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Afghanistan vor der großen Ratsversammlung ("Loja Jirga")

Weiterhin angespannte Sicherheitslage - Kriegsfürsten als Delegierte - Flüchtlingsfrage als Schlüsselproblem. Von Thomas Berger

Im Folgenden dokumentieren wir eine Artikelserie des Asienexperten Thomas Berger, die in der jungen welt am 7. und 8. Juni veröffentlicht wurde. Wir haben die Schreibweise "Loja Dschirga" (sonst "Loja Jirga") stehen gelassen.

In wenigen Tagen ist es soweit. 1500 in den Dörfern und Städten gewählte Vertreter Aghanistans werden ab Montag zur traditionellen Loja Dschirga, der Großen Ratsversammlung, zusammentreten und über die Zukunft des Landes beraten. Nach dem Sieg über die islamistischen Taliban, der Einsetzung einer Interimsregierung und der Rückkehr des ehemaligen Königs ist dies der dritte symbolträchtige Tag in der jüngeren Geschichte des von 20 Jahren Bürgerkrieg und jüngstem US-Bombardement zerstörten Landes.

Bei den Wahlen, die von UN-Vertretern teils nachdrücklich, teils aber auch nur alibihaft überwacht wurden, haben sich auch etliche lokale Kriegsfürsten zu Vertretern des freien Volkswillens küren lassen. Notfalls mit massiver Einschüchterung ihrer »Untertanen«, wie die Berichte aus diversen abgelegenen Dörfern bekunden. Wer eine imposante Gruppe von Männern unter Waffen hält, ist ein wichtiger Machtfaktor und gehört, wenigstens nach eigener Überzeugung, in die Loja Dschirga.

Zumindest ein Mann verfolgt mit ein wenig gelassener Zufriedenheit die Entwicklungen. Hamid Karsai, der aus den USA kommende Übergangspremier, hat sich relativ rasch in sein Amt eingearbeitet und somit gute Chancen, für eine weitere Transitionsperiode bis zu freien Wahlen darin bestätigt zu werden. Hatte es anfangs mehr Vorbehalte, Bedenken und Feindseligkeiten gegen ihn gegeben als Unterstützung der einzelnen Provinzfürsten, ist sein Ansehen bei ihnen in der Zwischenzeit spürbar gestiegen. Einerseits hat sich Karsai mit dem nötigen Selbstbewußtsein nicht nur in Kabul selbst, sondern auch auf internationalem Parkett bewährt. Andererseits wissen die »Gouverneure« und rechnen es ihm positiv an, daß er ihre Macht bis auf Ausnahmen nicht wirklich angetastet hat. Die einfache Formel könnte also weiterhin lauten: Läßt du uns in Ruhe, stützen wir dich im Gegenzug.

Afghanistan, das hat Karsai nicht verhindern oder im Nachgang ändern können, ist ein Flickenteppich. Lediglich in der Hauptstadt Kabul, wo auch die internationalen Truppen (ISAF) stationiert sind, verfügt die Zentralregierung über bestimmenden Einfluß. Ansonsten liefern sich die einzelnen Regionalherren von Mazar-i-Sharif, Herat, Kandahar und anderen Hochburgen ein Tauziehen um die Macht, mitunter gar mit Waffengewalt. In manchen Landesteilen gab es bereits starke Gefechte.

Zentrale Frage ist, ob es der Loja Dschirga gelingen wird, den bestimmenden Einfluß der früheren Nordallianz zu knacken und die ethnische Basis des Führungsgremiums zu verbreitern. Insbesondere die Paschtunen, die größte der vielen Volksgruppen, drängen auf angemessene Präsenz. Auch wenn Karsai selbst Paschtune ist, so sind diese doch bisher in der Regierungsmannschaft unterrepräsentiert. Die tadschikischen Warlords aus dem Norden werden eine Beschneidung ihrer Macht aber kaum widerstandslos hinnehmen.

Fast erstaunlich ist, daß selbst Männer wie Usbekengeneral Rashid Dostum bisher Ruhe gehalten haben. Das liegt aber nicht zuletzt an ihrer gemeinsamen Verehrung für König Zahir Schah, der aus seinem 29jährigen italienischen Exil in die alte Heimat zurückgekehrt ist. Ob er tatsächlich, wie so oft angekündigt, zum Staatsoberhaupt bestimmt werden soll, ist noch fraglich, denn die Gesundheit des Ex-Monarchen hat sich spürbar verschlechtert. Eine vorgesehene Reise durchs Land, nach Kandahar und Mazar-i-Sharif, mußte bereits verschoben werden. Der alte Mann, für viele Afghanen Symbol eines friedlichen Neuaufbaus, verfügt nur noch über wenige Reserven. Mit der Heimkehr, der Erfüllung des langgehegten Traumes, ist ein Kapitel beendet.

