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"Ein flexibleres, für 14 Monate geltendes Mandat"

Im Wortlaut: Debatte im Bundestag über die Aufstockung der Bundeswehr in Afghanistan. Viel Schönfärbereit - wenig Kritik

Im Folgenden dokumentieren wir eine Debatte zur Afghanistan-Politik der Bundesregierung, die am 25. Juni 2008 im Deutschen Bundestag geführt wurde. Vorausgegangen war eine internationale Afghanistan-Konferenz in Paris und die Ankündigung des Verteidigungsministers Franz Josef Jung, das ISAF-Bundeswehrkontingent in Afghanistan um 1.000 Soldaten aufstocken zu wollen.
Die Debatte wurde eingeleitet mit einer Regierungserklärung von Außenminister Frank-Walter Steinmeier.
Die Reden in folgender Reihenfolge:



Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht, 171. Sitzung
Berlin, Mittwoch, den 25. Juni 2008
Plenarprotokoll 16/171

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister des Auswärtigen zu den Ergebnissen der Afghanistan-Konferenz in Paris

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.

Weiterhin ist verabredet, die Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 16/9685 sowie des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 16/9711 zu den Anträgen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Entwicklung in Afghanistan zusammen mit diesem Tagesordnungspunkt als Zusatzpunkte 2 und 3 aufzurufen.

Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann wird so verfahren.

Ich rufe auch die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:

ZP 2 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Entwicklung in Afghanistan – Strategien für eine wirkungsvolle Aufbauarbeit kohärent umsetzen

– Drucksachen 16/8887, 16/9685 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Christian Ruck
Christel Riemann-Hanewinckel
Hellmut Königshaus
Hüseyin-Kenan Aydin
Ute Koczy

ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Trittin, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Staatsaufbau in Afghanistan – Pariser Konferenz zur kritischen Überprüfung und Kurskorrektur des Afghanistan-Compacts nutzen

– Drucksachen 16/9428, 16/9711 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Detlef Dzembritzki
Dr. Werner Hoyer
Dr. Norman Paech
Kerstin Müller (Köln)

Zwischen den Fraktionen ist verabredet, im Anschluss an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden zu debattieren. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich erteile das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung dem Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen:

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf die Botschafterin Afghanistans begrüßen, die diese Debatte von der Tribüne verfolgt.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE])

Vor einigen Wochen bekam der zivile Leiter unseres Wiederaufbauteams in Faizabad Besuch von den Dorfältesten und dem Mullah aus einem Gebirgsdorf in Badakhshan, dem nordöstlichsten Teil Afghanistans. Drei Tage waren die Männer unterwegs: zu Fuß, mit Eseln und das letzte Stück im Sammeltaxi.

Sie fragen sich sicherlich: Wofür drei Tage? Diese Abordnung aus dem Dorf kam bei unserem Wiederaufbauteam an und bat um Unterstützung beim Bau einer Jungen- und Mädchenschule. Der Leiter des Wiederaufbauteams wunderte sich, dass die Delegation für die knapp 120 Kilometer Wegstrecke drei Tage brauchte. Die Dorfältesten erwiderten darauf, dass vor zwei Jahren die gleiche Reise noch weit über eine Woche gedauert hätte. Mittlerweile gebe es allerdings auf der Hälfte der Strecke eine neue Straße. Bald werde die Straße wohl auch das Dorf erreichen. Dann öffne sich für das Dorf die Welt. Das sei auch der Grund ihres Kommens. Das Dorf brauche die Hilfe beim Bau der Schule, so der Mullah, „weil wir jetzt endlich eine Zukunft haben, und darauf müssen wir unsere Kinder vorbereiten“.

Meine Damen und Herren, das ist in der Tat nur eine Dorfgeschichte aus dem Pamir-Gebirge, aber sie führt uns schnurstracks ins Zentrum dieser Debatte, die wir heute führen. Viel zu oft verlieren wir uns bei unseren leidenschaftlichen Diskussionen um Mandate und Obergrenzen. Zu oft verlieren wir dabei den Blick, worum es im Kern in Afghanistan geht. Es geht im Kern um zwei Dinge: erstens um die Zukunft dieses Landes und zweitens und immer noch um unsere eigene Sicherheit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)

Die Menschen in diesem Dorf glauben an eine bessere Zukunft. Das Entscheidende ist: Sie wissen, dass diese Zukunft am Ende von ihnen selbst gestaltet werden muss. Sie kämpfen für ihre Schule. Sie kämpfen für ein besseres Leben ihrer Kinder. Wir reichen ihnen dabei im Grunde genommen nur die helfende Hand.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Öffnung zur Welt, Zukunft für Kinder –- davon jedenfalls träumen die afghanischen Dorfleute, von denen ich berichtet habe, und sie drücken damit aus, was die Hoffnung der übergroßen Mehrheit der Menschen in Afghanistan ist. Solange diese Hoffnung lebendig ist, werden, so bin ich sicher, die Taliban keine Chance haben. Jeder Brunnen, jede Schule, jeder Kilometer Straße ist ein kleiner Sieg.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Afghanen –- viele von Ihnen, meine Damen und Herren, waren inzwischen dort -– sind ganz ohne Zweifel ein stolzes, freiheitsliebendes Volk. Das kann jeder spüren, der mit ihnen spricht. Aber es sind auch Menschen, die nicht vergessen haben, in welches Elend sie von den Taliban gestürzt worden sind. Diese Art Steinzeit-Islam ist für die Menschen in ihrer ganz übergroßen Mehrheit keine Zukunftsverheißung.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Deshalb ist ziviler Wiederaufbau nicht nur irgendein Randaspekt unseres Engagements in Afghanistan, sondern er steht im Mittelpunkt. Hier entscheidet sich, ob die Hoffnung die Oberhand behält oder ob die Angst zurückkehrt.

Meine Damen und Herren, was ich hier von dem Gebirgsdorf in Badakhshan schildere, das ist schon lange kein Einzelfall mehr. Kai Eide, der neue Sondergesandte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen in Afghanistan, hat im Rahmen der kürzlich in Paris stattgefundenen Konferenz berichtet, dass mittlerweile in 32 000 Dörfern in Afghanistan Entwicklungsprojekte erfolgreich umgesetzt worden sind. Nach dem Sturz der Taliban –- ich habe hierüber bereits berichtet, aber ich möchte daran erinnern –- gab es so gut wie keine Gesundheitsversorgung in Afghanistan. Mittlerweile haben 80 Prozent der Bevölkerung Zugang zu basismedizinischer Versorgung.

Das Schulsystem –- Sie wissen es –- war damals faktisch zusammengebrochen. Heute gehen 6 Millionen Kinder in Afghanistan zur Schule, 30 000 Lehrer wurden ausgebildet, 3 500 Schulen aufgebaut oder wiederaufgebaut. 8 Millionen Minen wurden geräumt, 13 000 Kilometer Straßen gebaut oder repariert. Die Menschen gründen inzwischen wieder Unternehmen. Die Wirtschaft entwickelt sich auf niedrigstem Niveau –- zugegeben -–, aber sie entwickelt sich in den Teilen des Landes, in denen die Sicherheitslage besser ist, auf niedrigem Niveau stetig fort -– und das alles in sieben Jahren. Ich finde, das ist trotz aller Schwierigkeiten, die wir vor uns haben -– diese Schwierigkeiten sind gewaltig –-, eine Leistung, auf die wir miteinander ein bisschen stolz sein dürfen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber wir sollten, wie ich finde, nicht nur auf uns stolz sein. Das, was vorangekommen ist, ist entscheidend denjenigen Menschen in Afghanistan zu verdanken, die von diesem Wiederaufbauwillen geprägt sind. Sie brauchen weiterhin die Unterstützung unserer Soldaten, Polizisten, Diplomaten und zivilen Wiederaufbauhelfer. Ich will diese Gelegenheit gerne nutzen, um all denen zu danken, die sich für eine friedliche Zukunft Afghanistans engagieren. Ich danke ihnen für den Mut, mit dem sie sich leidenschaftlich und –- ich weiß, auch viele von Ihnen haben es gesehen –- manchmal unter Entbehrungen dafür einsetzen, dass die Kinder in Afghanistan eine Zukunft haben.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich will an dieser Stelle auch meinen Kabinettskollegen Heidemarie Wieczorek-Zeul, Wolfgang Schäuble und Franz Josef Jung für die gute Zusammenarbeit danken, ohne die all das, was ich hier berichten konnte, nicht möglich gewesen wäre.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, trotz dieser eindrucksvollen Fortschritte sehen viele Bürgerinnen und Bürger den Afghanistan-Einsatz –- ich weiß das -– mit großer Skepsis. Sie selber sehen sich in Ihren Wahlkreisen auch kritischen Fragen ausgesetzt. Die Politik steht nicht nur unter Begründungs-, sondern manchmal sogar unter Rechtfertigungszwang. Ich glaube, wir dürfen uns diesem auch nicht entziehen, weil die Bürger einen Anspruch darauf haben, dass wir unseren Afghanistan-Einsatz -– und zwar das gesamte Engagement -– immer wieder auf Erfolg, auf Wirksamkeit und auf Effizienz hin hinterfragen. Wir brauchen klare Ziele, und wir brauchen beständige Erfolgskontrolle. Wir müssen uns kritisch selbst prüfen, welche Erwartungen im kulturellen und politischen Kontext Afghanistans realistisch sind. Darauf haben viele von Ihnen und darauf habe ich in meinen Reden in den vergangenen Monaten immer wieder hingewiesen.

Gerade wenn es um die Gesundheit und um das Leben von Soldaten und zivilen Wiederaufbauhelfern geht, dann kann es kein einfaches „Weiter so“ geben. Deshalb hat sich auch die Bundesregierung seit der letzten Mandatsdebatte im vergangenen Herbst intensiv bemüht, und zwar gemeinsam mit ihren Partnern, kritisch Bilanz zu ziehen. Die Afghanistan-Konferenz in Paris vor wenigen Tagen war aus meiner Sicht bei diesem Bemühen eine wichtige Zwischenetappe. Ich darf Ihnen sagen, dass der Vertreter von UNAMA, der Vereinten Nationen in Afghanistan, in dieser Pariser Konferenz eine Bestandsaufnahme zur Umsetzung des Afghanistan-Compact von London erstellt hat. Diese Analyse, diese Bestandsaufnahme haben wir in die Schlussfolgerungen im Abschlusskommuniqu é der Pariser Konferenz übernommen.

Was heißt das? 85 Staaten und internationale Organisationen waren vertreten, 20 Milliarden Dollar Wiederaufbauhilfe –- eine wahrlich stolze Summe – -sind zugesagt worden. Wir selbst hatten 140 Millionen Euro zugesagt. Für die Zeit von 2008 bis 2010 stellen wir insgesamt 420 Millionen Euro zur Verfügung.

Die Pariser Konferenz war aber auch deshalb ein Erfolg, weil die internationale Gemeinschaft und die afghanische Regierung sich auf einen Kurs verständigt haben, für den wir –- Sie wissen das -– schon im vergangenen Jahr intensiv geworben haben. Insofern ist der Strategiewechsel, den Claudia Roth – sie ist nicht hier – oder Winfried Nachtwei – er ist hier – fordern, schon lange im Gange. Dazu braucht heute nicht aufgerufen zu werden.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ich glaube, dass die Richtung in der Afghanistan-Politik, wie wir sie jetzt eingeschlagen haben, richtig ist. Aber alle haben recht, die sagen: Wir dürfen uns dabei nicht verzetteln, sondern wir müssen uns auf die wesentlichen Probleme konzentrieren, das heißt, die Eigenverantwortung der Afghanen stärken. Unser oberstes Ziel muss sein und bleiben, dass Afghanistan sich mittelfristig selbst helfen kann.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Ich will vier zentrale Herausforderungen nennen, die auch Kai Eide in seinem Vortrag in Paris betont hat:

Erstens. Die Reform der afghanischen Sicherheitskr äfte, gerade auch der Polizei, muss beschleunigt werden.

Zweitens. Korruption und Schattenwirtschaft müssen mit mehr Nachdruck bekämpft werden. Auch das war eine Forderung von Kai Eide.

Drittens. Die Investitionen beim Wiederaufbau, jetzt ganz besonders in zwei Bereichen, nämlich bei der Stromversorgung und – das ist die neue Priorität bei UNAMA – vor allen Dingen bei der landwirtschaftlichen Entwicklung, reichen bei Weitem nicht aus.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Viertens. Die Drogenbekämpfung wird nur dann erfolgreich sein können, wenn die Bauern echte ökonomische Alternativen haben, und genau darum müssen wir uns mehr kümmern als in der Vergangenheit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir wissen –- darin sind wir uns vielleicht sogar einig –-, dass die Fortschritte in diesen vier Bereichen auch ganz wesentlich von der afghanischen Regierung und von der Verwaltung dort abhängen. Immerhin hat die afghanische Regierung mit der Nationalen Afghanischen Entwicklungsstrategie jetzt einen eigenen Plan zum Wiederaufbau des Landes vorgestellt. Das macht nicht nur das größere Maß an Eigenverantwortlichkeit sichtbar, das die afghanische Regierung für sich in Anspruch nimmt, sondern das ist auch Ausdruck von wachsendem Selbstbewusstsein, das Afghanistan braucht. Ich freue mich über beides, weil wir genauso beides erreichen wollen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Es trifft zu –- auch das war Gegenstand der Gespräche auf der Pariser Konferenz zu Afghanistan –-, dass wir von der afghanischen Regierung mehr Elan bei der Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit sowie bei der Beachtung und Wahrung von Menschenrechten erwarten. Die afghanische Regierung hat dazu – das darf ich Ihnen versichern – in Paris eine erfreulich deutliche Selbstverpflichtung abgegeben, eine Selbstverpflichtung, die der afghanische Außenminister, wie ich gesehen habe, in Interviews in deutschen Zeitungen wiederholt hat, eine Selbstverpflichtung, an der wir die Regierung messen werden.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wer Afghanistan kennt –- viele von Ihnen sind da gewesen –-, der weiß: Der Wiederaufbau wird noch längere Zeit dauern, und er wird auch eine militärische Absicherung auf längere Sicht brauchen. Ohne ein sicheres Umfeld wird der zivile Wiederaufbau nicht vorankommen. Mit anderen Worten: Wo es keine Sicherheit gibt, da wächst die Angst, und wo die Angst wächst, da stirbt die Hoffnung. Aus diesem Grund wird unsere militärische Präsenz weiter notwendig sein, eine Präsenz, die zum Ziel hat –- das ist das Entscheidende -, sich eines Tages selbst überflüssig zu machen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Das wird gelingen, wenn wir es schaffen, genügend afghanische Polizisten und Soldaten auszubilden, die dann gut motiviert für die Sicherheit im eigenen Land sorgen können. Das ist der Grund dafür, weshalb wir 2009 über 400 europäische Polizisten im Rahmen der EUPOL-Mission als Ausbilder nach Afghanistan entsenden wollen. Das sind immerhin mehr als doppelt so viele, wie heute der EUPOL-Mission zur Verfügung stehen. Darüber hinaus wollen wir auch weiterhin EUPOL mit bilateralen Polizeiprojekten unterstützen. Wir arbeiten in der Polizeiausbildung mittlerweile auch mit den USA zusammen. Wir haben mehrere Hundert Polizisten gemeinsam ausgebildet. In Masar-i-Sharif entsteht eine neue Polizeiakademie, die ebenfalls helfen soll, die zivile Polizeiausbildung in Afghanistan voranzubringen. Es reicht nicht, die Polizei in Afghanistan auszubilden. Wir müssen uns auch stärker um die Ausbildung der afghanischen Armee kümmern. Wir werden die Zahl der Ausbilder- und Mentorenteams, der sogenannten OMLTs, erhöhen; das wissen Sie. Wir werden Ausbildungseinrichtungen wie die Logistikschule in Kabul in Zukunft ebenfalls stärker unterstützen.

