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Rückzug - zu neuen Kriegen

Wer vom Abrücken der NATO aus Afghanistan redet, sollte nicht auf Frieden hoffen

Von René Heilig *

Wenn es nicht so ernst wäre, könnte man sich nur an die Stirn fassen. Ausgerechnet Moskau, das mit seiner »Fortschrittspolitik« in Afghanistan so grandios wie tödlich gescheitert ist, fordert, dass sich die ISAF-Truppen nicht vom Hindukusch zurückziehen, so lange die Situation in Afghanistan so instabil ist. Moskau sei daran interessiert, »dass die ISAF-Kräfte ihre Aufgaben effektiver erfüllen«, sagte Außenminister Sergej Lawrow jüngst in einem Interview für den afghanischen Sender »ToloNews«. Es gebe schließlich ein Mandat, das die Bildung einer stabilen Regierung und die Aufstellung adäquater bewaffneter Kräfte vorsehe. Und bevor der Job nicht erledigt sei, dürfe es keinen Rückzug geben.

Auch gegenüber dem Moskauer Sender »Kommersant FM« unterstrich der russische Außenminister, seine Regierung sei daran interessiert, dass die ISAF ihre Aufgaben besser erledige. Es würden derzeit nicht genügend Terroristen getötet. Man dränge sie in nördliche Provinzen Afghanistans, die noch vor drei Jahren relativ ruhig gewesen wären und kein Probleme für die Nachbarn. Im Ergebnis sickerten Extremisten in zentralasiatische Republiken durch, »die unsere Verbündeten in der Organisation des Vertrages über die kollektive Sicherheit sind«.

Moskau sorgt sich um Zukunft der Nachbarn

Problematisch sei auch die Drogenkriminalität. »Die NATO-Partner ignorieren unsere zahlreichen Bitten, Schlafmohnplantagen zu vernichten, während die Vernichtung von Cocaplantagen in Kolumbien als Hauptrichtung bei der Bekämpfung der Drogengefahr gilt«, kritisierte Lawrow. Auch dass Washington den Dialog mit den Taliban ohne die Regierung in Kabul führe, wertete Lawrow als »kontraproduktiv«. Die Regierung Afghanistans wäre eigentlich der wichtigste Teilnehmer bei den Verhandlungen über die nationale Aussöhnung im Land, betonte Moskaus Globalstratege.

Allein diese Position Russlands lässt schon staunen. Doch was ist alle globale Strategie in Bezug auf Afghanistan wert, wenn dümmliche GIs in Bagram Koranschriften verbrennen und ein US-Feldwebel nächtens seinen Posten verlässt, um mordend durch Panjwai in der Provinz Kandahar zu ziehen? Solche Aktionen entfachen zusätzliche Wut der Menschen über die Besetzung ihres Landes und besorgen letztlich das Geschäft der Taliban.

Einerlei ob der Staff-Sergeant ein Einzeltäter war oder ob - wie afghanische Ermittler nach Gesprächen mit Augenzeugen behaupten - Kameraden mit ihm töteten: Im großen allgemeinen Morden reichen in der derzeitig fragilen politischen Situation einzelne »Ausraster«, um die gesamte westliche Strategie zur Übergabe der Verantwortung an afghanische Akteure in Frage zu stellen. Und damit gerät der Rückzugsplan der westlichen Nationen vom Krieg, den sie selbst eröffnet haben, ins Wanken.

Gemeinsam rein, gemeinsam raus, sagt der deutsche Verteidigungsminister Thomas de Maizière fast beschwörend. Gemeinsam rein, gemeinsam raus, das könnte im Umkehrschluss heißen: Wenn die US-Verbündeten schneller abziehen, müssen die Deutschen mit. Bundeskanzlerin Angela Merkel lässt sich politische Optionen offen. So, dass sie hinterher in jede Richtung sagen kann, man habe sie missverstanden. Beim jüngsten Truppenbesuch konstatierte sie »einerseits Fortschritt, andererseits Dinge, die Sorgen machen«. Von Sorgen machen zu »Rette sich, wer kann«, ist es nur ein kleiner Schritt. Den Letzten beißen die Hunde. De Maizière und seine Generale wissen, dass sie angewiesen sind auf den Schutz und die Logistik der USA. Und sie wissen, dass ein Dutzend kleinere Verbündete hoffen, die Bundeswehr wiederum werde sie nicht den Taliban zum Fraße vorwerfen. Solch ein Wortbruch hätte dauerhafte Auswirkungen in der EU und im NATO-Bündnis.

Der NATO-Gipfel Mitte Mai in Chicago wird laut Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen für weitere Klarheit sorgen - also den Ende 2010 in Lissabon beschlossenen Afghanistan-Fahrplan bestätigen. Der Übergangsprozess von der Übergabe der letzten Provinzen 2013 bis zum Ende des Kampfeinsatzes 2014 soll bei dem Spitzentreffen im Detail zur Sprache kommen. »Wir werden über 2014 hinaus Afghanistan verpflichtet bleiben«, sagte Rasmussen, der seit drei Jahren das mächtigste Militärbündnis der Welt führt.