Karsai zumindest hat sich mit der Situation arrangiert, vor allem mit den beiden starken Männern der ehemaligen Nordallianz, Außenminister Abdullah Abdullah und Verteidigungsminister General Fahim. Ersterem pfuscht Karsai allerdings mit seinen vielen Auslandsreisen und hohem Selbstdarstellungstrieb ein wenig ins Handwerk, und Letztgenannter mußte die immer noch fragile Sicherheitslage auch bei einem fehlgeschlagenen Anschlag auf ihn selbst deutlich erkennen. Die im Aufbau befindliche Polizei ist auf Kabul beschränkt, die nationale Armee, zusammengesetzt aus allen Volksgruppen, steht ebenfalls mehr auf dem Papier und als Wunschvorstellung in manchen Köpfen. Die Zahl der Privatmilizen und bewaffneten Banden im Land ist nicht zu überblicken, allerorten blüht die die Kriminalität einschließlich Gewaltverbrechen.

Zur Bilanz Karsais nach einem ersten halben Jahr im Amt gehört in erster Linie, den Wiederaufbau staatlicher Institutionen angeschoben zu haben. Zwar residieren selbst einige Ministerien nur in äußerst provisorischen Amtsgebäuden, fehlt es an notwendigem Arbeitsmaterial von Computern stellenweise bis hin zu Papier und anderen Nichtigkeiten. 20 Jahre Kampf und Zerstörung hatten Afghanistan zuletzt an den Rand der Existenz gebracht. Doch die Not hat die Bevölkerung auch erfinderisch gemacht. So wenig der greise Ex-Monarch Zahir Schah letztlich politisch ausrichten kann, seine Rückkehr vor einigen Wochen war vor allem auch das wichtige Signal, in den Bemühungen um den Neuaufbau nicht nachzulassen.

Zur Realität sechs Monate nach der Petersberger Konferenz gehört aber auch, daß sich außer der UN-Truppe in Kabul noch immer ausländische Soldaten im Land befinden. Amerikanische und britische sowie deutsche Spezialeinheiten harren in den Südprovinzen aus, um »versprengte Taliban- und Al-Qaida-Kämpfer aufzuspüren«, wie es offiziell heißt. In der Bevölkerung wird dies mit sehr gemischten Gefühlen gesehen. Mag die ISAF in der Hauptstadt noch wichtige Sicherungs- und Koordinierungsfunktionen übernehmen, ist das bei den Elitesoldaten im Süden nicht der Fall. Ihre Präsenz ist den meisten Afghanen ein Dorn im Auge.

Rund zehn Prozent der Vertreter in der Loja Dschirga, 160 der 1500 Delegierten, werden Frauen sein. Was etlichen traditionell eingestellten Männern in Afghanistan schon Sakrileg scheint und von Frauenrechtlerinnen als nur ein Tropfen auf den heißen Stein kritisiert wird, ist zum einen bereits ein großer Fortschritt und zum anderen ein mit feinem Gespür ausgearbeiteter Kompromiß zwischen Konservativen und Modernisierern. Mehr noch als die Männer in manchen Gebieten sind die Frauen allerdings bereit, sich in die Verantwortung für die Zukunft ihres Landes nehmen zu lassen. Zehn Jahre Unterdrückung - erst unter den Mudschaheddin, dann noch verstärkt unter dem Regime der Taliban - sind ihnen genug. Nun heißt es, wenigstens einen Teil der Forderungen nach mehr Gleichberechtigung durchzusetzen. Wie bedrohlich die Lage für Frauen immer noch ist, zeigt allein die Tatsache, daß die Burka, der zumeist schwarze Ganzkörperschleier, längst nicht aus dem Straßenbild verschwunden ist.

Zumindest aber sind die Frauen mit dem Ende der Taliban-Ära ins öffentlich-gesellschaftliche Leben zurückgekehrt. Insbesondere Mädchen und junge Frauen drängen sich in den Schulen, um den früher verbotenen Wissenserwerb nachzuholen. Unter den Taliban war es ihnen streng untersagt, Bildung zu erwerben - Schülerinnen wie Lehrerinnen wurden aus den Schulen entfernt. Im Untergrund abgehaltene Kurse waren zwar eine sehr anerkennenswerte Arbeit, weil unter schwierigsten Bedingungen, teils sogar Lebensgefahr, geleistet. Der Bedarf konnte damit jedoch nicht einmal annähernd befriedigt werden. Nun wollen viele der älteren Mädchen nachholen, was ihnen vorenthalten wurde - zumeist gehören sie zu den eifrigsten Schülern. Auch an der Kabuler Universität hat der Lehrbetrieb wieder begonnen, sind auch junge Frauen unter den Studenten. In Afghanistan war die Intelligenz fast völlig vernichtet oder ins Ausland getrieben worden.