In dieser Debatte geht es um den zivilen Wiederaufbau, aber nachdem wir gestern die Obleute informiert haben, möchte ich es hier wiederholen: Wir haben uns darauf verständigt, dass wir die Obergrenze für das ISAF-Mandat von 3 500 auf 4 500 Soldaten erhöhen wollen, zum Ersten deshalb, weil wir, wie gesagt, stärker in Ausbildung investieren wollen, zum Zweiten, um mehr Spielraum beim Kontingentwechsel zu haben, und zum Dritten, weil wir uns auf die Begleitung der Präsidentschaftswahlen, die im Jahre 2009 in Afghanistan stattfinden, vorbereiten wollen,. Das Ganze wird einhergehen mit einer weiteren Absenkung der OEF-Obergrenze auf dann 800 Soldaten. Damit sinkt die Obergrenze bei OEF in zwei Jahren immerhin um 1 000 Soldaten.

Meine Damen und Herren, ich habe eingangs gesagt, was aus meiner Sicht im Mittelpunkt unseres Engagements in Afghanistan steht: die Zukunft dieses Landes und natürlich unsere eigene Sicherheit. Letztlich ist entscheidend zu berücksichtigen, dass beides zusammenhängt.

Wir müssen verhindern, dass Afghanistan wieder zu einem Rückzugsraum international tätiger Terroristen wird. Das wird aber langfristig nur gelingen, wenn dieses Land eine gute Zukunft hat, wenn es Nahrung, Zugang zu Strom und Wasserversorgung gibt und Schulen sowie Radiostationen und vieles andere mehr errichtet werden. Wir müssen Umstände schaffen, unter denen die Menschen zur Wahl gehen können. Schließlich müssen wir Umstände schaffen, in denen sich der Getreideanbau mehr lohnt als der Mohnanbau.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Ich komme zum Schluss: Ich will an einen längeren Afghanistan-Aufsatz im Magazin der Süddeutschen Zeitung von Dietmar Herz, der erst vor wenigen Wochen erschienen ist, erinnern. Er spannt darin –- ich sehe, viele haben ihn gelesen –- einen weiten Bogen von Alexander dem Großen über den Mongolenherrscher Timur Leng bis hin zur sowjetischen Besatzung Afghanistans und sagt: Jeder hat sich an diesem Land die Zähne ausgebissen. Das ist aber natürlich nicht der Schluss dieses Artikels; vielmehr weist Dietmar Herz darauf hin, was dieses Mal in Afghanistan anders ist. Die deutschen Soldaten kommen eben nicht als Eroberer ins Land, sondern sie haben ein Konzept, „das zusammen mit den Afghanen als gleichberechtigten Partnern das Land sichern, stabilisieren und“ –- darum geht es ja in dieser Debatte -– „aufbauen sollte. Das ist unser Ansatz; dazu stehen wir. Die Menschen verbinden mit unserem Einsatz, dass es für sie und ihre Kinder wieder aufwärtsgeht. Hierin liegt eine Chance, die wir nicht verspielen dürfen. Dafür, meine Damen und Herren, tragen wir, wie ich denke, nach wie vor gemeinsam Verantwortung.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Für die FDP-Fraktion gebe ich dem Kollegen Dr. Werner Hoyer das Wort.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Werner Hoyer (FDP):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich danke Ihnen, Herr Außenminister Steinmeier, dafür, dass Sie heute diese Regierungserklärung abgegeben haben. Dies war in der letzten Woche nicht möglich, weil natürlich der Europäische Rat und das Votum in Irland im Vordergrund standen. Heute ist in der Tat die letzte Chance, noch vor der Sommerpause über Afghanistan zu debattieren, und ich glaube, es tut dem Deutschen Bundestag sehr gut, dass wir diese Gelegenheit nutzen.

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich finde es auch sehr gut, dass Sie darauf hingewiesen haben, dass wir weiß Gott nicht nur Rückschläge und Misserfolge in Afghanistan zu verzeichnen haben, sondern dass wir gerade dann, wenn es um die ganz konkrete Lebenssituation der Menschen geht, auch Erfolge verzeichnen können. Vielleicht erzählen wir unseren Bürgerinnen und Bürgern zu wenig darüber.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Meine Damen und Herren, diesem Lob an die Bundesregierung wegen der Ermöglichung dieser Debatte möchte ich allerdings eine klare Kritik hinterherschicken: Es gibt offensichtlich ein großes Informationsdefizit hier im Hause. Wir tragen als Parlament die entscheidende Verantwortung für die Sicherheit und den Auftrag unserer Soldaten und darüber hinaus vieler Polizisten, ziviler Wiederaufbauhelfer, Diplomaten usw. Allerdings werden wir über strategische Weichenstellungen in der Afghanistanpolitik des Bündnisses nicht informiert. Das ist ein Zustand, der auf Dauer nicht haltbar ist, meine Damen und Herren. Es ist für uns und unser Ansehen nicht gut, wenn wir über die Flure des Capitols in Washington laufen und dort von Kollegen auf Fakten und Berichte angesprochen werden, die diese wie selbstverst ändlich haben, wir hier allerdings nicht; ich komme darauf zurück.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Peter Struck [SPD]: Herr Hoyer, was meinen Sie konkret mit diesen Berichten?)

Ich komme ganz konkret darauf zurück, kann es aber auch gerne vorziehen, Herr Kollege. Ich werde gleich danach etwas zur Notwendigkeit sagen, für Afghanistan klare Ziele – auch Subziele – sowie Zielerreichungsstrategien zu definieren.

Wenn das Bündnis in Bukarest, wie man so hört, angeblich genau das getan hat, was wir seit langem einfordern –- wir haben noch nicht einmal das Recht auf Einsicht in ein solches Dokument, und von daher wissen wir immer noch nicht, welches die in der NATO konsentierten Ziele sind -–, dann fällt es mir als stellvertretendem Vorsitzenden meiner Fraktion sehr schwer, dafür zu sorgen, dass meine Fraktion beim nächsten Mal zustimmt. Deswegen müssen wir das Verfahren in diesem Punkt deutlich ändern.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das ist der Hintergedanke der Bemerkung von eben.

Meine Damen und Herren, wir müssen über die Ziele sprechen. Eben hat der Minister gesagt: Ja, wir müssen irgendwann dazu kommen, gehen zu können, weil in Afghanistan etwas Selbsttragendes entstanden ist. – Meiner Auffassung nach müssen wir bei der Definition unserer Ziele im Bündnis mit einem großen Schuss Demut zu Werke gehen. Wir werden bei weitem nicht das erreichen können, was wir uns idealiter für Afghanistan vorstellen. Denn wenn wir das nicht tun, besteht die Gefahr, dass wir uns eines Tages übernehmen, dass wir vielleicht scheitern oder dass wir dort auf Jahrzehnte militärisch gebunden sind, und dann wird es mit der Zustimmung der Bevölkerung verdammt schwierig werden. Deswegen: Karten auf den Tisch! Was ist in Bukarest vereinbart worden? Vielleicht werden Sie uns damit sehr glücklich machen.

Meine Damen und Herren, mein Kollege Königshaus wird auf den Kern des Afghanistan-Compact und auf die Vereinbarung von Paris noch im Detail eingehen. Ich muss mich hier zum Schluss auf zwei Aspekte konzentrieren. Erstens. Die Bundesregierung hat gestern die Obleute des Auswärtigen und des Verteidigungsausschusses unter Geheim und anschließend sofort die Öffentlichkeit über die Presse darüber informiert, dass man ab Oktober 1 000 zusätzliche Soldaten für Afghanistan braucht.

Meine Damen und Herren, wir Liberalen haben unsere Haltung zu den Afghanistan-Mandaten immer sehr verantwortlich, besonnen und konstruktiv wahrgenommen.

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie es eure Art ist!)

Das ist so, und das wird auch so bleiben. – Aber, meine Damen und Herren, einen Blankoscheck stellen wir deswegen noch lange nicht aus.

(Beifall bei der FDP)

Die Bundesregierung wird etwas präziser begründen müssen, wie sie zum Beispiel jetzt auf die Zahl von 1 000 Soldaten kommt. Das Ganze ist ja keine Lotterie; vielmehr muss eine Überlegung dahinterstehen. Dies gilt erst recht, da direkt gesagt wurde: Wir wollen die Erhöhung gar nicht gleich, sondern irgendwann einmal nutzen.

Ich habe für Flexibilitätsforderungen sehr viel Verständnis. Nur, der Übergang zu einem Vorratsmandat vollzieht sich relativ leicht, und deswegen müssen wir präzise argumentieren.

In diesem Zusammenhang muss man ferner sehen: Da nach der Übernahme der Quick-Reaction-Force-Aufgaben ganz konkrete und brennende Sicherheitsfragen auch im Interesse der Sicherheit unserer Soldaten zu beantworten sind, frage ich mich, warum diese Erhöhung so dringend nötig ist, obwohl sie erst im Oktober vorgenommen werden soll. Ich stelle mir die Frage, ob wir nicht, wenn sie so dringend ist, eigentlich erwarten müssten, dass die Bundesregierung auf das Parlament zukommt und sagt: Wir können nicht in die Sommerpause gehen, ohne für eine Verstärkung der Truppen gesorgt zu haben. –- Dieser Widerspruch bedarf noch der Aufklärung. Die Argumentation des Bundeswehr-Verbandes ist mir da ausgesprochen einleuchtend. Nachdem die Parlamentsarmee durch zwei Bundesverfassungsgerichtsurteile nach Klagen der liberalen Fraktion gestärkt worden ist, sollten wir auf gar keinen Fall Abstriche an den Mitwirkungsmöglichkeiten des Parlaments machen.

(Beifall bei der FDP)

Sie haben Fortschritte angesprochen. Wir sind uns natürlich darüber im Klaren, dass wir auch Defizite haben. Sie haben das Thema Korruption angesprochen. Da muss auch die Regierung Karzai in die Pflicht genommen werden. Das werden wir sehr genau beobachten.

Bei der Frage der Drogenbekämpfung haben wir überhaupt keinen Fortschritt erzielt. Ich sage Ihnen –- auch als Volkswirt -–: Ich habe ein bisschen Bedenken, ob die alternativen Produktionen am Ende funktionieren können. Hier haben wir noch echte konzeptionelle Probleme zu bewältigen.

Letztes Wort. Es stellt sich die große Frage, wie die Weltpolitik zu Beginn des Jahres 2009 aussehen wird. Entscheidend ist, was aus den Reden des russischen Präsidenten Medwedew wird und wer amerikanischer Präsident wird. Ohne eine konstruktive Zusammenarbeit mit dem Iran, mit Pakistan, mit Russland, mit China und wahrscheinlich auch mit Indien werden wir unser Problem in Afghanistan auf Dauer vermutlich nicht bewältigen und das Ziel, dass etwas Selbsttragendes entsteht, nicht erreichen können. Deswegen ist mir völlig klar, dass am Ende ohne eine Dialogbereitschaft unseres wichtigsten Partners, unseres wichtigsten Verbündeten, im Hinblick auf diese Länder in Afghanistan langfristig nichts Erfreuliches stattfinden wird.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Andreas Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sicherheit und Entwicklung sind in Afghanistan zwei Seiten einer Medaille. Gestatten Sie auch mir einen Satz zur Sicherheit, bevor ich über die Entwicklungsfortschritte in Afghanistan spreche.

Unser Verteidigungsminister hat gestern vorgeschlagen, im nächsten ISAF-Mandat die Obergrenze um 1 000 Soldaten zu erhöhen. Wir werden darüber im Oktober ausführlich debattieren. Wir haben den politischen Auftrag erteilt, für Frieden und Sicherheit in Afghanistan zu sorgen, auch militärisch. Aus diesem Auftrag leiten die Militärplaner und die Sachverständigen ihre Anforderungen ab. Wenn diese nun anhand von Einsatzerfahrungen zu dem Schluss gekommen sind, dass sie zur erfolgreichen Erledigung des Auftrags mehr Soldaten, eine andere Ausrüstung oder mehr Spielraum brauchen, um mit Reservekräften auf künftige Gefahrensituationen flexibel reagieren zu können, dann müssen sie all dies erhalten.

Lieber Kollege Hoyer, das heißt nicht, dass am Tag der Abstimmung im Deutschen Bundestag sofort 1 000 Soldaten mehr nach Afghanistan geschickt werden. Wir wissen, dass dort im nächsten Jahr Wahlen sind. Wir wissen, dass es zu bestimmten Situationen kommen kann, in denen die Risiken größer werden. Ein flexibleres, für 14 Monate geltendes Mandat ist darauf die richtige Antwort. Es kann nicht sein, dass wir als Parlament am militärischen Bedarf für den politischen Auftrag vorbeimandatieren und damit die Auftragserfüllung erschweren.

Wir alle kennen den Grundsatz: Keine Entwicklung ohne Sicherheit und keine Sicherheit ohne Entwicklung. Die gleichzeitige Absenkung der Obergrenze bei OEF halten wir für vertretbar, zumal seit langem weniger als 300 Soldaten eingesetzt sind. Wichtig ist dabei, dass die 100 KSK-Soldaten weiterhin im Mandat bleiben. Das ist bündnispolitisch ein wichtiges Signal. Ich begrüße ausdrücklich nicht nur, dass Außenminister Steinmeier dies für die SPD mitträgt, sondern auch, dass er dies für unverzichtbar hält.

Die Konferenz von Paris war die sechste in einer Abfolge von Afghanistan-Konferenzen, auf denen sich die internationale Gemeinschaft gemeinsam mit Afghanistan kontinuierlich ihrer Beiträge zum Wiederaufbau versichert, aber auch ihre Ziele mit dem Erreichten abgleicht. Unser Ziel ist klar und seit seiner ersten Formulierung 2001 gleichbleibend aktuell: ein Afghanistan, das für seine Sicherheit selbst sorgen kann und damit keine Bedrohung mehr für unsere Sicherheit darstellt. Mit dieser Zielsetzung haben wir uns in einem von 25 Jahren Krieg und Bürgerkrieg zerstörten Land und angesichts der Sabotage durch Taliban und Aufständische keine leichte Aufgabe gestellt, vor allem eine langwierige Aufgabe, die Geduld und Ausdauer erfordert. Wir haben in den letzten sieben Jahren schon beachtliche Fortschritte erzielt: die Talibanherrschaft beendet, demokratische Institutionen geschaffen, die Lebenssituation der Menschen verbessert, Grundversorgung und Zugang zu Bildung –- auch für Mädchen -– sichergestellt.

Aber wir haben unser Ziel bei weitem noch nicht erreicht. Deswegen wächst bei einigen die Ungeduld. Aber wir müssen realistisch sein. Vor sieben Jahren war Afghanistan ein Failed State und die wichtigste Operations- und Trainingsbasis des internationalen Terrorismus. Ich möchte noch einmal die Zeitachse aufzeigen. Mit der ersten Konferenz auf dem Petersberg im Dezember 2001 haben wir uns verpflichtet, uns am Friedensprozess zu beteiligen und beim Wiederaufbau des Landes zu helfen. Damit sind wir aus eigenem Sicherheitsinteresse eine substanzielle Bindung eingegangen, die wir auf Folgekonferenzen immer wieder erneuert haben. Der Minister hat daran erinnert.

In Weiterentwicklung des Afghanistan-Compact von London hat die Regierung Karzai nun in Paris zwei neue, auch für uns verbindliche Strategiepapiere vorgelegt: die Nationale Entwicklungsstrategie und den Strategischen Fünfjahresplan zur Verbesserung der Regierungsverantwortung bis 2013. Das Fernziel wird mit 2020 angegeben, wenn Afghanistan in eine „stabile, islamische, konstitutionelle Demokratie in Frieden mit sich und seinen Nachbarn“ umgewandelt sein soll. Bis dahin liegt noch ein großer Berg Arbeit vor uns. Um ihn erfolgreich abzutragen, ist es notwendig, das bisher Geleistete zu überprüfen, gegebenenfalls zu verstärken, um nicht wieder zurückzufallen.

In letzter Zeit überwiegt der Eindruck, die Lage habe sich eher verschlechtert, obwohl Milliarden von Hilfsgeldern fließen und Tausende von Soldaten und zivilen Helfern im Einsatz sind. Die Zahl der Anschläge ist gestiegen, auch im Norden. Wir haben bei allen drei Säulen des Afghanistan-Compact neben den Fortschritten auch Fehlentwicklungen zu verzeichnen: bei der Sicherheit, bei der guten Regierungsführung sowie bei der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Wir hören von wachsender Korruption, von Schattenwirtschaft und einer stockenden Entwicklung im Privatsektor.