Und dann ist da ja noch die versprochene dauerhafte Partnerschaft, bei der es insbesondere um die weitere Ausbildung und Ausstattung der afghanischen Sicherheitskräften geht. In Washington rechnet man, dass dafür ab 2014 pro Jahr 4,1 Milliarden US-Dollar geblecht werden müssen. 2,3 Milliarden wollen die USA zahlen, der Rest ist Sache der Verbündeten.

Mörderischer Amoklauf eines US-Feldwebels

Nur wegen der Vollständigkeit sei daran erinnert, dass Hamid Karsai, der Präsident von US-Gnaden, zur kompletten Verwirrung beigetragen hat, als er - auf den Amoklauf des US-Feldwebels reagierend - von einer rascheren Übernahme der Gesamtverantwortung sprach und die ausländischen Truppen auf ihre Camps beschränken wollte. US-Präsident Barack Obama hat Karsai per Telefonat Bescheid gegeben, wer das Sagen hat. Man einigte sich auf Kompromisse. Künftig müssen nächtliche Kommandoaktionen in Afghanistan vorab von der dortigen Justiz gebilligt werden.

Diese »Night Raids« sind neben den Drohnen-Angriffen gegen Aufstandsstäbe in Pakistan das wichtige Mittel im Kampf gegen die Taliban. Viele Islamisten der mittleren und oberen Ebene haben die US-Spezialeinheiten so ausgeschaltet. Allein im vergangenen Jahr gab es etwa 2500 nächtliche Kommandoaktionen. Auch im Verantwortungsbereich der Deutschen, auch unter Teilnahme von Bundeswehr-Elitekämpfern. Und immer wieder werden - die UNO führt Buch - Unschuldige ermordet.

Abzug aus Afghanistan

Die Debatte über das Wann und das Wie wird hektischer. Plötzliche, einschneidende Ereignisse wie der Amoklauf eines US-Soldaten stellen bereits Erreichtes in Frage. Mit der Resolution 1943 wurde erstmals 2011 im UN-Sicherheitsrat über die stufenweise Übergabe der Verantwortung für die Sicherheit in Afghanistan an afghanische Kräfte gesprochen. Die Übergabe soll bis Ende 2014 erfolgt sein. Zur Zeit sind noch rund 110 000 Soldaten aus über 40 Ländern am Hindukusch stationiert. Militärisch führt sie der US-General John R. Allen. Jenseits des Politischen ist die reine Rückzugslogistik schon ein Problem. ISAF verfügt über über 70 000 Fahrzeuge und 125 000 Container in mehr als 1000 Feldlagern und Außenposten. Selbst wenn die Hälfte der Ausrüstung im Lande bliebe, müssten ab jetzt - rein rechnerisch - rund 100 Container und 50 Fahrzeuge pro Tag aus Afghanistan geschafft werden.



Die Gemengelage in Afghanistan ist gut zehn Jahre nach dem militärischen Eingreifen des Westens so unübersichtlich wie noch nie. Inzwischen steht eine Region in Flammen, in der Atomwaffen präsent sind. Die pakistanischen Taliban lassen wissen, sie seien zu einem Friedensschluss mit der Regierung in Islamabad bereit, wenn die sich gegen die USA stark mache. Wie immer wird man einen Mittelweg finden. Also auch die nach dem Luftschlag im November unterbrochenen Nachschublieferungen für die NATO in Afghanistan wieder aufnehmen. Natürlich mit erhöhten Zollgebühren.

Und dann ist da die Kriegsmüdigkeit. Sie hat Deutschland noch nicht erreicht, noch bieten die diversen Mieter des Berliner Schlosses Bellevue trächtigere Schlagzeilen. Doch in den USA sieht das anders aus. Der derzeitige Oberkommandierende in Afghanistan, John Allen, sollte unlängst den Kongress überzeugen, dass der Krieg am Hindukusch weiterhin sinnvoll ist. Und das im Wahljahr. Selbst Vertreter des US-Militärs stellen sich inzwischen offen gegen ein »Weiter so!« Die Mehrheitsmeinung im Sicherheitsestablishment laute »genug ist genug«, sagte ein Sprecher von General Allens Vorgänger David Petraeus zusammen. Petraeus ist immerhin CIA-Boss.