Vieles im Bildungssektor scheint allerdings, so wie in anderen Bereichen des Alltagslebens, sehr provisorisch. In der Hauptstadt wenigstens und einigen Regionalzentren fließen ausländische Hilfsgelder in den Wiederaufbau zerstörter Schulen, in die Bereitstellung von Unterrichtsmaterial, die dringend notwendige Grundausstattung. Zumindest in diesem einen Punkt sind sich alle einig: Ohne ausreichende Bildung für die Bevölkerung wird es nicht gelingen, die tiefe Kluft, die Afghanistan in seinem aktuellen Entwicklungsstand selbst von vielen anderen Ländern Asiens trennt, in absehbarer Zeit zu überwinden. Alle Defizite aufzuholen ist ohnehin das Werk mehrerer Jahrzehnte, denn seit dem Krieg zwischen Mudschaheddin und Sowjetarmee in den 80er Jahren hat es nicht nur einen Stillstand, sondern in diversen Bereichen gar einen massiven Rückschritt gegeben. Das traditionelle Rollenverständnis, unter der von der Sowjetunion gestützten volksdemokratischen Regierung wenigstens in den Großstädten aufgebrochen, ist auch nach der Vertreibung der Taliban vorherrschend.

Aber Frauen kämpfen für mehr Rechte, zumindest für eine spürbare Repräsentanz auch in den Entscheidungsgremien. Sie, die die Hauptlast des jahrzehntelangen Bürgerkrieges zu tragen hatten und haben, stellen ein neues Selbstbewußtsein unter Beweis, das nicht etwa an der Zahl der getragenen oder nicht getragenen Burkas meßbar ist. Es ist ein Protest gegen die männliche Dominanz, der ebenso vielgestaltig und kreativ wie teilweise verborgen ist.

Das zweite zentrale Problem Afghanistans ist die Flüchtlingsfrage. Noch immer harren mehrere Millionen Landesbewohner in Lagern größtenteils jenseits der Grenzen aus - an die sechs Millionen waren es auf dem Höhepunkt des Antitalibankampfes. Zwar sind etliche inzwischen wieder in die Heimat zurückgekehrt, versuchen sich ein neues Leben aufzubauen. Mindestens ebenso viele harren aber aus, wagen es noch nicht, den Heimweg in die zerstörten Dörfer und Städte anzutreten. Nicht nur der Bürgerkrieg selbst hat seine Spuren, wie Tausende Minen, hinterlassen. Dürrekatastrophen taten ein übriges, so daß einige Landstriche fast unbewohnbar wurden. Das Vieh ist verendet oder notgeschlachtet, die Felder sind verwüstet, und UNO-Hilfslieferungen können abgelegene Gebiete kaum erreichen. Die Mitarbeiter der zahlreichen humanitären Organisationen können unter diesen Bedingungen nachvollziehen, warum so viele Afghanen in den Flüchtlingslagern abwarten, obwohl auch dort die Lage teils katastrophal ist.

Dabei wäre den Nachbarn Pakistan und Iran nichts lieber, als daß alle Afghanen so schnell wie möglich heimkehren würden. Stören die Flüchtlinge doch in diesen Ländern angeblich das ethnisch-religiöse Gleichgewicht, was neue Konflikte heraufbeschwören kann. So zumindest die Befürchtungen in Teheran und Islamabad. Dagegen stehen Äußerungen höchster UN-Vertreter, daß eine Rückkehr eben nur schrittweise und in manche Gebiete momentan eben gar nicht möglich ist. In der Loja Dschirga sind diese Flüchtlinge übrigens unterrepräsentiert; im Grunde gar nicht vertreten ist sogar die Gruppe der Exilafghanen, die es geschafft hatte, sich ins weitere Ausland, vor allem nach Europa, abzusetzen. Dabei sind einige von ihnen bereits zurückgekommen. Architekten, Lehrer, Mediziner und Hochschuldozenten mühen sich, ihre Fähigkeiten für den Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen. Einen Wiederaufbau, der nicht zuletzt vom stetigen Zufluß ausländischer Hilfsleistungen abhängig ist. So sorgt denn bis in hohe Regierungskreise für deutlichen Unmut, daß von den vollmundig zugesagten Geldern der EU, der USA und anderer Staaten erst der geringste Teil zur Verfügung gestellt wurde.

Aus: junge welt, 7. und 8. Juni 2002


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