Für die schwierige Aufgabe, Afghanistan wieder aufzubauen und lebensfähig zu machen, brauchen wir neben der langfristigen Perspektive auch realistische Teilziele, die wir laufend überprüfen müssen. Zwei Signale gehen von der Konferenz in Paris aus: Erstens. Die internationale Gemeinschaft steht zu ihrem Engagement in Afghanistan. Afghanistan selbst und seine Führungseliten sind zunehmend bereit, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen. Zweitens. Wir können aus Afghanistan dann wieder heraus, wenn wir mit unserer Mission erfolgreich waren. Ob es uns möglich sein wird, die politische Verantwortung an die afghanische Regierung schon 2013 zu übergeben, wird sich zeigen. Auf jeden Fall ist es unser Ziel. Das heißt dann aber auch, dass wir in den nächsten fünf Jahren dringend weitere Fortschritte erzielen müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wir werden in Afghanistan keine Westminster-Demokratie errichten können, aber wir können eine funktionierende Verwaltung und selbsttragende Sicherheitsstrukturen aufbauen. Das bedeutet die Einsatzfähigkeit der afghanischen Armee und der afghanischen Polizei. Daher begrüße ich die im Mai von der EU beschlossene überfällige Verdopplung der Einsatzstärke von EUPOL, aber auch das zusätzliche verstärkte deutsche Engagement beim Aufbau der Polizei.

Ich sehe Handlungsbedarf bei der regionalen Kooperation. Afghanistan grenzt an Pakistan, Iran, Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan. Alle Entwicklungskonzepte zielen darauf ab, Afghanistan dabei zu unterstützen, mit seinen Nachbarn tragfähige Beziehungen aufzubauen. Deswegen müssen die diplomatischen, sicherheitspolitischen, aber auch die handelspolitischen Beziehungen, die Afghanistan eingeht, weiter gestärkt werden.

Ganz besonders wichtig ist eine gute Kooperation mit Pakistan; dies ist wichtig nicht nur für die Sicherheit in der schwierigen Grenzregion. Denn Afghanistan importiert zwei Drittel seiner Nahrungsmittel aus Pakistan. Der Wiederaufbau der afghanischen Landwirtschaft und die ländliche Entwicklung sind von zentraler Bedeutung für die Ernährungssicherheit der Bevölkerung. Schätzungsweise 7 Millionen Afghanen sind von Hunger bedroht.

Eine gute regionale Kooperation ist ebenfalls wichtig für den Kampf gegen den Rauschgifthandel, der nur in Zusammenarbeit mit den Transitländern funktioniert. Die Beseitigung der Drogenwirtschaft ist ein Querschnittthema durch alle drei Säulen des Compact und damit auch der Schlüssel zum Erfolg. Wir sehen zwar Erfolge in neuen opiumfreien Provinzen; aber die Anbaufläche und der Ernteertrag wachsen weiter. Im letzten Jahr wurden 8 200 Tonnen Opium geerntet, Rohstoff für 93 Prozent des weltweit konsumierten Heroins. Davon profitieren die Taliban mit 100 Millionen Dollar für ihre Kriegskasse. Diese unglaublichen Zahlen steigen stetig. Dies muss ebenso wie die wachsende Korruption konsequenter bekämpft werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wenn vor allem die schlechte Sicherheitslage Ursache für die florierende Opiumwirtschaft ist –- über die Hälfte des Schlafmohns wird allein in der Provinz Helmand angebaut –-, dann muss dort die Durchsetzungsfähigkeit der Zentralregierung und der jeweiligen Provinzregierungen besonders gestärkt werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ressortübergreifend müssen wir auch hier in Berlin analysieren, wie viel Geld wir für Afghanistan haben, welche Prioritäten wir setzen und wie wir bis 2013 und darüber hinaus vorgehen. Gestatten Sie mir abschließend eine etwas kritische Anmerkung: Ich habe manchmal den Eindruck, als machten sich BMZ und AA gegenseitig Konkurrenz in der Entwicklungszusammenarbeit

(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Carl- Ludwig Thiele [FDP]: Sehr interessant! – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Heidi, was ist das wieder?)

oder als schöben AA und BMI bei EUPOL die Verantwortung hin und her. Der sogenannte Comprehensive Approach muss eben auch hier in Berlin verwirklicht werden. Wenn wir dann das, was wir dort neben dem militärischen Engagement leisten, nämlich die zivilen Beiträge, in der Kommunikation besser herausstellen, dann werden wir auch in der deutschen Öffentlichkeit eine hö- here Akzeptanz für unseren Einsatz in Afghanistan erreichen.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Kein Beifall bei der SPD! Was ist mit euren Partnern los?)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Ich gebe das Wort dem Kollegen Oskar Lafontaine, Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Oskar Lafontaine (DIE LINKE):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man den Tenor der bisherigen Reden zusammenfasst, dann ist das Ziel unserer Politik, den Menschen in Afghanistan zu helfen

(Dirk Niebel [FDP]: Das ist wahr!)

und gleichzeitig die Sicherheitslage in Deutschland und überhaupt auf der Welt zu verbessern.

(Dirk Niebel [FDP]: Er hat es verstanden!)

Ich habe zunächst keine Veranlassung, in Zweifel zu ziehen, dass das die Absicht der Politik ist. Welche Gründe gäbe es dafür, dies in Zweifel zu ziehen?

Wenn man das, was der Herr Bundesaußenminister hier vorgetragen hat –- auf diese Rede möchte ich im Besonderen eingehen -–, zusammenfasst, dann müsste man zu dem Ergebnis kommen, dass wir auf gutem Wege sind und dass sich die Lebenssituation in Afghanistan deutlich verbessert.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist doch gut! – Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Waren Sie schon einmal da, Herr Kollege?)

Das wäre, unpolemisch formuliert, die Zusammenfassung seiner Rede.

Nun hat der Bundesaußenminister die Süddeutsche Zeitung zitiert; ich zitiere sie auch. Sie hat heute ganz anders kommentiert und darauf hingewiesen, dass die Bundesregierung, wenn es um Afghanistan geht, mit der Wahrheit nicht herausrückt, dass sie vielmehr versucht, die Dinge besser darzustellen, als sie in Wirklichkeit sind, und dass sie, insbesondere was die militärischen Einsätze angeht, nicht bereit ist, der Bevölkerung die Wahrheit zu sagen. Daher muss heute auch darüber gesprochen werden.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Jetzt kommt die Wahrheit!)

Ich möchte zunächst, um zu belegen, was die Süddeutsche Zeitung analysiert hat, den Vortrag des Bundesaußenministers noch einmal kurz Revue passieren lassen, um deutlich zu machen, wie sehr man sich selbst täuschen und die Dinge falsch darstellen kann. Zunächst war im Zentrum seines Vortrages das Wort „Wiederaufbau“. Wenn man das Wort „Wiederaufbau“ hört, dann hat man natürlich eine bestimmte Vorstellung. Aber derjenige, der die Situation in Afghanistan kritisch sieht, denkt natürlich an Krieg, an militärische Einsätze und an die Verwüstungen, die dort angerichtet werden. Es ist merkwürdig, dass diese Worte in einem solchen Vortrag überhaupt nicht gefallen sind, sondern völlig ausgeblendet wurden. Der Wiederaufbau auf der einen Seite wurde erwähnt, aber die ständig zunehmende Zerstörung auf der anderen Seite mit keinem einzigen Wort. So kann man sich eben selbst täuschen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Das setzt sich in seinem Vortrag fort. Wer wäre nicht stolz darüber, dass 8 Millionen Minen geräumt worden sind? Wer würde das nicht massiv begrüßen? Aber während Sie dies hier vorgetragen haben, haben wir uns natürlich die Frage gestellt: Wie viele Bomben sind inzwischen wieder gefallen? Welche Qualität hat die Munition? Sind es Streubomben? Ist es Munition mit Uranerzen verseucht usw.? Kein Wort darüber! Es existieren schreckliche Berichte über das, was immer noch in Afghanistan läuft. Wie kann man in einem solchen Vortrag lediglich darüber reden, dass 8 Millionen Minen geräumt wurden? Auch hieran ist ganz eindeutig zu erkennen, wie sehr man sich bemüht, die Situation nicht zur Kenntnis zu nehmen. Bei der Beschreibung der Lage betreibt man eine der Sache überhaupt nicht angemessene Schönfärberei; so muss ich es leider nennen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Der Bundesaußenminister hat von Schwierigkeiten gesprochen. Jeder stellt sich die Frage, was er mit „Schwierigkeiten“ meint. Unsereinem fällt natürlich gleich ein, dass sich die Bundesregierung weigert, die genaue Zahl der Opfer anzugeben. Dann fällt einem ein, dass internationale Organisationen von Tausenden von zivilen Toten im letzten Jahr ausgehen. Ist es angemessen, angesichts dessen von „Schwierigkeiten“ zu sprechen? Ist das nicht völlig unangemessen?

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Ich hatte schon ein Problem damit, als jemand während des Jugoslawien-Kriegs immer wieder von Kollateralschäden gesprochen hat. In solchen Auseinandersetzungen ist die Sprache verräterisch. In der Sprache wird deutlich, dass man sich weigert, die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen.

Jetzt will ich eine Formulierung aufgreifen, die das deutlich unterstreicht. Herr Bundesaußenminister, Sie haben gesagt, bei unseren Bemühungen würde sich entscheiden, „ob die Hoffnung die Oberhand behält oder ob die Angst zurückkehrt“. Sie sehen, ich habe mitgeschrieben. Ich habe mich gefragt: Meint er das wirklich so? Meint er wirklich, man könne in Afghanistan derzeit darüber sprechen, „ob die Hoffnung die Oberhand behält oder ob die Angst zurückkehrt“? Ich glaube, diese Worte richten sich selbst.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Quatsch! Das ist dummes Zeug! Nur dummes Zeug!)

Herr Kollege Struck, Ihre Formulierung, das sei dummes Zeug, ist so unqualifiziert, dass Sie sich schämen sollten.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Sie sollten sich wirklich schämen. Manchmal ist es wirklich schwierig, Ihrem Niveau zu folgen, Herr Kollege Struck.

(Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg [CDU/CSU]: Gute Beschreibung Ihrer Rede! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Sie schüren Ängste und machen keine Hoffnung! Das ist das Problem! – Dr. Peter Struck [SPD]: Dummes Zeug! Waren Sie jemals in Afghanistan? Sie reden und haben keine Ahnung! Dummes Zeug!)

Ich wiederhole: Sie haben gesagt, die Hoffnung solle die Oberhand behalten und die Angst werde vielleicht zurückkehren. Wie viel Angst ist derzeit in Afghanistan? Davon zu sprechen, dass in einem Land, in dem der Krieg tobt, in dem Tausende Menschen ums Leben kommen, die Angst vielleicht zurückkehren könne, zeigt doch, dass Sie sich weigern, die Wirklichkeit in diesem Land zur Kenntnis zu nehmen. Das ist wirklich nicht nachvollziehbar.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Es ist nicht nachvollziehbar, was hier vorgetragen wurde. Ich zitiere Sie nur und konfrontiere Sie mit Fakten. Um das Ganze abzurunden, möchte ich darauf hinweisen, dass an einem Tag, an dem überall in der Presse zu lesen ist, dass das Militärische aufgestockt wird, Sie hier formuliert haben: Die militärische Präsenz muss noch eine Zeit lang bleiben, sich aber „überflüssig“ machen. Auch hier haben Sie das Gegenteil von dem gesagt, was zurzeit diskutiert wird. Obwohl es um eine Aufstockung geht, sprechen Sie davon, dass sich das Militärische „überflüssig“ machen soll. Winston Churchill hat ein solches Vorgehen einmal mit dem ihm eigenen Zynismus beschrieben. Er hat gesagt: Im Krieg ist die Wahrheit so kostbar, dass sie nie anders als mit einer Leibwache von Lügen auftreten sollte.

An dieses Zitat Churchills wurde ich bei den Vorträgen erinnert, die ich hier gehört habe. Wenn man in Afghanistan weiterkommen will, darf man die Wirklichkeit in Afghanistan nicht völlig ausblenden.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Dr. Peter Struck [SPD]: Das machen Sie aber! Fahren Sie denn einmal hin? – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was schlagen Sie denn vor?)

Wir stellen gar nicht in Abrede, dass man die Lebenssituation der Menschen in Afghanistan verbessern möchte, dass dies das Ziel ist. Ob man dies erreichen kann, indem man Kampftruppen dort hinschickt und den Umfang der militärischen Einsätze weiter steigert, ist aber fraglich. Das ist doch die Wahrheit. Unsere Fraktion ist der Auffassung, dass man mit der Ausweitung militärischer Einsätze beide Kernziele total verfehlt: weder verbessert man die Lebenssituation der Menschen in Afghanistan noch erhöht man die Sicherheit in Deutschland oder sonst irgendwo.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Wann endlich begreifen Sie, dass die sogenannten humanitären Interventionen nicht nur als Begriff eine Unmöglichkeit darstellen, sondern mittlerweile auch im Ergebnis?

Leute, die viel öfter als Sie, Herr Struck, in Afghanistan waren, sagen, dass die Irakisierung Afghanistans in vollem Gang ist, sich die Sicherheitslage immer weiter verschlechtert und die Zahl der Opfer steigt. Angesichts dessen ist das, was Sie hier bieten, schlicht und einfach eine Täuschung der Öffentlichkeit. Auf diesem Weg kommen wir in keinem Fall weiter, wenn wir Afghanistan helfen und die Lage in Deutschland verbessern wollen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

In der Presse wird die Argumentation der Bundesregierung, dass die Aufstockung der Beteiligung an ISAF mit einer gleichzeitigen Reduktion der Truppen einhergeht, die für „Operation Enduring Freedom“ zur Verfügung gestellt werden, als Trickserei bezeichnet. Ich beziehe mich hier auf einen Artikel in der Frankfurter Rundschau. Dort wird erläutert, warum das Trickserei ist. Die Regierung verweist darauf, dass man beim Kampfeinsatz reduziert –- das klingt ja sehr gut -–, aber die zivile Hilfe aufstockt. Wäre das so, würde das jeder sofort unterschreiben. In dem Artikel wird dargestellt, warum das in Wirklichkeit Trickserei ist. Denn in dieser Zahl sind nie Streitkräfte zur Verfügung gestellt worden. Hier wird, wenn man so will, schlicht und einfach ein Popanz aufgebaut. In Wirklichkeit geht es um ein systematisches Aufstocken der Kontingente. Nichts anderes ist der Fall. Die vielen zivilen Organisationen haben völlig recht, wenn sie sagen: Zivile Hilfe und militärische Mittel stehen in überhaupt keinem Verhältnis. Wir brauchen eine Verstärkung der zivilen Hilfe, und wir müssen die militärischen Einsätze deutlich zurückfahren.

(Beifall bei der LINKEN)

Positiv möchte ich würdigen, dass mein Vorredner zumindest an drei Stellen die Situation nicht schöngefärbt hat. Der Kollege der CDU/CSU-Fraktion sprach immerhin von der Zunahme der Korruption und davon, dass der Opiumanbau nicht zurückgegangen ist, sondern sich weiter verstärkt. Beides kann nicht unser Ziel sein. Er sprach auch davon, dass sich die Lage eher verschlechtert habe. Das war zumindest ein realistischer Ansatz, um die Situation in Afghanistan zu schildern. Wenn es wirklich um neue Straßen, Schulen, Brunnen und Gesundheitsversorgung ginge, wer würde hier darüber diskutieren, ob das notwendig und unterstützenswert sei?

Darüber diskutieren wir hier nicht. Sie haben in Ihrem Beitrag angesprochen, dass dieses Land seit 25 Jahren Krieg hat. Es geht nicht nur um die Taliban. Es geht auch um die Verbrecher, die jetzt in der Regierung sitzen, die sich ebenfalls schlimmer Verbrechen schuldig gemacht haben und mit westlicher Unterstützung aufgerüstet wurden, sodass sie ihre Verbrechen begehen konnten.

(Beifall bei der LINKEN)

Das kann man doch nicht alles völlig ausblenden. Die jetzige Debatte zeigt ganz deutlich, dass Ihre Politik überhaupt nicht erfolgreich sein kann; denn Sie gehen von einer falschen Analyse aus. Es ist menschlich verständlich, wenn man das, was unangenehm ist, verdrängt. Es ist menschlich verständlich, wenn man das Scheitern der Politik völlig ausblendet. Das Scheitern der Politik für uns besteht in Folgendem: Die Zahl der zivilen Opfer nimmt immer weiter zu; das ist unabhängig davon, ob Sie die Opferzahlen angeben oder nicht. Da das der Fall ist, kann man nicht von Wiederaufbau in Afghanistan sprechen.