Der Geheimdienst war maßgeblich an der Vorbereitung des Überfalls auf Afghanistan beteiligt. Die Anschläge vom 11. September 2001 waren für die USA nur der Anlass, loszuschlagen. Dazu versammelten sie eine »Allianz der Willigen« um sich. Von Oktober bis Dezember bestand das wichtigste Ziel der Operation »Enduring Freedom«, an der sich eilfertig auch das damals rot-grün regierte Deutschland beteiligte, in der Zerschlagung von Al-Qaida-Stützpunkten. Man wollte den islamistischen Terrorchef Osama bin Laden, den Urvater allen Bösen, haben: tot oder lebendig. Und man wollte das Taliban-Regime stürzen. Während die USA vor allem in den östlichen Provinzen auf Jagd gingen, überließ man den Schutz der eingesetzten Regierung in Kabul den Vereinten Nationen und ihrer International Security Assistance Force, kurz ISAF.

Zugleich versprach man, das in Jahrzehnten von Kriegen geschundene Land wieder aufzubauen. Es blieb beim Versprechen. Auch nachdem man im Dezember 2002 die ISAF-Strategie modifizierte und Provicial Reconstruction Teams (PRT) aufbaute. Diese landesweit verteilten Stützpunkte sollten angeblich die Arbeit ziviler Aufbauorganisationen schützen. Doch es wurden nur Festungen, von denen aus die »ISAF-Kavallerie« Ausfälle auf regionale Widerständler unternahmen. Ein Beispiel dafür war die von einem Bundeswehroberst angeordnete Bombardierung bei Kundus bei der vermutlich über 140 Leben mit einem Schlag ausgelöscht wurden.

2005 und 2006 intensivierten die Taliban und andere Aufständische ihren Widerstand. US-Präsident Bush schickte mehr Truppen und verband »Enduring Freedom« mit dem ISAF-Einsatz. Unter US-Befehl. Gemeinsam wollte man offensiv gegen »Unbekehrbare« vorgehen. Nachdem Obama 2008 Präsident der USA geworden war, hoffte man darauf, dass er sein Wahlversprechen wahr macht und die Truppen heim holt. Doch das Gegenteil war der Fall. Er befahl eine massive Truppenverstärkung um über 50 000 Mann. Modell Irak: Erst durch massive Verstärkung könne man die Bedingungen für einen Abzug schaffen. 2009 versprach Obama, 2011 mit dem Abzug zu beginnen. 2014 sollte er vollzogen sein.

Offenbar war die Rechnung mal wieder ohne die Aufständischen gemacht. Die Strategie der Taliban war eine doppelte. Lokale Einheiten führen den Partisanenkrieg im Lande, der 2001 gestürzte Mullah Omar verstärkt seine Macht im pakistanischen Belutschistan und schickt Kommandoeinheiten aus. Ebenso aktiv ist das Haqqani-Netzwerk, das von Nord-Waziristan aus operiert. Allen Aufständischen, so zerstritten sie auch sind, arbeitet die Zeit zu. Daran ändert auch die Tatsache einer »zweiten Front« nichts, die die USA mit ihren Drohnenflügen gegen Pakistan aufgemacht haben. 2005 schickte man fünf solcher Raketen tragenden Roboter aus. 2010 waren es schon 117. Tendenz steigend.

Neue Stützpunkte für alte Geopolitik

Man wolle vermeiden, dass Afghanistan wieder zum Ruheraum islamistischer Terroristen werde. Das mag eine Denkrichtung westlicher Strategen sein. Für die USA kommt es aber vor allem darauf an, ihren Einfluss in der Region zu erhalten. Deshalb haben sie 2011 ein geheimes Sicherheitsabkommen mit der momentan noch agierenden Kabuler Regierung geschlossen. Gleichzeitig wird mit den Taliban und anderen Aufständischen verhandelt. Dabei ist klar, dass die sich keinesfalls einer präsidialen Marionette namens Karsai unterwerfen werden.

Washington ist es letztlich egal, wer seinen Einfluss am Hindukusch duldet und dafür die Hand aufhält. Auch nach dem vereinbarten Abzugszeitpunkt 2014 werden die USA - mit geringeren Kräften - im Land bleiben. Zwei Stützpunkte will Washington halten: Shindand im Westen und Bagram im Osten. Beide waren schon wichtige Basen der Sowjetarmee. Shindand soll den Verlust der Stützpunkte in Irak ausgleichen. Die Zielrichtung ist klar, es ist Iran. Und von Bagram aus will man den weiter wachsenden Riesen China im Blick behalten. Experten halten es nicht für ausgeschlossen, dass man dafür auch von Bagram aus Kontakte zu eigentlich terroristischen Feinden, den Uiguren, aufnimmt, die im Reich der Mitte siedeln. Das erinnert fatal an die US-Unterstützung für Osama bin Laden, der im Kalten Krieg die Drecksarbeit gegen die Sowjetunion erledigen sollte.

Wer von Rückzug der NATO aus Afghanistan redet, sollte also nicht auf Frieden in der Region hoffen.

* Aus: neues deutschland, 24. März 2012


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