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Krieg ohne Sieger in Afghanistan

Jedes zweite Opfer ist ein Zivilist

Von Thomas Ruttig, Kabul/Berlin *

Das Jahr 2007 brachte in Afghanistan wenig Neues, dafür umso mehr vom leidvoll Bekannten. So gab es 140 Selbstmordanschläge, darunter den bisher blutigsten in der Zuckerfabrik von Baghlan am 6. November. Sechs Parlamentsabgeordnete starben – und Dutzende zur Spalierbildung heran beorderte Schulkinder und Lehrer. Präsident Hamid Karsai verbot solche Jubelparaden daraufhin. »Wir gewinnen den Kampf in Afghanistan nicht, aber – das ist die gute Nachricht – die Taliban auch nicht«, bilanzierte jetzt der Londoner »Guardian«. Und: »Präsident Hamid Karsai ist immer noch am Leben und an der Macht.«

Insgesamt forderte der Krieg in Afghanistan in diesem Jahr 6000 Tote, die Hälfte davon angeblich Taliban, glaubt man westlichen Militärs. Einige ihrer »größten Erfolge«: Der berüchtigte Mullah Dadullah und – je nach Zählung – zwischen 40 und 140 Taliban-Kommandeure wurden getötet.

Nach wie vor glaubt die NATO, den Aufständischen militärisch den Garaus machen zu können. Deren Sommeroffensive sei deshalb ausgefallen, behauptete sie. Aber auch ohne diese betreten UNO-Mitarbeiter zwei Drittel der 400 Distrikte des Landes nicht. Zu gefährlich.

Die andere Hälfte der Toten, wahrscheinlich mehr, waren Zivilisten. Human Rights Watch berichtete im April, Taliban und NATO-Soldaten müssten sich dafür in etwa die Verantwortung teilen. Selbstmordattentate, Sprengfallen, gezielte Morde und Hinrichtungen der Taliban kosteten Minenräumer, Lehrer und Richter das Leben, dazu 115 USA- und 114 andere NATO-Soldaten sowie Hunderte afghanische Polizisten und Soldaten.

Afghanen wurden entführt und enthauptet, weil sie für die gewählte Regierung oder Ausländer arbeiteten, wie Ajmal Naqshbandi, der junge Reporter. Mit dem Entwicklungshelfer Dieter Rübling, dem Bauingenieur Rüdiger Diedrich, drei Bundeswehrsoldaten in Kundus und drei Botschaftsschützern in Kabul waren auch Deutsche unter den Toten. Die Morde an zwei afghanischen Journalistinnen gehören zur Einschüchterungskampagne gegen die freien Medien, die sich verschärft.

2007 brachte auch die Diskussion über die zivilen Opfer des westlichen Militäreinsatzes, selbst wenn sich mancher Fall als Taliban-Propaganda erwies. Am 3. März erschossen USA-Soldaten nach einer Explosion am Wegesrand in Ost-Afghanistan 16 Zivilisten. Keine 24 Stunden später tötete ein Luftangriff auf ein entlegenes Gehöft in Kapisa neun Mitglieder einer Familie. Im August kamen sechs Bewohner des Dorfes Nangarkhel in Paktika durch Fernbeschuss polnischer Artilleristen um, offenbar ein Racheakt für einen Hinterhalt. NATO und USA-Truppen gaben neue Direktiven heraus, um solche Fälle künftig zu vermeiden – und weigern sich, sie zu veröffentlichen. Die Taliban könnten daraus taktische Schlüsse ziehen.

Anfang Februar verschrieben sich die Warlords und Kommandanten im Kabuler Parlament eine Selbstamnestie für ihre Bürgerkriegsverbrechen. Ein paar frühere Kommunisten stimmten mit ihnen. Im November geißelte Karsai öffentlich die Korruption in der Regierung – und beließ einen verurteilten Drogenschmuggler an der Spitze der Kommission zu ihrer Bekämpfung. Anfang Dezember beendete er die von ihm selbst eröffnete Debatte darüber, ob Gespräche mit Mullah Omar möglich seien, wieder ohne politischen Gewinn.

Es gab jedoch auch Lichtblicke. Die Medien gehören weiter zu den lebendigsten in der Region. Die erste Gruppe Angehöriger von Opfern des Bürgerkriegs gründete sich. Ihre Initiatorin, die junge Afghanin Horia Mossadeq, bekam einen Preis. Und die Mitglieder nutzten die Zeremonie, um Präsident Karsai zu fragen, warum er immer noch mit den Warlords paktiere.

* Aus: Neues Deutschland, 31. Dezember 2007


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