(Beifall bei der LINKEN)

Der beste Wiederaufbau und die beste Verbesserung der Lebenssituation dort bestünde darin, dass man das Sterben der Menschen verhindert.

(Zuruf von der SPD: Wie?)

––- „Wie“ hat hier jemand dazwischengerufen. Das will ich Ihnen sagen:

(Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg [CDU/CSU]: Mit Zynismus!)

Mit Kampfeinsätzen und mit Bomben werden Sie das Sterben der Menschen niemals verhindern. Lösen Sie sich von diesem Irrtum, und sagen Sie insbesondere den Menschen in Deutschland die Wahrheit, damit sie zu einem richtigen Urteil kommen können.

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie haben nicht gesagt, was Sie vorschlagen!)

Ich sehe hier einige Kollegen –- auch aus den Regierungsfraktionen –-, die sich dieser Schönfärberei verweigern. Ich möchte Ihnen den Respekt unserer Fraktion aussprechen.

(Christel Riemann-Hanewinckel [SPD]: Das ist aber nett!)

Ich möchte Ihnen sagen, was wir vorschlagen. Wir sind für zivile Entwicklungszusammenarbeit.

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Mit den Taliban oder was?)

Wir halten militärische Interventionen für den verkehrten Weg, um das Leben der Menschen zu verbessern und dem Frieden in der Welt zu dienen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das wollen Sie mit den Taliban durchführen?)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Professor Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD):

Frau Präsidentin! Herr Lafontaine, als Sie gesprochen haben, habe ich mich gefragt, von welchem Lande Sie eigentlich reden. Ich kann Ihnen nur sagen: Fahren Sie doch einmal in dieses Land.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Schauen Sie sich dort doch bitte einmal um. Ich weiß, Herr Lafontaine, dass es Ihnen peinlich wäre, wenn Sie hinfahren würden, weil Sie erleben könnten, dass Schülerinnen und Schüler jetzt überhaupt erstmals wieder die Chance haben, in Primarschulen zu gehen. 75 Prozent aller Jungen und 60 Prozent aller Mädchen, die die Primarschulreife haben, können nun in die Schule gehen. Diese Tatsachen bringen das von Ihnen vorgetäuschte Bild völlig durcheinander.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Ich möchte Sie darum bitten, nach Afghanistan zu fahren. Sie müssen dann das überprüfen, was Sie hier erzählen. Das würde ein ganz anderes Bild von einem ganz anderen Land ergeben, als Ihre Rhetorik glauben macht.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Das ist die Wirklichkeit in diesem Land. Herr Lafontaine, gehen Sie heute Abend in die sächsische Landesvertretung. Um 19 Uhr werden dort afghanische Künstlerinnen, die seit einem Jahr in einem Zentrum für zeitgenössische Kunst studieren und arbeiten dürfen, ihre Bilder zeigen. Das durften sie vorher nicht.

(Monika Knoche [DIE LINKE]: Sie sprechen sich gegen den Krieg aus!)

Jetzt können sie es. Angesichts dieser Bilder, Herr Lafontaine, werden Sie sehen, dass seit dem Ende der Talibandiktatur Frauen zum ersten Mal eine Chance haben, ihre eigenen Fähigkeiten und ihre eigene Kreativität zu zeigen und darzustellen.

(Monika Knoche [DIE LINKE]: Was zeigen diese Bilder, Herr Weisskirchen? Sie zeigen den Schrecken des Krieges, Herr Weisskirchen!)

Das ist ein Zeichen von künstlerischer und bürgerschaftlicher Freiheit. Diese wäre gefährdet, wenn Ihre Reden dazu führen würden, dass die Taliban zurückkehren. Das wollen wir nicht.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Monika Knoche [DIE LINKE]: Das sind politische Bilder gegen den Krieg!)

Gerade dann, wenn es ernst wird, muss gelten: Wir werden unsere Verpflichtungen einhalten. Lieber Kollege Lafontaine, Verpflichtungen einhalten heißt in diesem Fall ganz einfach und ganz schlicht: Freiheit und Selbstbestimmung können in diesem Land nur dann erreicht und stabilisiert werden, wenn es ein gewisses Maß an Sicherheit gibt. Diese kann von dem eigenen Land gegenwärtig nicht gewährleistet werden, sondern muss, mandatiert vom Weltsicherheitsrat der UNO, von der internationalen Staatengemeinschaft garantiert werden.

Ansonsten kann es keine stabile Entwicklung Afghanistans geben. Das ist der völkerrechtliche Auftrag, den wir haben und den wir auch erfüllen. Daran werden wir festhalten.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Noch eine andere Sache: 85 Staaten dieser Erde –- die Pariser Konferenz hat das gezeigt –- haben sich in Paris darauf verständigt, dass der Afghanistan-Compact weiterentwickelt werden soll und dass in den nächsten Jahren 20 Milliarden Dollar bis 2013 zur Verfügung gestellt werden. Der Außenminister hat ausschließlich für die zivile Entwicklung dieses Landes 420 Millionen Euro allein aus der Bundesrepublik Deutschland zugesichert. Davon muss man reden. Es ist unsere Aufgabe dafür zu sorgen, dass der zivile Aufbau gelingt. Er kann nur gelingen, wenn wir diese 85 Staaten in ihrer Würde respektieren. Sie stellen sich gegen 85 Staaten dieser Erde, Herr Lafontaine.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Auf der Pariser Konferenz – schauen Sie sich einmal die Dokumente an – wurde eine schnörkellose, nüchterne und selbstkritische Bilanz gezogen. Die Regierung Karzai hat zum Beispiel mit den beiden vom Kollegen Schockenhoff schon genannten Strategiepapieren deutlich gemacht, dass sie selber einen Strategiewechsel vollzieht und dass sie zusammen mit der Weltbank eine nationale Entwicklungsstrategie erarbeitet. Mit diesem eigenständigen Beitrag hat sie den Afghanistan-Compact von 2008 selbst ausgestaltet.

Die afghanische Regierung geht auch selbstkritisch mit ihren eigenen Fähigkeiten um. Sie hat klar gesagt: Wir haben Fehler gemacht. Das sagen auch wir. Wir wissen doch, dass Afghanistan nicht vorankommen kann, wenn nur militärische Mittel eingesetzt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Militärische Komponenten sind nur dann tragfähig, wenn sie dazu beitragen, dass sich dieses Land zivil und friedlich entwickeln kann. Nur dafür brauchen wir Armeen, für nichts, aber auch gar nichts anderes.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

In den nächsten fünf Jahren wird das Unabhängige Direktorat für lokale Regierungsführung Mittel zur Verfügung stellen, damit eines der Hauptprobleme der afghanischen Regierung –- dass sie die Macht konzentriert und zentralisiert; das ist ein erheblicher Mangel –- gelöst werden kann. Das Land soll in Zukunft von unten erneuert werden. Das ist ein Strategiewechsel, der zur Folge haben wird, dass sich das Land von unten verändert. Die Kommunen, Distrikte und Provinzen werden im nächsten Jahr ihre eigenen Körperschaften wählen.

Lieber Kollege Lafontaine, in diesem Zusammenhang möchte ich sagen: Vor uns liegt eine wichtige Aufgabe. Im Jahre 2009 müssen wir unseren Beitrag leisten, dass in Afghanistan friedliche, faire und freie Wahlen abgehalten werden können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das ist eine der zentralen Aufgaben der internationalen Staatengemeinschaft.

Liebe Kollegin Beck, da wir in den nächsten Tagen zur Parlamentarischen Versammlung der OSZE nach Astana fahren: Ich fände es gut, wenn die OSZE ihre Dienste zur Verfügung stellen könnte, damit die internationale Staatengemeinschaft ihren Beitrag dazu leisten kann, dass diese Wahlen frei und fair vonstatten gehen. Das wäre ein wichtiger Schritt, um zu helfen, dass dieses Land – das in einer gefährlichen Situation ist, das sich in einer Region befindet, in der es ständig von außen bedroht ist – eine Chance bekommt, sich weiterzuentwickeln. Das ist unsere Aufgabe.

Vor diesem Hintergrund war die Pariser Konferenz von einem großen Erfolg gekrönt. Der Außenminister hat dazu beigetragen, dass die Pariser Konferenz, auf der sehr selbstkritisch Position bezogen wurde, überhaupt hat stattfinden können. Vielen Dank, Herr Außenminister!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In einem Punkt haben Sie recht, Herr Lafontaine: Der Bundesaußenminister hat eine sehr schönfärberische Rede gehalten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das macht Ihre Rede aber nicht wahrheitsgetreuer. Denn Sie haben die Schönfärberei nur gespiegelt, also Schwarzmalerei betrieben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Irrtum, dem Sie unterliegen, ist ein Irrtum, über den Sie vielleicht noch einmal nachdenken sollten. Er besteht meines Erachtens in Ihrer Vorstellung, dass dort Krieg herrscht –- es gab dort übrigens schon 6 500 Tote, nicht 1 000 Tote, wie Sie sagten;

(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Richtig zuhören!)

ich betone: jeder dieser 6 500 Toten ist ein Toter zu viel –- liege daran, dass die internationale Gemeinschaft dort präsent sei. Das ist der Grundirrtum, dem Sie aufgesessen sind.

(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Muss ich mir so einen Quatsch wirklich anhören?)

Darüber muss man gar nicht spekulieren.

Was ist eigentlich geschehen, als der Kalte Krieg, der in Afghanistan heiß ausgefochten wurde, zu Ende war? Auch in diesem Punkt muss ich Sie leider belehren: Die Finanzierung der Nordallianz erfolgte nicht durch die USA. Die USA haben die Taliban bezahlt, die Nordallianz ist von den Russen bezahlt worden. In Ihrer Partei gibt es einige Leute, die das genau wissen.

(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Als der Kalte Krieg, der in Afghanistan heiß ausgefochten wurde, zu Ende war und man das Land sich selbst überlassen hat, hat dort 15 Jahre lang der brutalste Krieg stattgefunden, ein Krieg mit Exzessen, mit Massenmord etc., der so schlimm war, dass die Menschen die Herrschaft der Taliban in den ersten Jahren sogar ein Stück weit als Befriedung empfunden haben. Es ist ein Grundirrtum, zu denken, dass in Afghanistan Krieg herrsche, weil auf der Basis eines Mandats der Vereinten Nationen der Versuch gemacht wird, dieses Land, das durch Verantwortungslosigkeit, durch Intervention anderer Mächte und durch eigene Unzulänglichkeit in einen Krieg geraten ist, wiederaufzubauen. In Afghanistan haben wir keine Irakisierung, wir haben das Gegenteil von Irakisierung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Es geht um den Versuch, die Herrschaft des Rechts wiederherzustellen. Dies gleichzusetzen mit einer völkerrechtlich nicht gedeckten Intervention wie im Irak, ist ein Grundfehler. Damit redet man im Übrigen den Irak- Krieg schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Warum war das, was der Bundesaußenminister gesagt hat, schönfärberisch? Ich hätte mir gewünscht, lieber Frank-Walter Steinmeier, dass Sie sich die Selbstkritik, die auf der Afghanistan-Konferenz geübt worden ist, zu eigen gemacht hätten. Auf der Konferenz konnten Sie das zugegebenermaßen nicht leisten, weil Sie nur drei Minuten Redezeit hatten -

(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Aber seine Rede war eine gute Rede!)

im Gegensatz zu Laura Bush, die für eine bekannte NGO zehn Minuten über die Fortschritte im Bildungswesen Afghanistans reden durfte. Lesen Sie einmal nach, was die Überprüfung der Fortschritte gemäß dem Compact ergeben hat: Die Opiumproduktion habe ein alarmierendes Ausmaß angenommen. Die Korruption nehme nicht ab, sie wachse. Die legale Wirtschaft stehe auf einer unsicheren Grundlage. Von all dem haben wir heute wenig gehört.

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Doch, das hat der Außenminister gesagt!)

Zum anderen war es schönfärberisch, als Sie Leistungen in Aussicht gestellt haben, die bereits zugesagt worden sind. So ist es nicht wahr, dass Deutschland zusätzlich 140 Millionen Euro zur Verfügung stellt – diese Mittel stehen bereits im Haushalt. Auch ist es bis heute nicht so, dass die Ankündigung, die Polizei aufzubauen –- wofür wir übrigens seit 2004 zuständig sind; das sage ich im Hinblick auf uns beide -–, umgesetzt worden wäre. Tatsächlich ist es so, dass die Feldjäger der Bundeswehr in Afghanistan mehr Polizeiausbildung betreiben, als Polizisten es tun. Das ist die Realität.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich finde, es hätte dieser Debatte gut getan, wenn die Regierung die real existierenden Defizite beim zivilen Aufbau benannt hätte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich bin beileibe nicht der Auffassung, dass man Euro für Euro gegenüberstellen müsse, dass man argumentieren könne, es sei ein Missverhältnis, dass der Tornado- Einsatz 100 Millionen Euro kostet, während für zivile Hilfe lediglich 140 Millionen Euro bereitgestellt würden. Solche Vergleiche sind falsch. Aber es muss Sie doch umtreiben, dass es offensichtlich keinerlei Probleme bereitet, das Bundeswehrmandat um 1 000 auf 4 500 Soldatinnen und Soldaten aufzustocken, während in Afghanistan gerade einmal 255 zivile Aufbauhelfer aus Deutschland tä- tig sind. Das sind sehr wenige; so viele bräuchte man allein an Polizisten. Mit diesem Missverhältnis haben viele Leute ein Problem.

Es ist richtig: Afghanistan wird militärisch nicht zu gewinnen sein. Aber wenn Afghanistan militärisch nicht zu gewinnen ist, muss es uns doch umtreiben, dass immer dann, wenn ein militärisches Erfordernis da ist –- und das muss man im Hinblick auf die 1 000 zusätzlichen Soldatinnen und Soldaten nicht einmal bestreiten -–, wir sofort „liefern“ können, während es Jahre dauert, bis die Defizite im Zivilen, beim Aufbau der Polizei, endlich abgebaut werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Seit zwei Jahren rede ich davon, dass bei der Ausbildung der Polizei Defizite bestehen. Seit zwei Jahren versprechen Sie uns, Abhilfe zu schaffen. Doch es passiert nichts.

(Zuruf von der LINKEN: „Schwarzmalerei“!)

Mit unseriöser Kritik an der Afghanistan-Politik trägt man zur Lösung des Problems nicht bei. Sie wollen, dass die Opposition die deutschen Auslandseinsätze nach Möglichkeit mitträgt. Nun können Sie die Vorschläge der Opposition, selbst wenn wir das Gleiche wollen, was Sie zumindest versprechen, ablehnen. Natürlich können Sie uns trotzdem um Zustimmung bitten. Sie können auch sagen: Uns interessiert nicht wirklich, was diese kleinen Oppositionsfraktionen dazu sagen. Sie haben aber ein Problem: Wenn in einer Demokratie keine Akzeptanz für einen solchen sinnvollen –- das betone ich -– Einsatz an dieser Stelle mehr besteht –- auch von Militär -–, dann wird dieser Einsatz zu Ende sein. Das ist das Problem, vor dem Sie stehen.

Deswegen müssen Sie die realen Defizite im Zivilen nicht nur thematisieren und hinterfragen, sondern endlich abbauen. Darum geht es uns im Kern, wenn wir von einem Strategiewechsel sprechen. Sie kündigen ihn seit zwei Jahren an, aber er findet nicht statt. Ich kann das auch anhand des militärischen Bereichs beschreiben: Sie reduzieren jetzt die Stärke der OEF. Bisher waren 260 Marinesoldaten am Horn von Afrika eingesetzt. Die Gesamtzahl wollen Sie jetzt von 1 400 auf 800 reduzieren. Welch ein Fortschritt!

