das die
Bundesregierung gestern verabschiedet hat, erklären die Sprecher der
Friedensbewegung:
Das gestern im Bundeskabinett verabschiedete Afghanistan-Konzept der
Bundesregierung gibt sich den Anschein, neu zu sein und von einer
realistischeren Einschätzung der Situation in Afghanistan auszugehen. In
Wahrheit ist weder das Konzept neu, noch wird die Realität der Situation
im Land am Hindukusch angemessen beschrieben. Vor allem aber gibt es
keinen Grund zur Entwarnung. Die Friedensbewegung ruft zu einer
bundesweiten Demo in Berlin und Stuttgart am 20. September auf.
Das wichtigste Ziel des Afghanistaneinsatzes beschreibt die
Bundesregierung wie folgt:
"Der internationale Terrorismus darf Afghanistan nicht wieder als Ruhe-,
Rückzugs- und Regenerationsraum nutzen können. Insofern dient unser
Afghanistan-Engagement unmittelbar deutschen Interessen."
Neu ist daran höchstens, dass es so deutlich ausgesprochen und nicht von
den sattsam bekannten "humanitären" Motiven wie Menschenrechtsschutz,
Demokratieaufbau u.ä. verdeckt wird, mit denen sonst immer so gern
militärische Interventionen gerechtfertigt werden. Richtig ist das
deswegen noch lange nicht. Denn Afghanistan war weder vor dem 11.09.2001
ein solcher Rückzugsraum (kein einziger Attentäter kam damals aus
Afghanistan), noch befindet sich dort heute das Zentrum des
internationalen Terrorismus. In viel größerer Anzahl tummeln sich
Terroristen (oder was man dafür hält) in Irak, in Pakistan, in Somalia,
in Algerien, auf den Philippinen und selbstverständlich in den
ausgemachten "Schurkenstaaten" wie Iran oder Sudan. Hinzu kommt, dass
gerade das militärische "Afghanistan-Engagement" der NATO einschließlich
der Bundeswehr in den letzten Jahren zu einer stetigen Destabilisierung
der Sicherheitslage geführt hat. Mit jeder Truppenaufstockung wuchs der
Widerstand, nahmen Anschläge und Gefechte zu. Und mit jedem
"Kollateralschaden", d.h. mit jedem zivilen Todesopfer - und die
"tragischen Zwischenfälle" nehmen beängstigend zu - wachsen der Unmut in
der Bevölkerung und der Hass auf die Besatzungstruppen.
Die Bundesregierung verschließt auch die Augen davor, dass die
Karsai-Regierung keinen Rückhalt in der Bevölkerung hat. Das Land wird
beherrscht von den Taleban, regionalen Warlords, Drogenbaronen und
lokalen Stammesführern. Nach einer UN-Studie existierten 2006 (also nach
5 Jahren "Demilitarisierung"!) zwischen 1.200 und 2.200 illegale
bewaffnete Gruppen (sog. IAG: Illegal Armed Groups) mit insgesamt
120.000 bis 200.000 Bewaffneten und mehr als 3,5 Millionen leichten
Waffen. Die Karsai-Regierung schätzt die Zahl der IAGs sogar noch
wesentlich höher. Kein Wort davon in dem neuen Konzept der
Bundesregierung, obwohl solche und andere ungeschminkte Angaben kürzlich
in einer Studie des wichtigsten Think Tanks des Außenministeriums, dem
Institut "Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP) veröffentlicht
wurden. Darin wird auch darauf hingewiesen, dass etwa das afghanische
Parlament zu etwa einem Drittel mit Abgeordneten besetzt ist, die solche
illegalen bewaffneten Banden befehligen oder mit ihnen zusammenarbeiten.
Die Bundesregierung lobt dasselbe Parlament in höchsten Tönen: "Das
Parlament wird zunehmend zu einem Forum für politische Debatten." Das
ist ein Witz, wenn man weiter bedenkt - und auch das enthüllt die Studie
der SWP - dass für Schlüsselsektoren wie Auswärtiges, legislative
Angelegenheiten, Justiz und Verwaltungsreform, Religion, Kultur und
Bildung sowie Drogenbekämpfung mittlerweile Geistliche zuständig sind.
