Generalpardon für "heilige Krieger"
Afghanisches Parlament beschloss Amnestie / Kämpfer der letzten 25 Jahre bleiben straffrei
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Mit satten Mehrheiten verabschiedete das afghanische Parlament in dieser Woche einen Erlass, der
»all jenen politischen und militärischen Kräften, die in irgendeiner Weise an den Kämpfen der letzten
25 Jahre beteiligt waren«, Straffreiheit garantiert.
Milizenführer und ihre Soldaten sollen »weder durch Gesetze noch durch Gerichte belangt werden«,
heißt es in dem Dokument. Der Generalpardon erstreckt sich sowohl auf die Mudschahedin, die
während der sowjetischen Invasion zwischen 1979 und 1989 gegen Moskaus Soldaten kämpften,
als auch auf die Teilnehmer des Bürgerkriegs Anfang der Neunziger.
Vor allem aber bezieht sich die Amnestie auf die Taliban, die ab 1995 die Macht an sich rissen und
bis zum Einmarsch der USA-geführten Koalition im Herbst 2001 zeitweise bis zu 90 Prozent des
gesamten afghanischen Staatsgebietes kontrollierten.
Fast drei Jahrzehnte Krieg und politisch-militärische Wirren sorgten für bis zu elf Millionen
Kriegsflüchtlinge; etwa eine Million Zivilisten kam bei den Kampfhandlungen um. Dennoch soll sich
der Straferlass auch auf Warlords erstrecken, denen Kriegsverbrechen vorgeworfen werden. Wie
Radio Azad, der afghanische Dienst des USA-Auslandssenders Radio Liberty, am Donnerstag
berichtete, können sogar Talibanführer Mullah Omar und der mit ihm verbündete Expremier
Gulbuddin Hekmatyar auf Straffreiheit rechnen.
Der einäugige Mullah hatte den Afghanen nicht nur ein Steinzeit-Regime aufgezwungen, er hatte
auch Osama bin Laden und andere Größen des Terrornetzwerks Al-Qaida bis zum vermeintlichen
militärischen Ende der Taliban beherbergt. Gastgeber und Gast halten sich vermutlich im schwer
zugänglichen und von den Regierungen in Kabul und Islamabad nicht kontrollierten Grenzgebiet zu
Pakistan auf. Ebenso die Milizen von Hekmatyar, der 1993 und 1994 bei Kämpfen gegen Präsident
Burhanuddin Rabbani auf Kabul allein in der Neujahrsnacht über 6000 Raketen abfeuerte und
danach in den Vierteln der Hasará-Minderheit ein Gemetzel anrichtete. Über 50 000 Menschen
starben allein bei diesem Massaker.
Die Amnestie ist Teil eines neuen Plans für nationale Aussöhnung. Schon am Montag hatte
Staatspräsident Hamid Karsai Direktverhandlungen mit den Taliban angekündigt und ihnen
Beteiligung an der Regierung angeboten. Der Grund: Seit Mitte 2006 haben die vorschnell für
besiegt erklärten »heiligen Krieger« mehrere Südprovinzen unter ihre Kontrolle gebracht und liefern
den Regierungstruppen, der Antiterrorkoalition und der NATO-geführten Schutztruppe ISAF heftige
Kämpfe. Unterstützt werden sie dabei sowohl von den pakistanischen Paschtunen als auch von
Teilen der afghanischen Bevölkerung, die unzufrieden mit dem zögerlichen Wiederaufbau des
Landes ist und dem Westen vorwirft, Afghanistan seine Werteordnung aufzuzwingen.
Menschenrechtsgruppen in und außerhalb Afghanistans laufen Sturm gegen die geplante Amnestie
und fordern, jene Warlords, die Kriegsverbrechen begangen haben, vor ein Tribunal zu stellen.
Die Chancen dafür tendieren gegen Null: Über 70 Prozent der Abgeordneten in der Wolesi Dschirga
– dem afghanischen Unterhaus – sind selbst ehemalige Mudschahedin und alles andere als
unbefleckt. Sie, so der Tenor unabhängiger afghanischer Medien, hätten die Amnestie daher
weniger als Geste der Aussöhnung der Bürgerkriegsgegner und damit der größten
Bevölkerungsgruppen – Paschtunen und Tadshiken – beschlossen, sondern vor allem, um sich
selbst Straffreiheit für ihre Vergangenheit zu sichern.
* Aus: Neues Deutschland, 3. Februar 2007
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