Haben Sie auch nur einen Tag lang mit den Amerikanern darüber gesprochen, ob es nicht sinnvoll ist, die Ausbildung der afghanischen Armee endlich der NATO und damit der ISAF zu überantworten? Haben Sie den Amerikanern an dieser Stelle konkrete Vorschläge und Angebote gemacht? Mir ist davon nichts bekannt. Das ist der Kernpunkt, weshalb ich sage: Im Zivilen wie im Militärischen verfehlen Sie genau das, was notwendig wäre, um Afghanistan zu stabilisieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Trittin.

Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.

Ich zitiere ungern Soldaten, in diesem Fall zitiere ich aber Ulrich Kirsch vom Bundeswehr-Verband. Er hat Ihnen ins Stammbuch geschrieben:

Man müsste gleichzeitig mit dem Mandat für die Bundeswehr ein Zivilmandat formulieren, in dem die zivilen Aufgaben so klar aufgeschrieben werden wie die unsrigen im militärischen Mandat.

Der Mann hat Recht, und wir können das nur nachdr ücklich unterstreichen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christian Ruck, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist wichtig, dass im Mittelpunkt der heutigen Diskussion der zivile Aufbau steht.

Die Paris-Konferenz zur Zukunft Afghanistans war in der Tat ein Schritt in die richtige Richtung, und zwar vor allem aus zwei Gründen: erstens weil die afghanische Regierung nach einem wirklich beachtenswerten internen Entscheidungsprozess ihre eigenen Vorstellungen zu einer nationalen Entwicklungsstrategie vorgelegt und damit eindrucksvoll ihren Willen zur Eigenverantwortlichkeit unterstrichen hat, und zweitens weil die Konferenz tatsächlich der Versuch war, eine ehrliche Bestandsaufnahme der Erfolge, der Probleme und der Herausforderungen bei der bisherigen Aufbauarbeit in Afghanistan zu machen.

Herr Trittin, so wichtig es ist, die Defizite anzusprechen –- ich glaube nicht, dass wir Entwicklungspolitiker uns um diese Diskussion drücken -–, so wichtig ist auch das, was schon gesagt wurde, dass es nämlich ganz entscheidend darauf ankommt, der deutschen Öffentlichkeit auch die Leistungen und Erfolge der vielen zivilen Aufbauhelfer, unserer Soldaten und vieler anderer – auch die der deutschen Steuerzahler – zu dokumentieren. Hier kann und muss man bei allem, was deutlich wird – auch wenn man hinfährt –, sagen: Unser Einsatz ist sinnvoll und zeigt Wirkung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Zu den eindrucksvollen Beispielen, die schon genannt wurden –- zum Beispiel im Bildungsbereich, im Gesundheitsbereich und bei der Minenräumung -–, möchte ich noch einige Dinge anführen, die vielleicht weniger bekannt, aber genauso wichtig sind.

Wir haben zum Beispiel konkrete Erfolge beim Aufbau der staatlichen Institutionen in Afghanistan. Von den afghanischen Ministerien werden Mittel in Höhe von 77 Millionen Euro jährlich direkt dafür genutzt, konkrete Projekte umzusetzen. Das ist zehnmal so viel wie vor fünf Jahren. Dadurch wird deutlich, dass wir auch beim Aufbau der Kapazitäten weiterkommen.

Ein anderes Beispiel: Mit deutscher Hilfe wurde die Investitionsagentur AISA eingerichtet. Sie wird bis zum Ende dieses Jahres 550 000 neue Arbeitsplätze geschaffen haben.

Ich nenne ein weiteres Beispiel. Mit unserer Hilfe wurde die erste Mikrokreditbank in Kabul eröffnet. Das hat im Land eine Investitionswelle initiiert, die vor allem den kleinen Leuten zugute kommt. Mit Darlehen zwischen 130 und 1 300 Euro werden neue Existenzgrundlagen für Teppichknüpferinnen, Gemüseverkäufer und Automechaniker geschaffen. Das trägt zum Aufbau eines Mittelstandes und zur Armutsbekämpfung bei.

Ein weiterer Bereich ist die Wasserversorgung. 2,5 Millionen Menschen in Kabul, Herat und Kunduz profitieren jeden Tag ganz konkret von dem, was wir in der Entwicklungszusammenarbeit geleistet haben.

Ich nenne ein Letztes: Wir machen auch etwas, das uns im Kulturbereich viel Ehre und Sympathie in ganz Afghanistan einbringt. Wir führen zum Beispiel ein Projekt zur Sanierung der Altstadt in Herat durch und helfen beim Zusammensetzen der zerstörten Buddha-Statuen von Bamian.

Das alles zusammen ergibt ein ganz anderes Bild der Wertschätzung der Afghanen für unsere Arbeit, als es Herr Lafontaine dargestellt hat. Untersuchungen der FU Berlin haben ergeben, dass 72 Prozent der Afghanen unser Engagement – vor allem im Sicherheitsbereich – begrüßen. Das macht deutlich, wie sehr die Afghanen unsere Arbeit wertschätzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wir erleben aber auch täglich, dass der zivile Wiederaufbau in Afghanistan Feinde hat und dass es eine Minderheit gibt, die mit Gewalt verhindern will, dass Demokratie, Menschen- und Bürgerrechte dauerhaft Zukunft haben. Deswegen brauchen wir für den Wiederaufbau eine entsprechende Sicherheitsstruktur mit einer funktionierenden afghanischen Armee, Justiz und Polizei.

Es gab zwar die eine oder andere Schwierigkeit beim Polizeiaufbau, auch bei EUPOL –- damit haben wir uns bereits befasst -–, aber ich verstehe nicht, Herr Trittin, dass Sie einfach leugnen, wie viele Tausende von Soldaten wir inzwischen in Afghanistan ausgebildet haben und dass eine Verdoppelung der Zahl der deutschen Polizeikr äfte als Ausbilder in Afghanistan vorgesehen ist. Das sollte man der Ehrlichkeit halber an dieser Stelle hinzufügen. Sonst tut man nämlich den Polizisten, die in Afghanistan Dienst tun, Unrecht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

In Afghanistan steht viel auf dem Spiel, nicht nur für die Afghanen selbst, unsere Soldaten und die zivilen Aufbauhelfer, sondern wegen der Lage in einer sehr explosiven Region Afghanistans auch für unsere eigene Sicherheitspolitik und unsere eigenen Sicherheitsinteressen.

Deswegen sind wir es den Bürgern in Afghanistan, aber auch unseren eigenen Bürgern schuldig, die Defizite und die Herausforderungen, vor denen wir noch stehen, anzusprechen.

Mit der Abstimmung der zahllosen Geberländer und Institutionen im zivilen Bereich untereinander, mit der Entwicklung in der Drogenwirtschaft und mit der Sicherheitslage können wir nicht zufrieden sein. Aber die einzig mögliche Antwort darauf besteht darin, mit unseren Erfolgen im Rücken die Herausforderungen anzugehen. Das gilt zum Beispiel auch für die Drogenbekämpfung. Was in Laos, in weiten Teilen Pakistans und auch in Thailand gelungen ist –- übrigens auch durch deutsche Entwicklungszusammenarbeit -–, das ist auch in Afghanistan möglich, nämlich eine erfolgreiche Drogenbek ämpfung zu organisieren, wenn man bereit ist, den Dingen konsequent auf den Grund zu gehen.

Man muss die Menschen in die Lage versetzen, auch ohne Drogenanbau ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, zum Beispiel durch Rehabilitierung der alten Bewässerungssysteme und den Wiederaufbau der Infrastruktur.

Man muss auch deutlich machen, dass man nicht nur die Kleinen bestraft, sondern auch die großen Drogenbarone nicht ungeschoren davon kommen lässt.

Entscheidend ist, dass wir stärker als bisher die afghanische Regierung und die afghanischen Entscheidungsträger in die Pflicht nehmen und versuchen, die Nachbarstaaten wie Pakistan in unsere Strategien einzubeziehen, und dass es uns gelingt, den vielstimmigen Chor der Geber auch international besser untereinander abzustimmen. Dabei denke ich besonders an die Weltbank und an den wichtigsten Geber, die Vereinigten Staaten, aber ich denke auch an uns. Trotz der großen Fortschritte, die die am zivilen Aufbau in Afghanistan beteiligten deutschen Ressorts gemacht haben, bleibt es eine Daueraufgabe, möglichst konkret unser Ziel zu verfolgen. Wir brauchen konkrete Planungs- und Zielvorgaben für einen überschaubaren Zeitraum, die von allen Ressorts gemeinsam eingehalten werden. In diesem Zusammenhang halte ich es für sinnvoll, dass das im kommenden Herbst zu beschließende Afghanistan-Mandat auch eine Zwischenbilanz der zivilen Leistungen und neben weiteren militärischen zivile Vorhaben mit konkreten Zielvorgaben und Verantwortlichkeiten beinhaltet.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Ruck, darf ich Sie an Ihre Zeit erinnern?

Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):

Jawohl, ich bin gleich so weit.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das sollten wir mal sagen!)

Ich bin dagegen, dass man militärische und zivile Ausgaben gegeneinander aufwiegt und ausspielt. Wir dürfen keine Zweifel an der Sicherheit unserer Soldaten aufkommen lassen und an ihr sparen. Das können wir nicht verantworten. Nun wird viel Geld zur Verfügung gestellt: 21 Milliarden Euro bis 2010. Hier muss eine qualitative Umsetzung erfolgen. Wir sind jedenfalls jederzeit bereit, über eine weitere Aufstockung der Haushaltsmittel für Afghanistan zu reden.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege, Sie reden auf Kosten Ihrer Kolleginnen und Kollegen.

Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):

Ein Schlusssatz, Frau Präsidentin.

Für uns sind die Anstrengungen im militärischen Bereich nichts anderes als die unverzichtbare Absicherung des eigentlichen Ziels, nämlich der dauerhaften Stabilisierung der jungen Demokratie in Afghanistan. Wir müssen sie in die Lage versetzen, in möglichst naher Zukunft die Aufgabe, dass die Bürger in Frieden und Freiheit leben, zu erfüllen. Das liegt auch im vitalen deutschen Interesse.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Ich gebe das Wort dem Kollegen Hellmut Königshaus, FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Hellmut Königshaus (FDP):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Trittin, Oskar Lafontaine hat noch in einem weiteren Punkt recht: Der Kollege Dr. Schockenhoff hat eine erfrischende Rede gehalten. Er hat insbesondere die Probleme, die die Reibereien zwischen dem BMZ und dem Auswärtigen Amt betreffen, sehr klar beschrieben. Ich glaube, darin liegt in der Tat ein großes Problem.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Er hat außerdem gesagt, dass Sicherheit und Aufbau zwei Seiten ein und derselben Medaille seien. Damit hat er natürlich recht. Er hat dabei eines, glaube ich, nicht richtig deutlich gemacht: Es sind zwar zwei Seiten ein und derselben Medaille, aber sie stehen im Verhältnis von Mittel zu Zweck. Wir sind dort militärisch engagiert, weil wir aufbauen wollen, und nicht umgekehrt. Das muss man sich vor Augen führen.

(Beifall bei der FDP)

Afghanistan braucht unsere Hilfe. Die Afghanen vertrauen darauf, dass wir unser Versprechen halten, wenn es um den Aufbau einer stabilen und korruptionsfreien Verwaltung, einer funktionierenden Polizei, von Schulen usw. geht. Das enorme Interesse, das die Afghanen an unseren Aufbaubemühungen haben, ist schon daran zu erkennen, dass die afghanische Botschafterin bis eben an der Debatte teilgenommen hat und dass das afghanische Fernsehen die Ergebnisse der Konferenz in Paris live übertragen hat. Das zeigt, welch große Hoffnungen darauf ruhen. Ich bin mir aber sicher, dass die Afghanen über die im Fernsehen übertragenen Ergebnisse der Afghanistan-Konferenz enttäuscht sind. Diese Konferenz wäre eine gute Gelegenheit gewesen, sich mit der Situation in Afghanistan grundsätzlich auseinanderzusetzen, und zwar ohne die zwanghafte Verengung auf Sicherheitsfragen. Sie hätte Anlass gegeben, sich mit der Rolle der afghanischen Regierung näher zu befassen, insbesondere in der Drogenwirtschaft. Diese Chance wurde auf der Konferenz erneut vertan, obwohl sicherlich einige Probleme im Zusammenhang mit dem Drogenanbau festgestellt wurden.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Herr Minister Steinmeier, Sie selbst haben gesagt, dass es ein „Weiter so“ in Afghanistan nicht geben dürfe und dass es nun vor allem um den Aufbau gehe. Warum zeigt sich dann aber die Bundesregierung gerade bei den Hilfszusagen so knauserig? Wir Liberale fordern seit langem –- Herr Trittin, ich glaube, hier besteht Übereinstimmung –- eine Erhöhung der Mittel für Afghanistan, beispielsweise durch Umschichtung. Verschiedene Seiten haben gerade die Bedeutung dieses Landes unterstrichen. Wir wissen sicherlich, dass Geld allein nicht die Lösung ist; das ist klar. Aber im Vergleich zu den Leistungen, die etwa Kanada sowohl im zivilen als auch im militärischen Bereich erbringt, ist das, was wir leisten, relativ gesehen viel zu gering.

Meine Damen und Herren, ich habe mir vor Ort ein Bild von der Lage gemacht. Jeder Entwicklungshelfer, mit dem ich gesprochen habe, hat mir erklärt, dass er sofort mehr Geld in die laufenden Projekte einspeisen könnte. Die Behauptung der Entwicklungsministerin, mehr Geld könne man in dem Land nicht einsetzen, ist schlichtweg falsch.

(Beifall bei der FDP)

Der Bedarf in dem Land ist vorhanden. Es gibt Erfolge –- sie werden ja immer wieder wie ein Mantra vorweg getragen -–, aber es gibt sie nur punktuell, es sind nicht genug, und vor allem werden die Projekte nicht schnell genug umgesetzt. Das Land braucht mehr Projekte, vor allem in der Fläche, auf dem Land, dort, wo noch nichts von Aufbau und Fortschritt zu spüren ist. Geben wir doch die nötigen Mittel, damit der Aufbau endlich bei den Menschen auf dem Land direkt ankommt! Nur damit tragen wir zu einer Stabilisierung der Lage bei. Es ist ja nicht so, dass wir für den Aufbau kein Geld hätten. Es gibt genügend Geld im Haushalt. Der Haushalt des BMZ ist der einzige, der kontinuierlich wächst. Darüber hinaus geben wir immer noch – ich möchte das nicht wiederholen – überdurchschnittlich viel Geld in Ländern aus, die dieses Geld nicht mehr brauchen.

(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch!)

Hier müssen Sie kämpfen, Herr Außenminister. Wir wissen ja, dass Sie manchmal auf dem falschen Bein kämpfen; das konnten wir kürzlich erleben. Sie müssen sich einmal mit Frau Wieczorek-Zeul über diese Frage auseinandersetzen. Wenn sie gut drauf ist, lässt sie Sie zumindest ausreden. Heute scheint sie gut drauf zu sein.

(Heiterkeit bei der FDP)

Der zivile Aufbau ist im Übrigen auch der Schlüssel zur Drogenbekämpfung, über die wir gerade gesprochen haben. Die Drogenwirtschaft ist ein Teil der wirtschaftlichen Basis des Terrors. Dadurch wird nicht nur die Sicherheit unserer Soldaten und Helfer, sondern auch der Aufbau selbst bedroht. Die Menschen in Afghanistan haben im Moment gar keine alternativen Einkommensmöglichkeiten. Wir müssen sie ihnen schaffen, aber mit vernünftigen Projekten, die die Strukturen berücksichtigen, und nicht mit irgendwelchen illusionären Projekten, für die es gar keinen Markt gibt; Stichwort Rosenöl und Ähnliches.

Des Weiteren müssen wir dafür sorgen, dass die Polizeimission endlich vorankommt. Hierüber haben wir heute im Ausschuss wieder eine Auseinandersetzung erlebt. Der Innenminister sagte, damit habe er nichts zu tun, EUPOL sei eine Angelegenheit des Außenministers. Egal, wer intern dafür zuständig ist: Sorgen Sie dafür, dass das endlich vorankommt. Wir haben doch dort die Verpflichtung übernommen.