So erzielten z.B. die Jihadi-Führer (vier sunnitische und einige
schiitische) erhebliche Erfolge bei dem Versuch, die Hoheit über den
innenpolitischen Diskurs zu gewinnen.
Die Studie des regierungsnahen Instituts trägt den bezeichnenden Titel:
"Gescheiterte Demilitarisierung". Gescheitert ist demnach aber nicht nur
die angestrebte Entwaffnung der Milizen, sondern der ganze militärisch
gestützte Afghanistan-Einsatz.
Auch die "Aufbau"-Bilanz der Bundesregierung gleicht einem Potemkinschen
Dorf. Die wenigen Zahlen, die etwa zum Bildungs und Gesundheitssystem
genannt werden, sind rein fiktiv und nicht belegt. Der
Entwicklungsbericht der Vereinten Nationen stellt demgegenüber fest,
dass 70 Prozent der Afghanen haben keinen Zugang zu sauberem
Wasserhaben, dass zwar in städtischen Regionen 30 Prozent der Bewohner
lesen und schreiben können, in einigen ländlichen Regionen ist es aber
nur ein Prozent - hier gibt es auch nach sieben Jahren "Wideraufbau"
keinen Fortschritt. Die Arbeitslosigkeit ist unbeschreiblich hoch, weil
die Ökonomie heute fast ausschließlich auf die Opiumproduktion
konzentriert ist - eine "Nebenwirkung" von Krieg und Besatzung. Bauern,
die in der Schlafmohnproduktion arbeiten, können bestenfalls ihre
Lebenshaltungskosten decken, während die Warlords und Drogenhändler
Millionen machen. Und nach neuesten Berichten von Insidern ist der
gesamte Regierungsapparat Karsais und seine eigene Familie zutiefst in
diese Geschäfte verstrickt.
Bei alledem fragt man sich, was die Bundesregierung mit ihrem "neuen"
Konzept Neues anzubieten hat. Sie will die zivile Hilfe aufstocken -
gut! Aber wie verhält es sich mit der Relation Zivile Hilfe -
Militärische "Hilfe"? Die Bundesregierung rechnet vor: "Mit mehr als 1,1
Mrd. EUR für den Zeitraum 2002 -- 2010 ist Deutschland der viertgrößte
bilaterale Geber in Afghanistan und trägt außerdem signifikante Anteile
an den multilateralen Programmen von Organisationen wie Weltbank,
Vereinten Nationen oder Europäischer Kommission." 1,1 Mrd. EUR in neun
Jahre - das sind gut 120 Mio EUR im Durchschnitt der Jahre. Für den
Bundeswehreinsatz dagegen werden Jahr für Jahr 450 Mio EUR ausgegeben.
Und mit der geplanten Aufstockung der Truppe von 3.500 auf 4.500
Soldaten wird auch der Finanzbedarf für den Bundeswehreinsatz um
mindestens ein Viertel steigen. Noch mehr Militär - noch mehr Widerstand
- noch mehr Militär ...
Das Afhghanistan-Konzept der Bundesregierung ist also eine Mogelpackung.
Der Krieg wird weiter geführt. Ziviler Aufbau wird aber nur dort
gelingen, wo kein Militär ist - das bestätigen immer wieder die
Vertreter/innen von humanitären Hilfsorganisationen. Die
Friedensbewegung fordert daher, den Militäreinsatz in Afghanistan zu
beenden und die Bundeswehr vom Hindukusch abzuziehen. Dafür wird am 20.
September die Friedensbewegung auf die Straße gehen: In Berlin und in
Stuttgart.
Für das Bündnis "Dem Frieden eine Chance - Truppen raus aus Afghnistan":
Reiner Braun, Berlin (Kooperation für den Frieden)
Peter Strutynski, Kassel (Bundesausschuss Friedensratschlag)
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