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Bakschisch-Ökonomie

Afghanistan: Korruption ist, neben dem Drogenhandel, wichtigster Wirtschaftsfaktor unter dem von der NATO-Besatzung abhängigen Regime geworden

Von Tomasz Konicz *

Die Bevölkerung Afghanistans sieht in der ausufernden Korruption das größte Hindernis beim Wiederaufbau des verwüsteten Landes. Zu diesem Ergebnis kam eine breit angelegte Umfrage des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC), die am 19. Januar der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Hierbei wurden 7600 Afghanen aus zwölf Städten und mehr als 1200 Dörfern befragt. Insgesamt gaben 56 Prozent der Umfrageteilnehmer an, daß die allgegenwärtige Bestechlichkeit für sie das größte Problem darstelle – noch vor der angespannten Sicherheitslage (54 Prozent) und der hohen Erwerbslosigkeit (52 Prozent).

Inzwischen sei es nahezu »unmöglich«, in Kontakt mit afghanischen Staatsbediensteten ohne Schmiergelder Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, erklärte Antonio Maria Costa, der Vorsitzende des UNODC, anläßlich der Vorstellung des Berichts. Bestechungsgelder werden inzwischen für alles Mögliche verlangt, vom Passieren eines Checkpoints bis zur Gewährleistung von Drogenhandel und Menschenschmuggel. In der Umfrage gab nahezu jeder zweite Afghane an, im vergangenen Jahr einen Vertreter der Staatsmacht bestochen zu haben. Zumeist sind es die Staatsbediensteten selber, die Schmiergelder direkt einfordern, wobei besonders der ländliche Raum betroffen ist: 80 Prozent der ländlichen Bevölkerung gaben an, daß die Korruption in den letzten fünf Jahren stark angestiegen sei, in den Städten waren 40 Prozent der Befragten dieser Ansicht.

Am korruptesten sollen dem Umfrageergebnis zufolge lokale Polizisten und Beamte sein, gefolgt von Richtern, Staatsanwälten und auch Regierungsmitgliedern. Laut einer Rangliste der auf Korruptionsbekämpfung spezialisierten Nichtregierungsorganisation Transparency International gilt Afghanistan nach Myanmar und vor Somalia als eines der weltweit korruptesten Länder. Dabei reichen Filz und Vetternwirtschaft bis in die höchsten Ränge der afghanischen Regierung. Die Washington Post berichtete am 31. Januar, daß Ahmed Karsai, der Bruder des afghanischen Präsidenten, ebenfalls unter Verdacht stehe, in der Region um Kandahar »in den Drogenhandel involviert« zu sein. Ahmed Karsai habe zuvor mit der CIA zusammengearbeitet und den US-Streitkräften als Mittelsmann bei ihren Gesprächen mit den Taliban gedient, schreibt das Blatt.

Während des gesamten Afghanistan-Konflikts haben die US-Kräfte regionale Kriegsfürsten unterstützt, wenn diese nur für stabile Verhältnisse in ihren Einflußgebieten sorgten. Genau diese von den Besatzungskräften beförderten, neofeudalen Herrschaftsstrukturen tragen nun maßgeblich zur ausufernden Korruption bei. Dieses Vorgehen versetzte die amerikanischen Streitkräfte in ein »extremes Dilemma«, erklärte ein Besatzungsoffizier gegenüber der Washington Post: »Wir verfolgen unsere Politik, die auf die Verbindung der Bevölkerung mit einem Regime abzielt, das ernsthafte Legitimitätsprobleme hat, wodurch ein Widerspruch in unserer Strategie entsteht.«

In den Augen vieler Afghanen scheinen auch etliche der in Afghanistan tätigen Hilfsorganisationen diskreditiert zu sein. Mehr als die Hälfte der Umfrageteilnehmer gab an, daß internationale Nichtregierungsorganisationen in Afghanistan nur tätig seien, um sich zu bereichern.

Inzwischen kann man die afghanische Korruptionswirtschaft als einen florierenden, eigenständigen und nach neofeudalen Prinzipien strukturierten Wirtschaftszweig bezeichnen. Demnach soll im Jahr 2009 in Afghanistan Bestechungsgeld in Höhe von 1,75 Milliarden Euro geflossen sein, was etwa 23 Prozent des afghanischen Bruttoinlandsprodukts entspricht. Damit liegt die Korruptionswirtschaft in ihrer makroökonomischen Relevanz inzwischen gleichauf mit dem Drogenhandel. Selbst die am Hindukusch blühende Entführungsindustrie kann bei weitem nicht solche enormen Umsätze verbuchen.

Dabei sind staatliche Leistungen in dem bitterarmen Land alles andere als günstig zu erhalten. Durchschnittlich sollen, bei einem Pro-Kopf-Einkommen von etwa 300 Euro, die befragten Afghanen 110 Euro an Bestechungsgeldern in 2009 bezahlt haben. Bei dieser Korruptionswirtschaft handelt es sich also um eine Art Umverteilungssystem von unten nach oben. Antonio Maria Costa bezeichnete folglich diese staatlichen »Erpressungen« als eine inoffizielle, »lähmende Steuer«, die von Menschen entrichtet werden müsse, die ohnehin zu den »Ärmsten der Welt« gehörten.

Dieser Würgegriff, in dem sich die verarmte Bevölkerung befinde, stelle für die Taliban ein enormes Rekrutierungspotential dar, so Costa: »Ich befürchte, daß ab einem bestimmten Punkt die Afghanen oder viele in der Bevölkerung keine Optionen mehr haben dürften und als eine Konsequenz daraus die Aufständischen eine Legitimation erfahren werden, die sie definitiv in diesem Moment nicht haben.« Gegenüber dem amerikanischen Sender Voice of America machte Nooralhaq Nasimi, der Vorsitzende der in London beheimateten Afghanistan and Central Asian Association, direkt die Regierung um den Präsidenten Karsai verantwortlich, die sich im Zentrum eines Netzwerkes von Verbindungen und Günstlingswirtschaft befänden: »Die Leute, die das Land regieren, die meisten von ihnen, sind Familienmitglieder oder Freunde von Karsai.« Viele Afghanen würden sich bereits jetzt den Aufständischen anschließen, »weil sie aufgebracht über das Machtmonopol« der herrschenden feudalen Kriegsherren seien, die mit den Besatzungsstreitkräften zusammenarbeiteten, erklärte ein NATO-Offizier gegenüber der Washington Post.

* Aus: junge Welt, 5. Februar 2010


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