(Beifall bei der FDP)

Anders als der Kollege Lafontaine sage ich: Wir müssen mehr für die Sicherheit unserer Entwicklungshelfer tun. Dafür, Herr Verteidigungsminister, brauchen wir mehr Soldaten, gerade in der Fläche, damit sie in der Not schnell Hilfe erhalten können. Ich bin, offen gesagt, entt äuscht darüber, dass Sie offenbar nicht beabsichtigen, die durch die Heraufsetzung der Mandatsobergrenze genehmigten zusätzlichen Soldaten für diese Zwecke einzusetzen. Das ist enttäuschend. Darüber sollten Sie noch einmal nachdenken.

Wir dürfen uns nicht vormachen, dass, wie das oft gesagt wird, Afghanistan schon auf dem richtigen Weg sei. Die Bundesregierung unterliegt einem Irrtum, wenn sie das glaubt. Sie, Herr Bundesaußenminister, haben gestern gesagt, Sie hätten offenbar eine andere Wahrnehmung von der Situation unserer Aufbauhelfer als ich. Da haben Sie recht. Aber ich glaube, dass in dem Fall ich die richtigere Auffassung habe,

(Beifall bei der FDP)

und zwar deshalb, weil ich mit den Leuten fernab der Feldlager gesprochen habe. Sprechen Sie mit denen! Dann werden Sie hören, dass nicht alles das, was Ihnen vom BMZ oder vom Bundesverteidigungsministerium mitgeteilt wird, tatsächlich die volle Wahrheit ist, die volle Realität darstellt.

Meine Damen und Herren, auch wenn es Probleme gibt, dürfen wir die Hoffnung nicht verlieren. Wir müssen die afghanische Regierung in die Pflicht nehmen. Und wir müssen etwas mehr Geld in die Hand nehmen. Dann werden wir in Afghanistan zum Erfolg kommen. Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Ich gebe das Wort der Kollegin Christel Riemann-Hanewinckel, SPD-Fraktion.

Christel Riemann-Hanewinckel (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich sehr gefreut, dass es der afghanischen Botschafterin möglich war, heute zumindest einen Teil der Debatte mitzuverfolgen. Im Rahmen eines Gesprächs, das wir gestern in der Arbeitsgruppe Menschenrechte der SPD-Bundestagsfraktion geführt haben, hat sie sich sehr deutlich zu dem, was wir heute verhandeln, und zum Einsatz der internationalen Schutztruppe geäußert. Darauf komme ich später zu sprechen.

Entwicklung nach kriegerischen Auseinandersetzungen ist immer nur möglich, wenn es Hoffnung, Vertrauen und ein Mindestmaß an Sicherheit gibt. Und eines kommt ohne das andere nicht aus.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deutschland hat sich wiederholt verpflichtet, Afghanistan bei der Herstellung und bei der Wahrung von Sicherheit, vor allem aber auch beim Aufbau des Landes zu unterst ützen. Ohne Sicherheit ist das Wachsen von Demokratie nicht möglich, ohne Sicherheit haben Bildung und Ausbildung von Kindern und Jugendlichen überhaupt keine Chance, ohne Sicherheit werden Frauen weiterhin diskriminiert und der häuslichen und traditionellen Gewalt in Afghanistan ausgesetzt, ohne Sicherheit bleibt die Müttersterblichkeit extrem hoch, und ohne Sicherheit werden permanent Menschenrechte verletzt. Erfahrungen und Erlebnisse aus 30 Jahren Krieg in Afghanistan müssen durch die Erfahrung abgelöst werden, dass das Zusammenleben gemeinsam zu gestalten ist. Neben die Hoffnung auf eine gute Zukunft muss das Erleben eines sich verändernden Gemeinwesens treten.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/CSU])

Es stellt sich die Frage, ob die Afghanen das nicht alleine tun können bzw. was Deutschland dazu tun kann. Mein erster Punkt ist, dass Deutschland durch die Beteiligung an der ISAF-Mission einen wichtigen Beitrag für die innere und äußere Sicherheit in Afghanistan leistet und weiterhin leisten muss. Deutschland kann durch ein umfassendes Engagement in der Entwicklungszusammenarbeit zur Entwicklung der afghanischen Zivilgesellschaft und eben auch der staatlichen Strukturen beitragen. Mit dem Auftrag von ISAF wird ein politisches und kein militärisches Ziel verfolgt. Vielleicht müssen wir das ständig wiederholen, damit es die, bei denen es noch nicht angekommen ist, endlich begreifen.

(Beifall bei der SPD)

Ich sage es noch einmal: Unsere Aufgabe lautet, Afghanistan bei der Herstellung und Wahrung von Sicherheit und beim Aufbau des Landes zu unterstützen. So zwiespältig es auch sein mag –- ich wiederhole es -–, ohne ein Mindestmaß an Sicherheit können wir und auch die Nichtregierungsorganisationen in Afghanistan keine Aufbauarbeit leisten. Das gilt auch und gerade in Zeiten, in denen sich die Sicherheitslage verschlechtert. Die Botschafterin sagte gestern sehr deutlich und unmissverst ändlich in dem Gespräch: Wenn die ISAF-Truppen abziehen, sind die Taliban in weniger als 24 Stunden da.

(Walter Kolbow [SPD]: Hört! Hört!)

Das heißt –- das wissen wir eigentlich alle -–, dass damit jegliche Entwicklung, jedes Aufwachsen von Demokratie abgeschnitten wird. Wer das nicht begreifen will, sollte nicht immer nur mit einer Frau aus Afghanistan reden, sondern auch mit anderen, die nicht nur das Leben dort kennen, sondern sich auch engagieren, um die Demokratisierung in Afghanistan voranzubringen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen akzeptieren, dass Entwicklung und Sicherheit in Afghanistan einander bedingen. Das sehen auch die Nichtregierungsorganisationen so. Ich will stellvertretend für andere an dieser Stelle „medica mondiale “ nennen. „medica mondiale“ ist eine Nichtregierungsorganisation, die sich seit vielen Jahren in unterschiedlichen Bereichen für die Rechte von Frauen in Afghanistan einsetzt. „medica mondiale“ hat Erfahrungen auch in anderen Ländern, die in einer Nachkriegssituation dabei sind, eine Zivilgesellschaft aufzubauen und die Rechte von Frauen zu stärken. Erst in der vergangenen Woche hat uns eine Vertreterin dieser Organisation berichtet, dass afghanische Frauen eindringlich vor einem zu frühen Abzug der internationalen Schutztruppe warnen. Ich bin schon der Meinung, dass diese das besser wissen müssen als manche hier im Parlament. Deshalb bin ich sehr dafür, dass wir diese Warnung der Frauen ernst nehmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich möchte noch einmal die Botschafterin, Frau Professor Dr. Maliha Zulfacar, zitieren. Sie hat gestern gesagt: „Die Entwicklung Afghanistans ist kein Projekt, sondern ein Prozess.“ Wir als Mitglieder des Deutschen Bundestags können wohl auch für das geeinte Deutschland feststellen: Das Zusammenwachsen war und ist kein Projekt für eine Legislaturperiode gewesen, das mit einem einzigen Titel im Haushalt auskommt, sondern es war und ist ein Prozess, der erhebliche Mittel gebraucht hat und noch immer braucht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Inzwischen dauert der Prozess 18 Jahre. Ich möchte sagen, dass wir in Deutschland vieles geschafft haben, vieles verändert haben, und doch erfahren wir tagtäglich, was noch zu tun ist. Ich behaupte: Es ist wesentlich leichter und es ist schneller möglich, Straßen zu bauen und Häuser zu sanieren, als Menschen für die Demokratie zu begeistern und für das Mitmachen zu gewinnen. – Das sind unsere Erfahrungen in Deutschland. Afghanistan hat Krieg und Zerstörung von Strukturen, Land und Menschen hinter sich und hat eine junge Generation, auf die alle setzen. Diese junge Generation aber ist mit Gewalt groß geworden. Die jungen Menschen müssen lernen und erfahren, dass es andere Arten des Zusammenlebens und des gemeinsamen Aufbauens gibt als die, mit einer Flinte in der Hand bzw. mit Gewalt und Macht durchzusetzen, was der Einzelne oder die Gruppe will.

Die afghanische Botschafterin hat uns um etwas gebeten. „Gebt uns Chancen!“ hat sie gesagt, und ich füge hinzu: Vor allem in Zeiten, in denen es schwierig ist; dann erst recht, liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Geberkonferenz in Paris hat man sich dazu deutlich geäußert und eine wichtige Zäsur gesetzt. Man hat nämlich Bilanz über das gezogen, was die internationale Gemeinschaft und auch Deutschland mit der Unterst ützung für Afghanistan bisher erreicht haben. Man hat vor allem aber auch deutlich gemacht, dass die internationale Gemeinschaft und Afghanistan selbst immer wieder zu Veränderungen bereit sein müssen; es war also eine kritische Bilanzierung.

Es gibt enorme Herausforderungen, die die afghanische Regierung mit unserer Unterstützung in den kommenden Jahren zu bewältigen hat. Dazu gehören insbesondere die Verwirklichung der Verfassung, der Aufbau funktionierender Institutionen und die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit.

Am Beispiel der Frauen lässt sich das sehr gut deutlich machen. Noch immer erleben mehr als 80 Prozent der Frauen in Afghanistan Missbrauch und Gewalt. Wenn sie häusliche Gewalt oder Zwangsverheiratung anzeigen wollen, werden sie zum Teil von Richtern diskriminiert. Unter Umständen verfügen sie nicht über die notwendige Bildung, um ihre Rechte überhaupt zu kennen. Staatliche Institutionen und Behörden setzen das Recht, das in der Verfassung garantiert ist, nicht um. Deshalb überlagern noch immer Gewohnheitsrechte geltendes Recht. Leider kommt es dann oft zu massiven Menschenrechtsverletzungen.

Deshalb ist es gut, dass auch in den Regierungsverhandlungen zwischen Deutschland und Afghanistan Frauenrechte und Genderfragen ein zentrales Thema waren und die entsprechenden finanziellen Mittel bereitgestellt wurden. Denn auch in Afghanistan ist ohne die Frauen kein guter Staat zu machen. Ich komme zum Schluss. – Im nächsten Jahr finden in Afghanistan die nächsten freien Wahlen statt.

Deutschland und die internationale Gemeinschaft werden auch mit Blick darauf weiterhin zur Stabilisierung Afghanistans beitragen. Aber die afghanische Regierung muss die volle Verantwortung für den Aufbau ihres Landes übernehmen. Die Regierungsverhandlungen haben gezeigt, dass Afghanistan offensichtlich dazu bereit ist. Ich hoffe sehr, dass wir gemeinsam mit Afghanistan zu tragfähigen und nachhaltigen Lösungen kommen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Ich gebe das Wort der Kollegin Ute Koczy, Bündnis 90/Die Grünen.

Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht um die Ergebnisse der Afghanistan- Konferenz am 12. Juni. Ich sage: Aus einer solchen internationalen Konferenz zur Unterstützung Afghanistans hätte man mehr machen müssen. Mit einem solchen Ereignis hätte man wirklich mehr an Ergebnissen erreichen müssen. Die Bundesregierung hat es verpasst, zusammen mit den anderen Gebern tatsächlich einen Kurs- und Strategiewechsel einzuleiten. Sie hat es verpasst, dieses Ereignis zu nutzen, um in der deutschen Bevölkerung um Verständnis für die Widrigkeiten und Probleme bei der Aufbauarbeit Afghanistans zu werben. Sie hat es auch verpasst, eine ehrliche Bilanz zu ziehen.

Es waren wohl Anklänge davon zu finden –- keine Frage -–, aber die Erwartungen an Paris waren hoch, und zwar deswegen, weil die Situation in Afghanistan instabil ist, weil sich die Sicherheitslage verschlechtert hat, weil die Opiumproduktion gestiegen ist, weil die Wirtschaft instabiler wird, weil die Korruption zunimmt, weil die Hilfen unzureichend wirken, weil die Hilfen schlecht ankommen, weil Frauenrechte zurückgedrängt werden, weil – ja, auch das – viele Fehler gemacht worden sind. Und dann das: Zu all diesen Themen eine eintägige Konferenz mit drei Minuten Redezeit für die Präsidenten und Minister!

Dabei war doch etwas Bemerkenswertes passiert. Von afghanischer Seite wurde eine nationale Entwicklungsstrategie vorgelegt. Dieser Vorschlag der afghanischen Regierung zur künftigen Ausrichtung des Aufbaus basiert ja auf den Millenniumsentwicklungszielen, denen wir uns verschrieben haben und die von uns allen gesch ätzt werden. Damit werden ja Möglichkeiten an die Hand gegeben, Strategien zur Armutsbekämpfung zu nutzen. Die Afghanen haben sich jetzt am Afghanistan Compact orientiert, der ja drei Kernziele umfasst: erstens Sicherheit, zweitens Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte sowie drittens wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Die afghanische Regierung hat in Eigenverantwortung Vorschläge vorgelegt. Damit hat sie Verantwortung für die Gestaltung der Zukunft übernommen. Das hätte man noch mehr würdigen müssen; denn wenn man sich fragt, ob das denn der Bevölkerung hier klar und deutlich gesagt worden ist bzw. ob wenigstens darauf hingewiesen worden ist, muss man zu dem Schluss kommen: Nein, das ist nicht geschehen. Ich finde, da ist eine Chance verpasst worden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Lassen Sie mich nun zu den beiden Punkten wirtschaftliche Entwicklung und Bildung etwas sagen.

Rufen wir uns ins Gedächtnis, dass Deutschland einstmals die Führung in der Frage der wirtschaftlichen Entwicklung übernommen hat. Insofern ist auch diese Frage eng mit dem deutschen Engagement verknüpft. Ja, es gibt Fortschritte. Es braucht aber zugleich einen langen Atem; denn wir müssen erkennen, die Zielmarken, die wir uns im Afghanistan Compact in London gesetzt haben, waren unrealistisch bzw. zu ehrgeizig. Noch sind nämlich über 7 Millionen Menschen in Afghanistan von Hunger bedroht. Jetzt kommen noch drastische Preissteigerungen hinzu. Deswegen, so sagen wir, ist die Unterstützung des Aufbaus der Landwirtschaft enorm wichtig.

Die ländliche Bevölkerung, die Männer und Frauen auf den Dörfern müssen überleben können. Hier muss sofort durch Not- und Übergangshilfe sowie durch Verstärkung der ländlichen Infrastruktur geholfen werden. Man muss wissen: Von den geschätzten 7,9 Millionen Hektar Ackerland werden nur 2,7 Millionen Hektar bewässert. Das heißt, es gibt Möglichkeiten, man nutzt sie nur zu wenig. Gleichzeitig können nur 20 Prozent der Bevölkerung auf das öffentliche Stromnetz zugreifen. Das alles sind Herausforderungen, denen man mit entsprechenden Maßnahmen umgehend und massiv begegnen müsste. Dafür braucht es noch mehr Mittel, dafür braucht es mehr Geld.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nun zum Thema Bildung und Capacity für Frauen und Männer. Deutschland trägt mit dazu bei, dass die ehrgeizigen Ziele des Bildungsministeriums umgesetzt werden. Aber zugleich ist leider festzuhalten, dass es Regionen gibt, in denen Mädchen mit Steinen beworfen werden, wenn sie zur Schule gehen, dass Schulgebäude zerstört werden und dass es an weiblichen Lehrkräften mangelt, um Mädchen und Frauen zu unterrichten.

Meine Damen und Herren, das deutsche Engagement in Afghanistan hängt von der Glaubwürdigkeit und von der Legitimation ab, die in der Öffentlichkeit durch den Nachweis der Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit hergestellt wird. Ich finde, die Konferenz hätte gute Möglichkeiten geboten, die Wirksamkeit mehr in den Vordergrund zu stellen. Diese Chance ist verpasst worden. Ich wage zu behaupten, dass uns dies in der anstehenden Diskussion über die Frage, wie wir mit dem geplanten Aufwuchs der Zahl an Soldaten umgehen sollen, auf die Füße fallen wird.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Schade, ich finde, man hätte mehr tun können. Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat der Kollege Gert Winkelmeier.

Gert Winkelmeier (fraktionslos):

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Nach dieser Regierungserklärung zu der Pariser Schaufensterveranstaltung

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Na, na, na!)

kann ich nur sagen: Ich habe nichts anderes erwartet. Seit Jahren reden sich die Bundesregierungen und die Mehrheit hier im Bundestag die sich seit 2003 massiv verschlechternde Lage in Afghanistan schön. Ich denke dabei beileibe nicht nur an die sogenannte Sicherheitslage. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, UNDP, stellt in seinem jüngsten Bericht fest, dass in Afghanistan als fünftärmstem Land der Welt seit 2004 ein deutlicher Rückschritt zu verzeichnen ist: Die Lebenserwartung ist auf 43 Jahre gesunken; über 6 Millionen Menschen haben nicht genügend zu essen; 50 Prozent der unter Fünfjährigen sind untergewichtig. Das ist kein Wunder bei einem Preisanstieg von zuletzt 70 Prozent bei Brot und Mehl. Dass 99 Prozent der Waren auf dem Kabuler Markt Importwaren sind, kennzeichnet den katastrophalen Zustand der heimischen Wirtschaft.

Auch auf dem Gebiet, mit dem sich der Bundesaußenminister immer so gerne brüstet, ist kein Licht am Horizont zu sehen. Die Alphabetisierungsrate bei Erwachsenen ist um 5 Punkte auf 23,7 Prozent gesunken. Den Grund dafür hat der französische Präsident während der Pariser Konferenz genannt: Wir lassen uns nicht von Terroristen einschüchtern. Wir bleiben so lange, bis wir gewonnen haben. – So denkt auch die Bundesregierung. Dieser Satz zeigt zweierlei. Erstens: die völlige Realitätsverweigerung vor dem Charakter des afghanischen Widerstandes. Wie oft muss man noch sagen, dass die Afghanen Fremdherrschaft schon immer abgelehnt haben und dass sie sie auch immer erfolgreich abgeschüttelt haben?

Zweitens macht der Satz deutlich, dass die westlichen Politiker in den Kategorien Sieg und Niederlage denken und damit der militärischen Logik folgen, anstatt sich um politische Lösungen zu bemühen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Deutlicher als der jüngst aus dem Amt geschiedene ISAF-Oberbefehlshaber McNeill kann man es doch nicht machen. Auf seiner letzten Pressekonferenz nannte er die Zahl der Soldaten, die für eine militärische Aufstandsbek ämpfung nötig seien: 400 000. Ähnliche Zahlen hört man auch von russischen Generälen, die ihre eigenen Erfahrungen gemacht haben.

Das ist doch wohl ein indirektes Signal an die Politik, und im Klartext heißt das: Lasst euch endlich etwas Intelligenteres einfallen, als hier noch 500 und dort noch 1 000 Soldaten in einen Krieg zu schicken, der nicht zu gewinnen ist. Und was tut die deutsche Regierung? – Genau dieses.

Und sie tut noch etwas: Sie stellt stets mit großem Stolz die Erfolge in ihrem Verantwortungsbereich, dem Regionalkommando Nord, heraus. Sie verschweigt jedoch, dass sie sich die relative Ruhe – im Vergleich mit dem Süden und Osten des Landes – schlicht und einfach erkauft. Unsere ISAF-Kommandeure haben sich mit Warlords wie dem Gouverneur Ata in Masar-i-Scharif arrangiert. Das pfeifen die Spatzen im Norden von den Dächern, und das Motto lautet: Wir mischen uns nicht in deine schmutzigen Geschäfte ein, du darfst deine Willkürherrschaft ausüben, Statthalter und Milizen einsetzen, deine eigenen Steuern eintreiben. Dafür sorgst du dafür, dass wir nicht allzu sehr belästigt werden. Damit komme ich zu dem Nachwuchsjournalisten und Studenten Pervez Kambakhsh. Dieser Fall bündelt die tatsächliche Situation nach sieben Jahren vorgeblichen Aufbaus rechtsstaatlicher Strukturen wie in einem Brennglas. Er steht zugleich als Beispiel für den Gesamtzustand des Landes, den die Bundesregierung mit herbeigeführt hat.

Kambakhsh hat nichts anderes gemacht, als sein Recht auf Presse- und Meinungsfreiheit nach der afghanischen Verfassung in Anspruch zu nehmen. Das ist ihn teuer zu stehen gekommen. Unter den Augen des deutschen Regionalkommandos in Masar-i-Scharif wurde er im Machtbereich des Gouverneurs Ata verhaftet und zum Tode verurteilt, weil er kritische Koraninterpretationen aus dem Internet mit seinen Kommilitonen diskutieren wollte. Nun wartet er seit Wochen in Haft auf die Entscheidung des Appellationsgerichts in Kabul. Und was tut die Bundesregierung? – Sie duckt sich weg und opfert den jungen Mann auf dem Altar der NATO-Bündnissinteressen.

(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht!)

Ich nenne das feige und zynisch. Sie will die Fiktion aufrechterhalten, es gebe in Afghanistan eine unabhängige und souveräne Regierung. Wir alle hier im Plenarsaal wissen es besser, auch wenn es nicht alle zugeben. Die 87 Prozent der Deutschen, die nach der jüngsten Umfrage die Entsendung der Eingreiftruppe und die Aufstockung des Bundeswehrkontingents ablehnen, wissen es auch. Ich hoffe deswegen sehr auf eine rege Beteiligung von Abgeordneten aus allen Fraktionen an den Demonstrationen am 20. September in Stuttgart und Berlin. Das Motto wird sein: Bundeswehr raus aus Afghanistan!

(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Bundeswehr raus! Taliban rein!)

Damit können Sie zeigen, dass Sie den Willen der Bev ölkerung endlich ernst nehmen.

(Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Genau: Taliban rein!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Der nächste Redner ist der Kollege Eckart von Klaeden, CDU/CSU-Fraktion.

Eckart von Klaeden (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bericht des Gemeinsamen Koordinierungs- und Überwachungsrats, der auf der Pariser Unterstützungskonferenz für Afghanistan vorgelegt worden ist, zeigt meiner Ansicht nach ein realistisches Bild der Entwicklung in Afghanistan. Licht und Schatten liegen eng beieinander. Der Bericht gibt uns die Möglichkeit, unsere Politik neu zu justieren und eine ehrliche Bestandsaufnahme zu machen.

Sosehr wir uns davor hüten sollten, uns an den Erfolgen besoffen zu reden, so sehr sollten wir uns von den Misserfolgen auch nicht entmutigen lassen.

Vielleicht liegt der schwierige Teil der Arbeit in Afghanistan noch vor uns, nämlich der, der mit dem Aufbau der Staatlichkeit verbunden ist. Die Bestandsaufnahme zeigt meiner Ansicht nach auch, dass Erfolg in Afghanistan möglich ist. Der Kollege Trittin hat eben einen Angehörigen des Bundeswehr-Verbandes mit dem Wunsch zitiert, für den zivilen Aufbau ähnlich detaillierte Mandate wie für den militärischen Einsatz haben zu wollen. Man muss diesem Vertreter des Bundeswehr- Verbandes sagen, dass so etwas nicht möglich ist, weil der Aufbau einer Zivilgesellschaft unglaublich viel schwieriger ist als der Bau einer Kaserne. Gerade die Tatsache, dass solche Beschreibungen des zivilen Teils unseres Mandats nicht möglich sind, entspricht auf einem höheren Niveau dem altbekannten Argument, dass sich die Lage in Afghanistan nicht allein militärisch verbessern lässt.

Wir sind jetzt an dem Punkt angelangt, wo wir die Balance zwischen Fördern und Fordern finden müssen. Einerseits dürfen wir die afghanische Regierung mit dem, was wir von ihr verlangen, nicht überfordern, andererseits müssen wir unsere Förderung so justieren, dass sie nicht zu weiterer Abhängigkeit, sondern schrittweise zu immer mehr Unabhängigkeit, also zu der berühmten Hilfe zur Selbsthilfe, führt. Dabei müssen wir uns selber zugestehen, dass es nicht nur in Afghanistan, sondern auch auf unserer Seite Defizite gibt. Für diese Defizite kann man aber keine bestimmten Verantwortlichen benennen. Wir lernen erst nach und nach, mit der Herausforderung, mit der wir in Afghanistan konfrontiert sind –- mit der Aufgabe, einen Staat aufzubauen -–, umzugehen. Diese Herausforderung begegnet uns in verschiedenen Einsätzen, bei verschiedenen Aufgaben: im Kosovo, in Bosnien-Herzegowina, in Palästina und jetzt eben auch in Afghanistan. Es ist aber schon ein großer Erfolg, dass wir heute wesentlich genauer wissen, was in Afghanistan zu tun ist. Das begründet die Hoffnung, dass Erfolg tatsächlich möglich ist.

Was brauchen wir dafür? Wir brauchen Sicherheit, den politischen Willen und die Führungskompetenz der afghanischen Regierung, die Schaffung der nötigen institutionellen Voraussetzungen, eine bessere Koordinierung zwischen den afghanischen und den ausländischen Akteuren, angemessene Kapazitäten sowie einen kalkulierbaren finanziellen Mittelzufluss. Wenn wir die Geschehnisse der letzten Monate verfolgen, so müssen wir feststellen, dass die Entwicklung in Afghanistan auf der Kippe steht. Von Kollegen ist die Verschlechterung der Sicherheitslage schon angesprochen worden. Allein während der Pariser Konferenz ist es zu 187 von ISAF registrierten Sicherheitsvorfällen gekommen, 114 davon waren Schusswechsel, 35 Sprengstoffanschläge, es gab 35-mal indirekten Beschuss durch Mörser und Raketen sowie drei sonstige Vorfälle.

Die Taliban stellen zudem ihre Strategie um. Wir haben drei spektakuläre Anschläge beobachten müssen: einen auf das „Serena“-Hotel, den zweiten auf die Truppenparade in Kabul und den dritten auf das Gefängnis in Kandahar. Das zeigt uns, dass wir insbesondere bei dem Aufbau der afghanischen Sicherheitseinrichtungen, also der afghanischen Armee und der afghanischen Polizei, unsere Bemühungen verstärken müssen. Deshalb ist es ausdrücklich zu begrüßen, dass es jetzt zu der von Deutschland und dem Auswärtigen Amt forcierten und in der EU beschlossenen Verdoppelung des EUPOL-Einsatzes in Afghanistan kommt. Defizite liegen eben auf beiden Seiten: mangelnde Erfahrung und andere besondere Schwierigkeiten auf der afghanischen Seite und zum Teil zu geringer Mitteleinsatz auf unserer Seite.

Dass aber ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Sicherheit in Afghanistan und der Entwicklung des Landes besteht, kann man in großer Deutlichkeit an der Entwicklung der Drogenökonomie im Land erkennen. Denn dort, wo die Sicherheitslage durch den Einsatz von ISAF und OEF sowie durch den nachfolgenden Einsatz von afghanischer Polizei und afghanischer Armee verbessert worden ist, ist der Drogenanbau nachhaltig zur ückgegangen. Er konzentriert sich zunehmend auf die Provinzen, in denen die Sicherheitslage besonders schlecht ist. Allein diese Entwicklung straft die Linkspartei Lügen. Wir können feststellen, dass sich die Zahl der drogenfreien Provinzen von sechs auf 13 mehr als verdoppelt hat.

(Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: In ländlichen Gebieten steigt sie aber!)

Das heißt, es besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Sicherheit auf der einen und der Entwicklung des Landes auf der anderen Seite.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir müssen also den eingeschlagenen Weg fortsetzen. Aber wir müssen auch die Monate nach der Sommerpause nutzen, um aus der Pariser Konferenz und den angesprochenen Berichten die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Es ist bei Weitem nicht zu spät, aber auch hohe Zeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Ich gebe das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Karin Kortmann.

Karin Kortmann, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:

Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Außenminister! Sehr geehrter Herr Verteidigungsminister! Liebe Entwicklungsministerin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!

Was bleibt am Ende einer Debatte zu sagen, wenn man die vorletzte Rednerin ist und der Kopf schon voller Zahlen, Fakten, Anschuldigungen und Belobigungen ist? Es bleibt eine klare Perspektive: Wir alle wollen, dass der Aufbau in Afghanistan weiterhin erfolgreich vonstatten geht. Unsere Arbeit in den letzten sechseinhalb Jahren ist erfolgversprechend. Rückschläge gibt es zwar immer, aber wir alle sind von dem Willen geprägt -– das wurde auf der Pariser Konferenz deutlich -–, den Afghanen und Afghaninnen zur Seite zu stehen. Ohne sie wird es keinen Frieden, von dem wir alle profitieren, geben. Insofern, Herr Außenminister, kommt diese Regierungserkl ärung zur richtigen Zeit. Ich hätte sie mir allerdings schon letzte Woche gewünscht. Sie zeigt, welchen großen Erfolg die Bundesregierung beim Wiederaufbau Afghanistans verzeichnen kann. Herzlichen Dank dafür.

(Beifall bei der SPD)

Wir halten im Parlament keine Reden für uns, sondern wir richten sie an diejenigen, die wir von unserer Arbeit in Afghanistan überzeugen wollen. Da jetzt neue Besuchergruppen auf der Tribüne Platz nehmen, möchte ich gerne drei Beispiele nennen, die verdeutlichen, was wir in Afghanistan auf dem Gebiet des zivilen Aufbaus tun.

Als ich vor einigen Jahren das erste Mal in Afghanistan war, habe ich eine Schule besucht. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit zeichnet sich besonders durch ihr Know-how auf dem Gebiet der Schulprojekte aus. Unser Schwerpunkt liegt dementsprechend auf dem Aufbau eines Schulwesens. Bei den Schulen handelt es sich nicht immer um Gebäude aus Stein und Holz. Manchmal sind sie auch aus Lehm gebaut, und manchmal findet der Unterricht sogar in Zelten statt.

Es ist wichtig, dass wir immer mehr Kinder und Jugendliche erreichen, die aus dem Analphabetentum der Talibanherrschaft heraus wollen und die einen großen Bildungshunger haben. Bereits heute hat jedes fünfte schulpflichtige Kind die Möglichkeit, eine Schule zu besuchen. Als ich das erste Mal eine solche Schule besuchte, traf ich auf fünf Lehrerinnen, die – mit einer Burka verhüllt – zusammen mit dem Schulleiter dort saßen und uns das Schulkonzept vorstellen wollten. Als sie auf unsere Bitte hin die Burka gelüftet haben, sahen wir, dass es sich bei diesen Lehrerinnen um Mädchen und junge Frauen im Alter von 14, 16 und 17 Jahren handelte. Sie sind es, die sich für das Bildungssystem in Afghanistan engagieren. Diese Mädchen wurden entweder von ihren Vätern abends zu Hause unterrichtet – unter der Talibanherrschaft war es ihnen nämlich nicht möglich, zur Schule zu gehen – oder sie hatten während ihres Exils im Iran die Möglichkeit, eine Schulausbildung zu absolvieren. Diese jungen Frauen – wir bilden weitere junge Frauen für diese Aufgabe aus – versuchen heute, in Klassen von 50, 70 oder manchmal sogar 100 Schülern Bildung zu vermitteln. Wir sind dabei eine der führenden Nationen, die führende Nation weltweit. Wir sind für den Aufbau von Schulen, die Gestaltung von Entwicklungsprogrammen, die Curricula-Entwicklung und auch für Lehrerinnenund Lehrergehälter zuständig. Bildungsminister Atmar sagte uns am Montag und Dienstag letzter Woche bei den Regierungsverhandlungen, wie wichtig es ist, dass Deutschland so frühzeitig in diesen Bereich eingestiegen ist und heute ein Programm umsetzt, das sich weltweit sehen lassen kann. Dazu sage ich, Herr Lafontaine: Die Art und Weise, wie wir den zivilen Aufbau begehen, sollten Sie beklatschen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ein zweites Beispiel. Christel Hanewinckel hat davon gesprochen, wie wichtig es ist, die Frauenförderung zu unterstützen. Eines der hervorragendsten Projekte, die wir ganz früh in der Entwicklungszusammenarbeit begonnen haben, war der Aufbau eines Frauensenders namens Radio Zora. Radio Zora hat den Frauen, die unter der Burka verhüllt waren, wieder eine Stimme gegeben, hat ihnen die Möglichkeit gegeben, über den Äther mitzuteilen, was ihnen inhaltlich wichtig ist, mit welchen Sorgen und Problemen Frauen in Afghanistan zu tun haben – von Kindererziehung, Einkaufsmöglichkeiten, Problemen mit dem Mann bis hin dazu, dass man sich einfach etwas vorgelesen hat, weil viele Frauen nicht lesen können. Damit will man Frauen wieder eine Stimme geben, ihnen ihre Rechte zurückgeben, ihnen das Empowerment geben, dass sie vollständige Mitglieder der Gesellschaft sind; das hat Christel Hanewinckel eben eindrucksvoll beschrieben. Dieses Projekt zeigt auch, dass wir mit diesen Dingen zur Unterstützung beitragen können.

Ein drittes Beispiel ist die Wasserversorgung. Kabul ist eine Stadt, die ursprünglich für 500 000 Einwohner konzipiert worden ist und heute 3,5 Millionen bis 4 Millionen Einwohner hat; keiner weiß es genau, weil die Menschen dorthin strömen, wo sie glauben, am ehesten Hilfe zu bekommen, nämlich in den Städten. Dort sind wir in der Wasserversorgung tätig. Dies ist schwer; es ist nicht einfach. Wir haben Mittel bereitgestellt, damit 850 000 Menschen wieder sauberes Wasser bekommen. Wir unterstützen sie darin, dass sie nicht an Flussläufen ihre Tiere tränken, die Wäsche waschen und Wasser entsorgen, wodurch Keime übertragen und Gesundheitsrisiken hervorgerufen werden.

Das sind drei Beispiele; ich könnte viele mehr nennen. Deswegen ist es falsch, zu sagen: Das Glas ist halb leer. Es ist vielmehr halb voll. Nach sechseinhalb Jahren können wir eine gute Bilanz ziehen.

Ich war vor drei Wochen bei der Parlamentarischen Versammlung der Westeuropäischen Union und habe das Afghanistan-Konzept der Bundesregierung vorgestellt. Man hat uns dafür gratuliert, dass Deutschland den Ansatz hat, den Aufbau mit vier Ressorts zu gestalten – mit einem gemeinsamen Ziel, aber in getrennter Verantwortung. Dies funktioniert, und es ist eben nicht so, Herr Königshaus und Herr Schockenhoff, dass sich die Ministerien gegenseitig behindern. Im Gegenteil, sie stimmen ihre Hilfeleistungen aufeinander ab und zeigen damit eine erfolgreiche Zusammenarbeit, die viel Aufmerksamkeit und Lob verdient.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nach den Regierungsverhandlungen auf der Paris- Konferenz sagten Finanzminister Ahady und Erziehungsminister Atmar: Würden alle Staaten so aufgestellt sein wie der deutsche, dann wären wir längst viele Schritte weiter. – Wir befinden uns in einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit. Deswegen war die Paris- Konferenz so wichtig. Sie war erfolgreich. Danke, Herr Minister! Das haben Sie klasse gemacht.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Erika Steinbach, CDU/CSU-Fraktion.

Erika Steinbach (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen im siebten Jahr des Wiederaufbaus von Afghanistan. Die internationale Gemeinschaft hat seinerzeit in Afghanistan eingegriffen, um die Gewaltherrschaft der Taliban zu beenden; wir alle erinnern uns daran. Jahrzehnte des Krieges hatten in Afghanistan zu unvorstellbaren Zerstörungen nicht nur an Sachen, sondern auch an den Seelen der Menschen geführt. Das Land war zerrüttet, ein ganzes Volk wirklich traumatisiert. Es gab keine wirkliche Zentralgewalt mehr. Gesetze waren absolut bedeutungslos. Zahlreiche bewaffnete Gruppen und Splittergruppen kämpften gegeneinander.

In der alltäglichen Gewalt in Afghanistan wurden mehr als 400 000 Kinder getötet. Mehr als 5 Millionen Menschen -– das ist ein Drittel der Bevölkerung -– lebten in riesigen Flüchtlingslagern in Pakistan und im Iran; das muss man sich noch einmal vor Augen führen. Mit dem Erfolg der Mudschaheddin eskalierte die Menschenrechtskrise ein weiteres Mal. Folter und Vergewaltigungen waren nun an der Tagesordnung.

Der Staatengemeinschaft geht es darum, den Menschen in Afghanistan so lange zu helfen, bis sie das Land nach ihren eigenen Maßstäben friedlich weiterentwickeln können und die Fähigkeiten dazu im Lande entwickelt haben. Der Staatengemeinschaft und natürlich auch uns in Deutschland geht es nicht zuletzt darum, eine Brutstätte des Terrorismus, von der auch unser Land bedroht ist, dauerhaft auszuschalten.

Inwieweit war das internationale Engagement erfolgreich? Die heutigen Debattenbeiträge haben gezeigt, dass wir alle uns das fragen. Bei der Betrachtung der Realität gibt es nichts zu beschönigen; dieser Auffassung bin auch ich. Die Gesellschaft für bedrohte Völker mahnt dieser Tage an, dass Menschenrechte und Wiederaufbau in Afghanistan noch immer in Gefahr sind. Die deutschen Aufbauhelfer stehen vor ungeheuren Herausforderungen und Problemen. Die neu aufgestellte afghanische Armee und die neu aufgestellte afghanische Polizei können derzeit noch keine eigenständige, zusätzliche Sicherheit bieten. Das ist so; wir wissen das. Die Milizen örtlicher Machthaber sind noch nicht alle entwaffnet und aufgelöst. Kaum gehindert terrorisieren Kriegsfürsten die Zivilbevölkerung; auch das ist uns bekannt. Sie entf ühren Frauen und Mädchen. Und in Teilen der Justiz bestimmt immer noch Willkür das Handeln.

Es gibt aber auch Positives, das zur Realität gehört. Neben diesen Defiziten gibt es deutlich erkennbare Erfolge, die wir nicht einfach vergessen dürfen: Anders als vor 2001 gibt es keine systematischen Menschenrechtsverletzungen durch afghanische Behörden mehr. Das bestätigen uns durch die Bank die internationalen Menschenrechtsorganisationen.

Auf der Habenseite ist zu verbuchen: Demokratisch legitimierte staatliche Strukturen konnten inzwischen aufgebaut werden, was ein mühsamer Prozess war; Schulen wurden errichtet – darauf ist schon hingewiesen worden –; Millionen von Kindern gehen heute wieder in die Schule, und zwar auch Mädchen, für die das zuvor absolut undenkbar war; in den Art. 6 und 7 der afghanischen Verfassung von 2004 sind der Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde fest verankert; die afghanischen Gesetze verbieten Menschenrechtsverletzungen, und die Pressefreiheit ist ebenfalls in die afghanische Verfassung eingegangen.

Der wichtigste Indikator für den Fortschritt ist für mich aber die Tatsache, dass über 5 Millionen afghanische Flüchtlinge in ihre Heimat zurückgekehrt sind, 1 Million allein aus Deutschland, wo sie Zuflucht gesucht hatten. Für mich gibt es keinen besseren Beleg für das Vorhandensein von Hoffnung als die Zahl der Rückkehrwilligen und der Zurückgekehrten.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker mahnt gerade deshalb völlig zu Recht die Umsetzung des Afghanistan- Paktes an. Sie sagt, für die internationale Gemeinschaft gebe es keine vernünftige Alternative. Das ist richtig; denn ein Rückzug von Truppen oder eine schrittweise Verringerung der Aufbauhilfe hätte am Ende nur Chaos und weitere schwere Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan zur Folge.

Sie wissen es und ich weiß es auch, dass es vielen Menschen in diesem Land am liebsten wäre, wenn Deutschland sein Engagement in Afghanistan einstellen würde, und zwar lieber heute als morgen. Das wäre aber sowohl aufgrund der Menschenrechtssituation in Afghanistan als auch aus innenpolitischen Gründen ein kardinaler Fehler, einerseits weil eine neue Flüchtlingswelle auch Deutschland erreichen würde und andererseits weil –- darüber muss sich jeder im Klaren sein –- die Terrorbedrohung in Deutschland und anderen Ländern dann wieder erheblich steigen würde.

Unser gemeinsames Ziel muss sein, die Sicherheit zu stabilisieren und die Einhaltung der Menschenrechte zu gewährleisten. Das kann aber nur gelingen, wenn wir in unseren Bemühungen jetzt nicht nachlassen. Wir dürfen im wahrsten Sinne des Wortes die Flinte nicht einfach ins Korn werfen. Die Ergebnisse der Pariser Afghanistan- Konferenz sind ein Schritt in die richtige Richtung. Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Detlef Dzembritzki, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Detlef Dzembritzki (SPD):

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, heute war für die Diskussion über Afghanistan ein guter Tag im Parlament. Denn zum ersten Mal haben wir ausführlich und unabhängig von den Mandaten, die wir hier zu erteilen haben, über die Politik der Bundesregierung, des Parlaments und der internationalen Gemeinschaft gesprochen.

Das ist an sich schon ein Wert. Denn wir sollten keine Angst vor Informationen haben, sondern alle Informationen, die uns zur Verfügung stehen, in die Öffentlichkeit tragen. Gerade ein Parlament ist dazu bestens geeignet. Unsere kanadischen Kolleginnen und Kollegen haben das mit dem Manley-Bericht und mit der offensiven Diskussion in der Öffentlichkeit gezeigt. Statt einer Minderheit stimmt nun eine Mehrheit der Afghanistan- Politik der kanadischen Regierung zu. Die Regierung hat die Unterstützung der Bevölkerung. Deswegen sollten wir uns nicht scheuen, die Öffentlichkeit auch über Kritisches und über Probleme zu informieren. Denn wir sind doch nicht dort, weil es einfach ist, sondern wir sind dort, weil wir gebraucht werden.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen finde ich diese Diskussion wichtig. Nun haben wir im Parlament erlebt – es war nicht überraschend –, dass sich die Kollegen, die bei Herrn Lafontaine geklatscht haben, in gewisser Weise der Realität verweigern. Sie wollen nicht akzeptieren, welche Probleme dort tatsächlich zu lösen sind. Als der Vorschlag gemacht wurde, Oskar Lafontaine möge doch einmal nach Afghanistan reisen, dachte ich: Einer der großen Erfolge und der wesentliche Unterschied zum Irak ist, dass Sie mit Linienmaschinen nach Kabul fliegen können. Sie können ins Reisebüro gehen und einen Flug buchen. In der Regel fliegt man über Dubai oder Delhi. Das läuft alles nach Fahrplan; das können Sie machen. Sie können auch innerhalb Afghanistans zum Beispiel von Kabul nach Herat fliegen. Das alles geht mit Maschinen, die nicht auf der schwarzen Liste stehen, sondern seriös sind.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kann man auch Auto fahren?)

Machen Sie das doch einmal! Dann werden Sie erleben, dass dieses Land dabei ist, gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen.

Nun ist der Kollege Trittin nicht mehr anwesend. Als er – sicherlich aufgrund der Oppositionsverpflichtung oder des Oppositionsrituals – meinte, den Außenminister kritisieren zu müssen, fiel mir ein ehemaliger Kollege ein, der mir immer, wenn ich versuchte, Gutmensch zu sein, ironisch sagte: Tu nichts Gutes, dann widerfährt dir nichts Böses. –Der Außenminister hat sich nun für eine internationale Konferenz, für eine Bestandsaufnahme, die im Wesentlichen unseren Vorstellungen entsprach, eingesetzt. Frau Kollegin Koczy, wir hatten dank Ihrer Initiative vor der Konferenz in Paris die Möglichkeit, uns zu positionieren und unsere Bedenken, aber auch unsere Erwartungen zu formulieren.

Ich kann feststellen, dass zum Beispiel der Bericht des Gemeinsamen Koordinierungs- und Überwachungsrates quasi Bestandteil der Erklärung der internationalen Konferenz zur Unterstützung Afghanistans geworden ist, veröffentlicht im Namen der drei Kovorsitzenden, Präsident Sarkozy, Präsident Karzai und Generalsekretär Ban Ki-moon. Darin wird festgehalten, dass gerade im Bereich der Gesundheitsversorgung, der Bildung und der Infrastruktur Erfolge zu sehen sind. Aber er zeigt auch, dass wir immer noch gewaltige Herausforderungen zu meistern haben, insbesondere in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit und Rechtsdurchsetzung, Effizienz des Regierungshandelns, Entwicklung, Wachstum des Privatsektors sowie persönliche Sicherheit aller Bürger Afghanistans. Wir stimmen diesen überzeugenden Schlussfolgerungen zu.

Ich finde, dass es ein beachtliches Ergebnis war, die afghanische Regierung, aber auch die internationale Gemeinschaft weiterhin zu verpflichten, sich diesen Herausforderungen zu stellen. Ich halte es allerdings für notwendig, auch diese Konferenz als Prozess zu sehen, als einen Schritt von mehreren Schritten. Nun müssen wir schauen, wie die Koordination und Kooperation im internationalen Bereich mit der afghanischen Regierung weiterhin zu verbessern ist, wie Parallelstrukturen abzubauen sind, wie Kohärenz herzustellen ist und wie mit einer vernünftigen Ressourcenplanung umgegangen werden kann und muss. Auch die Diskussion über die in Afghanistan eingesetzten 5 000 Soldaten und 400 Polizisten könnten wir in einem völlig anderen Licht führen, wenn wir wüssten, welcher Personalbestand und welche materiellen Ressourcen tatsächlich notwendig sind, damit in Afghanistan 80 000 Armeeangehörige voll einsatzf ähig sind.

Wir wollen nicht nur wissen, was zu tun ist, damit dort 140 000 Lehrerinnen und Lehrer zur Verfügung stehen, die einen ausreichenden Ausbildungsstand haben, um Schreiben und Lesen zu vermitteln, sondern wir wollen auch, dass dies auf der Grundlage eines noch zu schaffenden Bildungssystems geschieht. Wir müssen uns vornehmen, hier weiterhin für Kontinuität zu sorgen und immer wieder zu evaluieren, was tatsächlich geschehen ist.

Auch die heutige Diskussion hat gezeigt: Wir müssen sicherstellen, dass die Hilfe in allen Regionen Afghanistans ankommt. Im Augenblick ist die Situation wie folgt: In den Regionen, in denen PRTs sind, ist das Engagement besonders groß; die PRTs mancher Länder können zusätzlich sogar noch zivile Hilfe leisten. Dort, wo dies nicht so ist, werden allerdings schon wieder Reduktionen vorgenommen.

Wenn man sich die Landkarte Afghanistans ansieht, stellt man fest, dass es auch Regionen gibt, in denen überhaupt nichts getan wird. Hier muss die internationale Gemeinschaft aktiv werden, vielleicht auch im Rahmen des nationalen Aufbau- und Entwicklungsplans. Jeder Mann und jede Frau in Afghanistan muss spüren, dass etwas unternommen wird und dass sich die Situation bessert.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Auch die regionale Zusammenarbeit spielt eine Rolle. Insbesondere nach den Wahlen in Pakistan sollte man gemeinsam mit den neuen Verantwortungsträgern, zum Beispiel in Peschawar, überlegen, wie man abgesehen vom militärischen Engagement, mehr Hilfe und mehr Zusammenarbeit in dieser Region ermöglichen kann. Ich glaube, das sind große Chancen, die wir nutzen müssen. Denn ohne eine vernünftige regionale Zusammenarbeit – im Zweifel muss man auch versuchen, in dieser Region mit traditionellen Strukturen für Versöhnung und Verständigung zu sorgen – wird man die friedliche Entwicklung Afghanistans nicht sicherstellen können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP])

Man muss zur Kenntnis nehmen, dass beide Aspekte voneinander abhängig sind.

Ich finde es gut, dass wir heute über dieses Thema diskutieren. Unabhängig von den Mandaten sollten wir in Zukunft, auch zur Information der Öffentlichkeit, regelm äßig im Parlament über die Fortschritte und die Erfolge in Afghanistan diskutieren.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Ich schließe die Debatte.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9692. Wer stimmt für diesen Entschlie- ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit Mehrheit abgelehnt.

Wir kommen zur Abstimmung über Zusatzpunkt 2. Hier geht es um die Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Entwicklung in Afghanistan – Strategien für eine wirkungsvolle Aufbauarbeit kohärent umsetzen “. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9685, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8887 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Diese Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.

Beim Zusatzpunkt 3 geht es um die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Staatsaufbau in Afghanistan – Pariser Konferenz zur kritischen Überpr üfung und Kurskorrektur des Afghanistan Compacts nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9711, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9428 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.

Quelle: Stenografischer Bericht des Deutschen Bundestags; Plenarprotokoll 16/171


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